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Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah
"Eure Heimat ist unser Albtraum"

"Eure Heimat ist unser Albtraum" - dieser Titel versammelt Essays von 14 Autorinnen und Autoren über Alltagsrassismus, Diskriminierung und Nationalismus, aber auch Ideen für die Zukunft, wie ein besseres Zusammenleben möglich werden könnte.

Von Rita Vock | 18.03.2019
Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah
Die Herausgeberinen des Buches: Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Valerie-Siba Rousparast)
Mit analytischer Schärfe, Humor, Lust an der Provokation aber auch genauer Selbstreflexion berichten die sehr unterschiedlichen Autorinnen und Autoren aus dem Alltag in ihrer deutschen Heimat. Sie alle werden als Migranten oder als "Menschen mit Migrationshintergrund" wahrgenommen und damit von Vielen als "Fremde" gedeutet.
Die einzelnen Texte tragen kurze thematische Titel: "Arbeit", "Blicke", "Essen", "Sex" und "Sprache" sind dabei – und in allen diesen Bereichen schildern die Verfasser Erfahrungen von Diskriminierung, Ausgrenzung und: "Rassismus" – auf diesen Begriff besteht nicht nur der Spiegel-Journalist Enrico Ippolito: "Ich bin es einfach so leid. Deutschland ist ein rassistisches Land. Wie könnte es das auch nicht sein. Aber Rassismus darf ich nicht sagen, weil es zu Unbehagen führt. Was interessiert mich euer Unbehagen!"
Auch die afrobritische Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin Sharon Dodua Otoo, die seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Berlin lebt, thematisiert Diskriminierung – etwa von ihrem jugendlichen Sohn:
"Ärztinnen sind kurz angebunden und unhöflich; Busfahrer möchten die Monatskarte und die Trägerkarte kontrollieren; Service-Mitarbeitende reden auf einmal extrem langsam. Und ständig auf der Straße nach Drogen gefragt zu werden, macht irgendwann einfach keinen Spaß mehr."
"The kanak is present"
Im Aufsatz "Blicke" beschreibt die deutsch-iranische Journalistin Hengameh Yaghoobifarah die Erfahrung, in der Öffentlichkeit misstrauisch betrachtet zu werden:
"Natürlich sehen nicht alle weißen Deutschen aus wie das Kind auf der Rotbäckchen-Saftflasche. Doch sobald jemand dunkle Haare hat, die mehr als ein Kammstrich dick sind, die Nase nicht nur ein kleiner runder Knopf ist und die Hautfarbe um eine Nuance von Mayo abweicht, findet ein Prozess statt, der sich Othering im Allgemeinen und Rassifizierung im Konkreten nennt. Blicke scannen dich ab, und du merkst: The kanak is present."
Yaghoobifarahs Mitherausgeberin, die Journalistin und Mitherausgeberin des Sammelbands, Fatma Aydemir, beschreibt die Diskriminierung im Bildungssystem und im Arbeitsleben so:
"Es ist schön, dass es immer mehr von uns gibt, die es durch das rassistische Schulsystem schaffen und das Privileg genießen, eine Uni schon mal von innen gesehen zu haben. Trotzdem gehen die begehrten Posten am Ende meistens an unsere weißen Kommiliton_innen. Jene von uns wiederum, die es dennoch irgendwie in einen 'weltoffenen', wenn auch weiß dominierten Betrieb geschafft haben, erleben leider zu oft den Effekt des Tokenism: 'Natürlich sind wir divers. Wir haben doch Fatma!'"
Wenn jemand in dieser Weise als Token, als Symbol, herhalten müsse, dann gehe es darum, Chancengleichheit nur zu simulieren und damit über weiterhin bestehende Machtstrukturen hinwegzutäuschen, schreibt Aydemir. Ihr "German Dream" sei dieser:
"Ganz einfach: Ich will den Deutschen ihre Arbeit wegnehmen. Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die sie für sich reservieren wollen."
