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Fátima
Die umkämpfte Madonna

Vor 100 Jahren soll drei Hirtenkindern im portugiesischen Fátima die Muttergottes erschienen sein. Sie verkündete drei Geheimnisse, darunter auch eine anti-kommunistische Botschaft. Das Dorf wurde zum Wallfahrtsort, die Marienverehrung zur ideologischen Angelegenheit. Am Freitag wird Papst Franziskus erwartet.

Von Tilo Wagner | 11.05.2017
    Eine Marienstatue während der traditionellen Kerzenprozession im Heiligtum von Fatima. (Bild: dpa / Lusa / Antonio Cotrim)
    Eine Marienstatue während einer Kerzenprozession in Fátima (dpa / Lusa / Antonio Cotrim)
    Die Steineiche, an der vor 100 Jahren den drei Hirtenkindern Lúcia, Jacinta und Francisco in Fátima die Muttergottes erschienen sein soll, steht nicht mehr. An der Stelle errichteten Gläubige bereits 1919 eine kleine Kapelle, auf die ein paar Jahre später ein Brandanschlag verübt wurde: Der Entstehungsprozess des Wallfahrtsortes Fátima war von Beginn an mit dem tiefgreifenden Konflikt zwischen Katholiken und laizistischen Republikanern verbunden, die 1910 die Monarchie gestürzt hatten und Portugal nach den Idealen der Französischen Revolution umbauen wollten.
    Marco Duarte, Archiv-Direktor des Wallfahrtsortes Fátima, sagt, dass der Versuch der Republikaner, den Einfluss der katholischen Kirche in Portugal massiv einzuschränken, fehlschlagen musste:
    "Die Republikaner haben etwas Grundsätzliches nicht verstanden: Je stärker sie die Religion bekämpften, umso weniger Erfolg hatten sie mit ihrer Ideologie in der Bevölkerung. Ihre laizistischen Ideale wurden von sehr vielen Menschen abgelehnt. In den Großstädten Lissabon und Porto gab es zwar eine Anhängerschaft, die hinter den republikanischen Ideen stand. Im gesamten restlichen Portugal waren die Menschen jedoch tief gläubig und der Katholizismus prägt ihr tägliches Leben."
    Bereits in den 1920er Jahren fanden sich in Fátima Zehntausende von Pilgern ein, obwohl der zuständige Bischof erst 1930 die Marienverehrung vor Ort offiziell erlaubte. Die katholische Kirche tat sich offenbar schwer damit, die teilweise mystischen Erfahrungen der Menschen in Einklang mit den Glaubensvorstellungen der Kirche zu bringen.
    Marco Duarte steht mit Hornbrille und Wolljacke vor einem Kreuz (Bild: Deutschlandradio/Tilo Wagner)
    Marco Duarte, Archiv-Direktor des Wallfahrtsortes Fátima (Tilo Wagner)
    Der Theologe und Priester Anselmo Borges, der unter anderem bei Ernst Bloch an der Universität Tübingen studiert hat, zählt zu den einflussreichsten kritischen Stimmen innerhalb der katholischen Kirche in Portugal. Er erzählt eine Anekdote aus Fátima, die für ihn das Verhältnis zwischen der Institution Kirche und den Pilgern symbolisiert:
    "Vor ein paar Jahren kam ein bedeutender Bischof in den Wallfahrtsort und sah eine ältere Frau, die sich selbst peinigte, indem sie auf den Knien über den Boden rutschte. Das Ritual war Teil ihres Gelübdes gewesen. Der Bischof sagte zu der Frau: 'Was Sie machen, ist gegen das, was in der Bibel steht. Gott will das nicht. Ich kann Ihnen helfen, damit Sie ihr Versprechen anders erfüllen können.' Doch die Frau sagte nur: 'Vielen Dank, Herr Bischof, für das Angebot, aber das, was Sie mir anbieten, ist nicht Teil meines Gelübdes gewesen.' Dieses Beispiel zeigt, dass der Kult um Fátima vor allem eine volkstümliche Religion ist und dass die offizielle Kirche sich schwer damit tut, Fátima in die Institution zu integrieren."
    Kritische Publikationen zum Jubiläum
    Dieser Aspekt wird von einer Reihe von kritischen Publikationen aufgegriffen, die anlässlich des 100. Jahrestages der ersten Marienerscheinung in den vergangenen Monaten in Portugal veröffentlicht worden sind. Auffällig ist, dass die Autoren nicht in die ideologischen Grabenkämpfe zurückfallen, die die Auseinandersetzung mit Fátima über die Jahrzehnte hinweg bestimmt hat. Der Wallfahrtsort hat - auch nach dem Ende der Portugiesischen Republik Ende der 1920er Jahre - seine politische Dimension nicht verloren.
