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Faust und Mephisto in einer neuen Dimension

Um mit Gewinn in Jorge Edwards satirische Polit-Parabel einzutauchen, die zwischen Erich Honeckers eiskalter Zeit in Ostberlin und Augusto Pinochets Diktatorenzeit in Chile angesiedelt ist, muss man beiseite lassen, was man an exotischer Lektüre Lateinamerikas kennt.

Von Hans-Jürgen Schmitt | 20.04.2008
    Doch es gibt Spannungen und Geheimnisse anderer Art genug, die in jener problematischen Feststellung und Selbstcharakterisierung des Romanhelden Faustino gipfeln, als er sich plötzlich in Chile als unfreiwilliger Held wiederfindet:

    Niemand reist mir nichts dir nichts und dann noch heimlich aus Ostberlin aus. Zwischen meiner Anwesenheit und dieser Offensive an allen Fronten - die versteckten Arsenale, das Attentat - schien offenkundig eine Verbindung zu bestehen. Sie hatten also einen Helden vor sich, trotz seines runden Gesichts und seines gutmütigen, fast schon dümmlichen Aussehens.
    Jorge Edwards - geboren 1931 in Santiago de Chile - ist mit seinen Erzählwerken zu den profiliertesten Autoren seiner Generation zu rechnen. Er wurde zunächst in Deutschland bekannt mit "Adiós Poeta", seinen packenden Erinnerungen über seine nicht ganz konfliktfreie Freundschaft mit Pablo Neruda; sodann mit seinem kritischen Bericht "Persona non grata" über seine Zeit als Diplomat in Kuba, die zur Hinauskomplimentierung durch Fidel Castro führte, weil er als Schriftsteller sich nicht diplomatisch verhielt. In beiden Büchern zeigte sich Edwards weltmännischer, liberaler Geist.

    Mit großer Verzögerung lernen wir jetzt erst den Erzähler Jorge Edwards bei uns kennen. Vor kurzem erschien bei Wagenbach sein vielbeachteter Roman "Der Ursprung der Welt" und jetzt der Roman "Faustino", der im spanischen Original Ende 1987 herauskam, just in einem Augenblick, da der Diktator Pinochet hoffte, durch ein Referendum vom Volk auf Lebenszeit gewählt zu werden. Das Volk entschied sich aber dagegen. Der Übergang zu demokratischen Verhältnissen wurde damit in Chile eingeleitet und Edwards Roman ein Bestseller.

    Erich Honecker, 1993 mit Ehefrau Margot nach Chile übersiedelt, hatte nur noch ein Jahr Lebenszeit, um sich mit der Demokratie anzufreunden. Der Ex-Staatschef der DDR kam nicht als Held und Retter nach Chile, sondern als Verlierer.

    Anders ist es um Edwards Romanfigur Faustino bestellt, den der Autor sowohl aus der Ich-Perspektive, als auch in der dritten Person und in der zweiten Person als inneren Monolog plastisch zu schildern versteht.

    Aufgrund des Putsches vom 11. September 1973 landete ich in Ostberlin im Asyl. Eigentlich war es eine Entscheidung meiner Partei, gefällt zwischen Baum und Borke, und mir als altgedientem, diszipliniertem Kämpfer blieb nichts anderes übrig, als mich ihr zu beugen.
    Jorge Edwards, der nach Salvador Allendes Sturz bis 1980 in Spanien lebte, hatte Mitte der siebziger Jahre als DAAD-Stipendiat zwei Jahre Gelegenheit gehabt, Westberlin und das chilenische Exilantenmilieu in Ost-Berlin kennenzulernen, also die kommunistischen Genossen, denen Honeckers Staat Schutz bot. So auch seinem etwas mittelmäßigem "Helden" Faustino, einst Herausgeber von Kulturbeilagen und Kunstkritiker, der nach den Folgen des Staatsstreichs gegen Allende zudem sich manchen Ärger ob seiner Abweichung von der Parteilinie eingehandelt hatte und dem nun nichts anderes als die Flucht nach Berlin-Ost übrig blieb:

    Zum einen war bekannt, dass man uns als Erste verfolgen würde, auch wenn wir nicht die Hauptverantwortlichen für das Desaster waren. Und in meinem Fall als gutmütiger Kerl, der sich für die künstlerische Avantgarde eingesetzt hatte, würde auch das nichts nützen.
    Faustino hatte mit seiner polemischen Feder zu viele verbale Attacken geritten.

    Aber nun in Ost-Berlin sind die chilenischen Genossen ziemlich frustriert. Faustino fühlt sich in seinem Kabuff in Treptow trotz der Privilegien, die die DDR den Exilanten gewährt, verlassen und allmählich abgestumpft.