Kein Vertrauen in Staat und Gesellschaft
Die politische Renaissance des Heimatbegriffs, kombiniert mit einer neuen Rhetorik der Härte in der Debatte über Flüchtlinge, wirkt auf mehrere der Autoren zutiefst ausgrenzend und bedrohlich.
Vertrauen in Staat und Gesellschaft sei für viele hier lebende Menschen schlicht unmöglich, betont der Schriftsteller und Journalist Deniz Utlu. Er verweist unter anderem auf den Umgang der deutschen Behörden mit dem lange Zeit in Guantánamo inhaftierten Murat Kurnaz und auf die fehlende Aufklärung der Mordserie der rechtsextremen Terrorzelle NSU. Der Lyriker und Essayist Max Czollek sieht das ähnlich:
"In den letzten Jahrzehnten hat sich Deutschland wiederholt als ein Staat präsentiert, der die Opfer rechter Gewalt nicht geschützt hat und nicht schützen wird. Seine gewählten Politiker_innen bringen vielmehr Verständnis für die Wähler_innen einer Partei auf, die Homogenität und kulturelle Dominanz predigt und sich auch von rassistischen Gewalttaten nicht so recht zu distanzieren vermag. All das hat zu einem massiven Vertrauensverlust in der migrantischen und postmigrantischen Bevölkerung geführt."
Czollek führt hier – auch aus historischer Perspektive - weiter aus, was er im vergangenen Jahr in seinem Buch "Desintegriert Euch" entwickelt hat: Die stets wiederholte Forderung nach Integration ist für ihn Zeichen eines Macht- und Dominanzanspruchs, den er grundsätzlich ablehnt.
Zugehörigkeit immer wieder in Frage gestellt
Eine bewusste und durchaus stolze Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft propagiert der Sammelband schon im Titel, wenn er von "Eurer Heimat" spricht, die "unser Albtraum" ist. Die immer wieder erfahrene Ausgrenzung wird emanzipatorisch gewendet. In dieser Hinsicht sind die Aufsätze vergleichbar mit dem Manifest der britischen Journalistin Reni Eddo-Lodge unter dem Titel "Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche". Auch dies war ein Buch, das trotz seines abgrenzenden Titels einen neuen Dialog eröffnet hat. Auch die Texte in diesem Band bleiben nicht bei der Abgrenzung stehen.
Kenntnisreich und analytisch vertiefen die überwiegend jungen Autorinnen und Autoren die leider hoch aktuelle Debatte darum, wer zur deutschen Gesellschaft dazugehört. Es ist eine Auseinandersetzung, die in der Luft liegt, und die in sozialen Medien kürzlich unter dem Schlagwort #vonhier geführt wurde. Dabei ging es nur scheinbar um eine Kleinigkeit: immer wieder mit Nachdruck gefragt zu werden, wo man denn herkomme. Vor dem Hintergrund des nationalistischen Backlashs in Politik und Gesellschaft, den dieses Buch beschreibt, ist es eben keine Kleinigkeit, wenn die eigene Zugehörigkeit immer wieder in Frage gestellt wird.
Das Buch erreicht dreierlei:
Menschen, die selbst von Ausgrenzung betroffen sind, erfahren, dass es Anderen ähnlich geht, auch erfolgreichen Kulturschaffenden. Sie erhalten mit diesem Buch nicht nur eine, sondern 14 verschiedene Stimmen.
Leser ohne eigene Diskriminierungserfahrung lernen durch die Lektüre aus erster Hand, wie verbreitet und wie tiefgreifend solche Erfahrungen sind – und sie können daraus Lehren ziehen: ihre Wahrnehmung und ihre Privilegien hinterfragen und ihr Handeln ändern.
Horizonterweiternd für Alle ist die kritische Auseinandersetzung mit den gerade zurzeit wieder allgegenwärtigen Konzepten von Heimat und Integration - die eben keineswegs alternativlos sind. Ein kluges und deutliches Buch zur rechten Zeit.
Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): "Eure Heimat ist unser Albtraum",
Ullstein Verlag, 208 Seiten, 20 €.