    Lúcia dos Santos, die als einzige der drei Hirtenkinder nicht an den Folgen der Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg starb, hat ihren Teil mit dazu beigetragen, dass Fátima immer auch ideologisch besetzt war: Eines ihrer drei berühmten Geheimisse, die ihr von der Muttergottes anvertraut worden sein sollen, richtete sich direkt gegen die Sowjetunion und den Kommunismus allgemein. Diese Position wusste auch das autoritäre Regime von António de Oliveira Salazar auszunutzen, das bis zur Nelkenrevolution 1974 für ein rückständiges, reaktionäres und tief katholisches Portugal stand und gegen den kommunistischen Widerstand hart durchgriff.
    Die kirchlichen Institutionen in Fátima haben ihren Teil dazu beigetragen, dass die Geschichte des Wallfahrtsortes aufgearbeitet werden kann. Seit 1992 publiziert der Wallfahrtsort eine Dokumentenreihe, die mit dem vor drei Jahren veröffentlichten 13. Band die Entstehungsgeschichte bis 1930 minutiös abbildet. Zuständig für die Publikation ist Marco Duarte:
    "Die Kirche hat kein Problem mit der Wahrheit, auch wenn viele Menschen scheinbar einer anderen Meinung sind. Wir versuchen, unsere Publikationen nach den höchsten Ansprüchen der Wissenschaft an den Universitäten umzusetzen. Schon relativ früh entstand in Fátima die Idee, die Dokumente zu veröffentlichen und die nackte Wahrheit der Entstehungsgeschichte Fátimas zu präsentieren, damit sie von den Wissenschaftlern untersucht und interpretiert werden kann."
    "Das Kopfkissen der Portugiesen"
    Trotz der jüngsten Publikationen, die größtenteils journalistischen oder essayistischen Charakters sind, beginne sich die Wissenschaft erst jetzt richtig mit dem Thema zu beschäftigen, sagt der Theologe Borges:
    "Die Erforschung des Phänomens Fátima verlangt nach einem interdisziplinären Ansatz: Theologie, Philosophie, Soziologie, aber auch die Psychologie sind notwendig, um das Thema aufzuarbeiten. Fátima steht im Kern für eine Erfahrung, die dann über die Zeit hinweg und je nach politischen und sozialen Bedingungen - und auch im Zuge der Veränderungen in der Wissenschaft - anders ausgelegt und interpretiert wurde.
    Dabei bleiben essentielle Themen unbeantwortet, zum Beispiel die Frage, warum Fátima für den Kampf gegen den Kommunismus steht, aber nicht für den Kampf gegen den Nationalsozialismus. Uns fehlt hier nicht nur ein Teil der wissenschaftlichen Forschung: Fast die gesamte Arbeit liegt noch vor uns."
    Ein Blick auf die Basilica Antiga in Fatima (Bild: Tilo Wagner)
    Die Basilica Antiga in Fátima liegt dem Heiligtum der Marienerscheinung gegenüber (Tilo Wagner)
    Was in Portugal Kritiker und Nicht-Gläubige auch heute noch überrascht, ist die ungebrochene Zugkraft des Wallfahrtsortes. Wie in anderen westeuropäischen Ländern üben viele jüngere katholische Portugiesen ihre Religion nicht mehr regelmäßig aus. Und dennoch kommen jedes Jahr Millionen von Pilgern zwischen Mai und Oktober in das kleine Städtchen in der Mitte Portugals, darunter auch viele junge Leute. Anselmo Borges hat dafür eine Erklärung:
    "Fátima hat weiterhin eine enorme politische Bedeutung in Portugal. Wenn Ungerechtigkeiten auftreten, wenn der soziale Friede in Gefahr ist, wenn Finanz- und Wirtschaftskrisen kommen, dann dient Fátima als Kopfkissen der Portugiesen. Dabei spielt auch eine symbolische Rolle, dass es sich um Maria, die Mutter von Jesus, handelt. Und bei dieser Mutterfigur suchen die Menschen, was sie immer im Schoß ihrer eigenen Mutter suchen: Liebe, Nähe und Trost. Deshalb ist Fátima mit dafür verantwortlich, dass es in Portugal immer noch einen gewissen sozialen Frieden gibt."
    Das haben in Portugal auch die Regierenden begriffen. Die sozialistische Regierung hat den Beschäftigten im öffentlichen Dienst am morgigen Freitag freigegeben, damit sie zur Jubiläumsfeier mit Papst Franziskus und zur Heiligsprechung der Hirtenkinder Jacinta und Francisco nach Fátima reisen können.