    Ich litt unter der deutschen Disziplin, wo die Bürokratie der Partei in ihrem Element war, wo sie aufblühte, wenn man so will, ich litt unter dem grauschwarzen Nebel, der Polarkälte, dem ungenießbaren Essen, den realistischen Malern,
    der Enge der Behausungen. Es kam mir so vor, als wäre das Alltagsleben von einer unsäglichen, beklemmenden Traurigkeit durchtränkt, die stärker war als alle Argumente. Ich bin dafür nicht geschaffen, sagte ich mir immer wieder und schaute von meinem Sitz im Bus mit einem schmerzlichen Lächeln auf die gleichförmigen Plattenbauten, die Betonflächen, die Denkmäler der Helden mit ihren Bronzegesichtern von der Größe eines Hauses, die Hände zur Faust geballt und in die Zukunft gereckt.

    Mit seinem Leidensgenossen, dem Altstalinisten Chico, sind die gelegentlichen Ausflüge nach Westberlin seiner Stimmung auch nur insoweit förderlich, als beide sich angesichts des westlichen, kapitalistischen Gepräges am Kudamm inmitten von Autos, Menschenmengen und Schaufenstern klarmachen, Pinochets Folterzentrum Cuatro Álamos entkommen zu sein.

    Das ist echter Kapitalismus, dachte ich, während wir einen Tisch an der Straße besetzten. An der Nordseite des Kudamms, der Prachtstraße mit dem legendären, widersprüchlichen Ruf, ging mit Riesenschritten eine junge Frau mit giftgrünem Irokesenschnitt, Walkürenschenkeln und wogenden Brüsten, die auf der Plaza von Talca ein Erdbeben der Kategorie sieben ausgelöst hätten.
    "Hast du gesehen?", fragte ich Chico und fügte angesichts seines mürrischen Schweigens, das, wie ich wusste, eher das Ergebnis von Disziplin als von Gleichgültigkeit war, hinzu: "Es gibt aus doktrinärer Sicht keinerlei Widerspruch, sich an der Betrachtung der Welt, am Schauspiel des Universums in all seiner Bandbreite und seinem Reichtum zu erfreuen und gleichzeitig ein guter Kommunist zu sein."
    "Keinen", stimmte Chico zu und wand sich dabei in seinem Stuhl, als habe er einen Löffel Abführmittel zu sich genommen. "Nicht den geringsten."

    Nun freilich beginnt erst die eigentliche Geschichte mit dem Auftauchen eines Verführers, des dämonischen Apolinario Canales, der Faustino aus Öde und Stillstand des Ost-Berliner Exils zurück nach Chile führen will. Dieser lernt ihn bei einem Kurzausflug am Kudamm kennen.

    Edwards gibt dem Kampf zwischen Faust und Mephisto hier eine neue Dimension. Dieser Teufel, eine ambivalente, dubiose Figur, die der extreme Linken oder auch Rechten zugehören könnte, ist nicht an der Zukunft, nicht an der Seele Faustinos interessiert, sondern an dessen Vergangenheit.
    Ihre Vergangenheit macht Sie jetzt und noch für eine ganze Weile für das öffentliche Leben unbrauchbar; von dem, was ich Ihnen vorschlage, ganz zu schweigen. Aber genau hier trete ich auf den Plan. Mit meinen speziellen Diensten! Hören Sie jetzt ganz aufmerksam zu, was ich Ihnen sage. Nach diesem Vertrag behalte ich Ihre Vergangenheit. Warum? Weil ich es so will. Weil ich unter vielen anderen Kuriositäten Vergangenheiten sammle. Wussten Sie das nicht? Na schön, dieses Detail ist in der Tat nicht sonderlich bekannt. Das gemeine Volk denkt immer an die Seele, an den Verkauf der Seele, aber die ist eine Entelechie und nutzt nicht viel, wenn es ums Konkrete geht.

    Und das ist das große Thema des Romans: Auslöschung der Vergangenheit, hier der kommunistischen, was auch heißt Auslöschung der Erinnerung, um einen neuen Helden zu küren, der Chile erretten soll. Es ist die Verwandlung in ein Leben ohne Geschichte, die zu einer manipulierten Komödie wird.

