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Fast vergessene Berliner Geschichte

Am 12. September 1931 kam es auf dem Kurfürstendamm in Berlin zu einer organisierten Judenverfolgung. Kaum jemand erinnert sich heute noch an das Pogrom. Studenten haben nun einen Audioguide für Smartphones entwickelt, der diese Geschichte erzählt.

Von Dieter Wulf | 21.07.2013
    "Zuerst mal bekommen Sie die Karte, da sehen Sie die ganzen Hörblasen, so nennen wir jeweils da, wo Sie sie auch finden. Wir starten am Literaturhaus, das heißt, wenn Sie rauskommen, werden Sie als Erstes vermutlich laufen, das sind die Schlagzeilen. Wenn Sie weiter gehen, Sie können die Blasen nicht direkt selber anwählen. Sondern dadurch, dass Sie sich bewegen, ortet das GPS Sie und verfrachtet Sie sozusagen in die nächste Blase,"

    erklärt die Studentin Florentine Schmidtmann, Studentin im Masterstudiengang Public History an der FU Berlin, die den Audiowalk mitkonzipiert hat. Was sie Hörblasen nennt, sind jeweils kleine Abschnitte entlang des Kudamms und einigen Seitenstraßen. Wenn man mit einem Smartphone und der entsprechenden Software dort vorbeikommt, spielt das Gerät die genau hierfür konzipierte Sounddatei.

    "Das ist eine App, die wir benutzen, die heißt Radio Aporee, die ist kostenlos im Internet. Dort kann man Töne auf einer Stadtkarte verorten und wir haben das Ereignis des Pogroms 1931 genommen."

    Im Berliner Literaturhaus in der Fasanenstraße, nur wenige Meter vom Kudamm entfernt, erklärt sie einem Interessenten, wie das Programm funktioniert.

    "Hier oben ist der Anknopf, Sie entsperren das, indem Sie da nachgehen, das ist schon mal die Karte, wo Sie sich auch befinden. Jetzt müssen Sie hier unten links darauf drücken und dann auf start walk gehen und dann zeigt er Ihnen mehrere Optionen an. Kudamm 31, wenn Sie das mal kurz anwählen, dann sind Sie schon drin."

    Im Sommer 1931, ziemlich genau anderthalb Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, kam es auf dem Kurfürstendamm, schon damals der Flaniermeile Berlins, zu organisierter Judenverfolgung. Ein Pogrom, das heute fast vergessen ist, erklärt die Historikerin Christine Bartlitz vom Potsdamer Zentrum für zeithistorische Forschung, die den Audiowalk, zusammen mit den Studenten entwickelt hat.

    "1931, das war Weimarer Republik. Das ist ja auch das erschütternde daran, dass zwischen 700 und 1.500 junge Männer Passanten über den Kurfürstendamm jagen am Samstagabend. Da waren Hunderte von Leuten unterwegs und die haben Juden gejagt und das in einer Demokratie."

    Am 12. September 1931, einem Samstag, war die große Synagoge in der Fasanenstraße prall gefüllt mit Gläubigen. Die jüdische Gemeinde feierte Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest.

    Hier am Kurfürstendamm, dem Berliner Westen, lebten viele Ärzte und Rechtsanwälte, aber auch Künstler und Journalisten. Aber während in ganz Deutschland weniger als ein Prozent Juden lebten, waren es hier rund um den Kudamm etwa 25 Prozent. Auch wenn sie vielleicht nur einmal im Jahr in die Synagoge gingen. Wie eben an diesem Samstagabend zu Rosch ha-Schana. Als der Gottesdienst gegen 20 Uhr endet, strömen mehrere Tausend Gläubige aus der kleinen Fasanenstraße auf den Kudamm. Was dann passiert, davon berichtet der Audiowalk jeweils an den Originalschauplätzen. Auch ich mache mich mit der Studentin Franziska Zimmermann am Kudamm auf Spurensuche.

    "Jetzt kommen wir zur Uhlandstraße und im Prinzip ist das hier auch mehr oder weniger der Weg, den die Nationalsozialisten während des Krawalls genommen haben. Sie sind von der Gedächtniskirche vom Breitscheidplatz in Richtung Uhlandstraße gegangen und weiter vorne befindet sich auch das Café Reimann, wo Teile der Nationalsozialisten das Café überfallen haben."