    Aber bis es zum kritischen Augenblick kommt, da der Pakt gemacht werden soll,- werden anders als im klassischen "Faust" Goethes-, viele Kapitel dichter Romanhandlung mit den Versuchungen des Teufels und den Zweifeln Faustinos erzählt. Der Dämon, ein fahrender Gesell mit versteckt homoerotischem Einschlag, will Faustino zunächst mit westlichem Luxus und Genuss betören. Nicht Auerbachs Weinkeller, sondern- unschwer zu erkennen - Berlins Kaufhaus des Westens, KDW, verwandelt sich in den Ort der Sinnen- und Gaumenfreuden:

    Hier jedoch, in dieser Kathedrale der Leckerbissen, war das Gefühl von Überfülle durch das spärliche, geschickt verteilte Licht noch seltsamer und beunruhigender. Alles wiederholte sich in Pyramiden, in tiefen Körben und Stapeln, büschelweise. Ich drehte mich um und stellte fest, dass über meinem Kopf eine Sammlung von allen möglichen Senfsorten stand: gelber, grüner, bläulicher, goldfarbener, roter Senf.
    "Wahnsinn!", rief ich und folgte meinem Gastgeber, der in dem Gang mit den exotischen Früchten verschwunden war. Er lud mich ein, mich an einen runden Tisch zu setzen, und bot mir eine Auswahl von Kanapees mit Meeresfrüchten, Lachskaviar, russischem Kaviar, allen möglichen Heringsspezialitäten an; dazu gab es Wodka aus eisgekühlten Gläschen. Wir seien nur hier, um den Appetit anzuregen, sagte er. Was hätte ich tun können, außer die Augen aufzureißen und mir die Hände zu reiben? Donnerwetter, was für eine tolle Einladung! Ich sah, dass wir von Aquarien mit Hunderten von Aalen umgeben waren, die sich kaum bewegen konnten, die langsam den Mund öffneten, zu ersticken schienen und in sich zusammenfielen. Was hätte Chico dazu gesagt! Mit Sicherheit hätte er von der Konsumgesellschaft gesprochen, vom Hunger in Indien, in Äthiopien, in Biafra, in den Dörfern um Santiago. Dieser Chico war ein Wurm in meinem Bewusstsein! Ein Wurm, der nicht müde wurde, mich innerlich zu zernagen!

    Die Verführung nimmt ihren Fortgang mit einem Besuch in einem Edelbordell, das Faustino am nächsten Morgen mit Ekel und Scham verlässt. Apolinario fängt den Umherirrenden ab und fordert ihn in einem stillgelegten Bahnhof auf, in eine bizarre Flugmaschine, eine Art Privathubschrauber, zu steigen, "eine schwindelerregende Plazenta", nennt Faustino sie fasziniert, die ihn überall hinbringen konnte.

    Ab nun beginnt das eigentlich surreale Abenteuer. Faustino wird nicht, wie er wünscht, zurück nach Ost-Berlin gebracht, sondern wider Willen nach Chile.

    Jorge Edwards Rückgriff auf den Faust, der das Innerste Sein der Welt kennenlernen will, wird hier konträr in einen Raum und Zeit aufhebenden Flug versetzt, der allerdings zunächst ernüchternd endet:
    Durch die Tür einer Irrenanstalt für Rauschgiftsüchtige betreten Faustino und der Teufel den Boden Chiles! Und bald darauf die Hauptstadt Santiago.

    Ein gesellschaftliches Panoptikum breitet der Erzähler Edwards nun vor dem Leser Zug um Zug in einem Realismus aus, an dessen innerer kafkaesker Logik der Held zu verzweifeln beginnt. Räume verwandeln sich in Spiegelkabinette, abstruse Cowboy-Bars und Golfplätze in Labyrinthe. Besonders eindringlich die Schilderung einer Tischgesellschaft, einer Männergesellschaft von alten, etwa zweihundert Männern, denen vom Hauptredner eine absurde, antidemokratische Rede gehalten wird:

    Der Hauptredner, der einen zentralen Platz im Raum einnahm und auf einem majestätischeren Sessel saß als die anderen - er war höher und hatte vergoldete Armlehnen -, erhob sich. "Meine Herren", sagte er, und da keine Damen anwesend waren, fügte er hinzu: "und Herren!" Binnen weniger Sekunden fing er an zu schreien, denn es gab kein Mikrofon, und er wollte zweifellos auch in der letzten Ecke gehört werden. Die blauvioletten Halsadern schwollen an, als würden sie gleich platzen und als würde seine Rede ihn mit nicht zu unterdrückender Empörung erfüllen. Die Tischgesellschaft saugte seine Worte mit feurigen Blicken auf, ganz anders als die Kellner, die nicht zuhörten oder, besser gesagt, die gezwungen waren, so zu tun, als ob sie nicht zuhörten. Trotz des hohen Durchschnittsalters der Versammelten sah man in der Nähe des Redners junge, glatte Gesichter, so als sollte betont werden, dass seine Worte auch mit der Zukunft zu tun hatten, und vielleicht sogar mehr mit der Zukunft als mit der Vergangenheit. Es ging anscheinend darum, eine heftige Attacke zu parieren, die die Schwarzen Mächte, gemeinsam mit den Infiltrierten, den Waschlappen, den Zögerlichen, den Korrupten, gegen sie ritten. Der Redner schlug vor, zwischen ihnen, den Unantastbaren und Reinen, die Mauern eines uneinnehmbaren Systems zu errichten, das keine Diktatur sein solle, auf keinen Fall, aber auch keine nachsichtige Demokratie, sondern das Gegenteil. Das Gegenteil wovon? Das Gegenteil vom Gegenteil!
    Für Faustino wird diese von Apolinario vorgeführte Welt immer unwirklicher, unheimlicher. Als er zur Vertragsunterzeichnung ins Notariat kommen soll, trifft er auf Apolinarios Privatarchiv, in dem in Pappkartons die Vergangenheiten aufbewahrt werden.
    Seltsam, findest du. Du hegst den Verdacht, die riskante Sammlung deines Freundes, wenn du ihn so nennen kannst, ist nicht mehr als ein Hobby. Und dann keimt in dir ein weiterer Verdacht, der dir einen Schauer über den Rücken jagt: Der freie Platz am anderen Ende, ähnlich einer Grabnische, wartet auf das Archiv deiner Vergangenheit, vielleicht ein paar Schuhkartons, nicht viele auf jeden Fall, denn dir ist im Leben nicht viel widerfahren. Aber das Interesse von Apolinario Canales an dem Thema, denkst du, ist ziemlich unerklärlich. So unerklärlich, dass du noch mehr Angst bekommst. Da ist etwas faul! Und du denkst, in dem Augenblick, in dem du die Urkunde unterschreibst, werden sich die Kartons, ob viele oder wenige, die für dich bestimmt sind, füllen und diesen freien Platz in dem Schrank einnehmen.
    Einer der Höhepunkte des Romans ist die Schilderung des Notariats, das an das undurchdringliche Beamtenlabyrinth im Prozess-Roman von Franz Kafka erinnert:

    Du willst zurückweichen, aber in dem Moment begreifst du, das Fenster zum Halbkreis ist kein Ausgang, es ist das Guckloch, der Luftschlitz einer Gefängniszelle. Worauf habe ich mich da nur eingelassen!, sagst du und gehst mit leicht zitternden Beinen wie aus Wolle durch lange Gänge. Hinter den Türen hört man Telefone, Schreibmaschinen, sich verschluckende und hustende Stimmen. Im Notariat am Ende des Flurs drängen sich die Mandanten vor dem Empfangspult, zusammengepfercht stellen sie sich auf die Zehenspitzen, schubsen sich gegenseitig und stoßen dumpfe Schreie aus. Ein krummer alter Mann, das Opfer eines schweren Parkinsonleidens, steht vor der offenen Tür und kann sich nicht entschließen oder schafft es nicht einzutreten. Du bleibst stehen und schielst zu einer Treppe. Viele Leute kommen herauf und verteilen sich auf die Räume oder versuchen erfolglos, zum Empfang des Notariats vorzustoßen, und das lässt die Vermutung zu, dass die Treppe direkt nach draußen führt.

    Obwohl Faustino eine problematische Vergangenheit hat, lehnt er ab, vielleicht auch aus nostalgischer Neigung, sich von dieser zu trennen und Chile zu retten. Und gerät doch in den Wirren des Landes in den Verdacht, Urheber des fehlgeschlagenen Attentats auf den Diktator zu sein. Was ihm bei seiner wiedergefundenen Tochter, die im Untergrund tätig zu sein scheint, hohen Respekt einträgt und ihre Hilfe für die imaginäre Romanreise zurück nach Ost-Berlin.

    Den umgekehrten Weg geht eine reale Person: den Weg der Exilantin aus der DDR nach Chile zurück: die derzeitige Präsidentin Michelle Bachelet, die ihre Vergangenheit nicht verkaufen, nicht verleugnen musste, floh mit ihrer Mutter in die DDR, studierte Germanistik und Medizin in Leipzig und Ost-Berlin. Sie wurde im demokratischen Chile Gesundheits- und Verteidigungsministerin bevor sie als Sozialistin 2006 zur Staatspräsidentin gewählt wurde.

    Die Erfahrung der Autorengeneration um Jorge Edwards ist tief geprägt von den politischen Erosionen, die Chile im 20. Jahrhundert immer wieder erleiden musste. Ihre Romane spezialisierten sich auf die Auspowerung und Zerstörung der chilenischen Gesellschaft. Edwards Roman Faustino lässt sich jedoch auf mehreren Ebenen lesen: als Abenteuerroman, als vielfältige literarische Anspielung unter anderem auf den Faustmythos und als ironische Parabel auf sein Land. Aber er erreicht, indem er die Problematik von Vergangenheit und Erinnerung an der Figur Faustinos ins Zentrum stellt, einen bis heute lebendigen Bezug, einen exemplarisch Rang.

    Jorge Edwards: Faustino. Roman aus dem chilenischen Spanisch von Sabine Giersberg. Wagenbach Verlag Berlin 2008