    An der Stelle, wo sich damals das Café Reimann befand, wartet heute das Hotel California auf Berlinbesucher. So wie damals gibt es auch heute eine Terrasse vor dem Hotel. An kleinen Tischen kann man Kaffee trinken und den Flaneuren auf dem Kudamm zusehen. So wie wohl auch schon an diesem Abend im September 1931. Genau hier hört man im Audiowalk nachgesprochen die Zeugenaussage von Walter Reimann, dem Cafébesitzer.

    "Gegen 20.45 Uhr bemerkte ich am Kurfürstendamm Ecke Uhlandstraße große Ansammlungen von 200 Personen. Ich hörte nun, dass von den versammelten im Chor gerufen wurde: Juda verrecke, Deutschland erwache, schlagt die Juden tot."

    Das Café wurde völlig verwüstet, das Mobiliar zertrümmert, die Scheiben zerschlagen, die Gäste willkürlich verprügelt. Ein paar Meter weiter hört man die Zeugenaussage des damals 43-jährigen Journalisten Erich Kraft.

    "Ich ging am Sonnabendabend von der Wielandstraße mit meiner fast 70-jährigen Mutter und einer befreundeten Arztfamilie auf der linken Seite des Kurfürstendamms in Richtung Knesebeckstrasse. Unmittelbar stürzte sich ein etwa 25-jähriger, 1,75 Meter großer mit einem rötlich brauen Anzug bekleideter mittelblonder Mensch von der Seite auf mich und schlug mir mit aller Wucht ins Gesicht, sodass ich fast das Bewusstsein verlor. Die Ober- und Unterlippe, das Zahnfleisch und die innere rechte Backe waren aufgeschlagen."

    Hier und in den Nebenstraßen wurden alle, die nach den Vorstellungen der Nazis jüdisch aussahen, gejagt. Heute erinnert hier nichts an diese Ereignisse außer den Texten von damals, die wir über den Kopfhörer eingespielt bekommen, erklärt Franziska Zimmermann.

    "Gerade an diesem Ort, wo die U-Bahn ankommt, wo der Starbucks sich befindet, wo die Leute mit Einkaufstüten von Urban Outfitters und dem Apple Store kommen, wo sich das Hotel Kempinski befindet und dann das Gedicht, das einen zurückversetzt in die Zeit von ‘31. Ja ich finde, das ist ein sehr eindrückliches Bild von dieser Stimmung, die ‚31 hier geherrscht hat."

    Hepp, hepp den Schlagring in die Faust,
    hepp hepp, Deutschland erwache
    hepp hepp, der Naziknüppel saust, Juda verrecke, Rache
    Tilgt aus den Mackabäerstamm.
    Hepp hepp, Alarm Kurfürstendamm


    Erich Mühsam, der Dichter und Anarchist schrieb das Gedicht einige Tage später. Es erschien in der Zeitung "Welt am Montag". Nur drei Jahre später, im Juli 1934, wurde er im KZ Oranienburg ermordet. Der Audiowalk bietet entlang des Kudamms und in einigen Seitenstraßen jede Menge weitere Facetten. Prozessaussagen und Gerichtsurteile, Zeitungsartikel und historische Aufnahmen. Aber auch das heutige jüdische Leben wird präsentiert.

    "”Wir machen was Neues. In Berlin gibt’s eine Riesenszene für Weltmusik. Als ich erlebte, wie hier große griechische oder Balkanpartys organisiert werden, dachte ich, es kann doch nicht sein, dass es in Berlin keine Party gibt mit jüdischer und israelischer Musik.""

    Wie zum Beispiel der seit Jahren in Berlin lebende Israeli Aviv Netter, der hier regelmäßig so genannte Meschugge-Partys veranstaltet.

    "”Das ist der einzige Ort, wo man zu Klezmer tanzen kann bis sechs sieben Uhr morgens. Ich liebe Berlin. Das ist der Ort, wo man jetzt sein sollte. Ich denke, Berlin ist heute momentan einer der tolerantesten Orte oder vielleicht sogar die toleranteste Stadt weltweit. Den jungen Leuten würde ich sagen, lasst uns die Zukunft leben, nicht die Vergangenheit. Wir dürfen nicht vergessen, was passiert ist, aber wir sollten uns auf das Leben konzentrieren, nicht den Tod. Und das ist die Möglichkeit, unseren Lebensstil zu feiern.""

    Ein Stück weiter südlich auf der Joachimstaler Straße kann man mithilfe des Audioguides die dortige Synagoge besuchen.

    "Sehen Sie Polizisten um sich herum patrouillieren, dann sind Sie hier richtig. Sie befinden sich in der Joachimstaler Straße Nummer 13. Die Synagoge wird, wie alle jüdischen Einrichtungen hier in Berlin, streng bewacht. Kommen Sie, treten Sie näher."

    Tatsächlich stehen hier mehrere Polizisten vor dem Haus. Dass sich hier eine Synagoge befindet, ist von der Straße ansonsten nicht erkennbar. Der Audiowalk bietet hier zwar vor dem Haus eine Führung per Kopfhörer, wirklich besuchen kann man die Synagoge aber nur mit Voranmeldung. Daher habe ich mich mit Uri Faber verabredet. Er ist nicht nur Historiker und Judaist, sondern seit vielen Jahren hier auch aktiv in der Gemeinde. Erst nachdem wir das Vorderhaus und einen Sicherheitscheck durchquert haben, wird jetzt die Synagoge im Hinterhof sichtbar.

    "Dieses Haus ist erbaut worden Anfang des 20. Jahrhunderts als Logenhaus für eine jüdische Bnai Brith Loge und hatte eben einen großen Logensaal und einen kleinen Festsaal und verschiedene Räume drin und das hat sie dann prädestiniert, dass sie dann, nachdem sie 1945 restituiert wurde, dass man hier die orthodoxe Synagoge der Gemeinde eingerichtet hat."

    Dann geht es hinein in die Synagoge.

    "Ich würde Sie bitten, dass Sie eine Kopfbedeckung aufsetzen, das ist die einzige Vorschrift, die man in einer Synagoge hat. Das ist das Herzstück, das ist die Synagoge, die wie gesagt nicht als Synagoge erbaut wurde. Sie sehen hier sehr viel Stuckschmuck, so ein bisschen Jugendstilelemente, 1902."

    In der Mitte des großen Raumes steht das Pult, wo die Tora gelesen wird. An der Ostseite in Richtung Jerusalem steht der Schrein, in dem die heilige Schrift aufbewahrt wird. Und mittendrin viele Bänke für die Gläubigen. Viele haben ihre festen Sitzplätzen, erklärt mir Uri Faber.

    "Ich sitze seit ungefähr 30 Jahren immer auf diesem Platz hier. Das ist mein Platz, ich kann das Ihnen beweisen, ich hab nämlich den Schlüssel dazu. Hier ist meine Ausrüstung, hier ist mein Tallit, mein Gebetsmantel, mein Chumasch, die fünf Bücher Moses, zum Folgen der Toravorlesung."

    Für ihn, meint Uri Faber, sei dieser Ort eben viel mehr als nur eine Synagoge.

    "Das ist mein zu Hause. Hier feiert man die Feiertage. Freitagabends nach dem Gottesdienst sitzt man mit dem Rabbiner bei gutem Essen, Trinken und Worten der Thora singend bis Mitternacht. Das ist einfach ein Stück zu Hause für mich."

    Und davon, wie die Nazis lange vor ihrer Machtergreifung dieses zu Hause der deutschen Juden systematisch und brutal angriffen, davon und dem heutigen jüdischen Leben, erzählt der Audiowalk Kudamm 31 mit bewegenden Beispielen. Dass es dabei nicht nur um historische Ereignisse geht, zeigt sich, als ich dann vom Hinterhof wieder auf die Straße trete. Im Vorderhaus, zur Straße hin, bietet eine jüdische Buchhandlung ihr Sortiment. Das Schaufenster hat ein Loch. Zwei Tage zuvor, mitten in der Nacht, erfahre ich später, hatte man die Scheibe eingeschlagen. Trotz 24 Stunden Polizeipräsenz. Wo war die Polizei, frage ich mich? Und erinnere mich, dass die damals einflussreiche Vossische Zeitung ihren Artikel über die Krawalle am Kudamm mit genau dieser Frage überschrieben hatte: "Wo war die Polizei?"