Eine frühere Analphabetin erzählt

"Man betrügt sich ja selber das ganze Leben"

Eine Teilnehmerin des Alphabetisierungskurses sitzt am 30.08.2016 im Klassenzimmer der VHS Erfurt (Thüringen).
Eine Teilnehmerin eines Alphabetisierungskurses in Thüringen – der Weg dahin fällt vielen Betroffenen schwer. © dpa / picture alliance / Andreas Göbel
Von Carina Fron · 22.11.2018
Rund 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland gelten als funktionale Analphabeten. 60 Prozent der Betroffenen sprechen Deutsch als Muttersprache. Wenige gehen offen damit um, sie haben mit starken Vorurteilen zu kämpfen. Ute Holtschumacher traut sich das.
"Ich wollte eigentlich immer so Kinderkrankenschwester werden. Das war mein Traumberuf als Kind gewesen. Das einzige, was ich machen konnte, war eben putzen gehen oder in den Küchen arbeiten."
Aufgewachsen ist die gebürtige Berlinerin Ute Holtschumacher in schwierigen Verhältnissen, der Vater trank und die Mutter war überfordert mit ihren neun Kindern. Und obwohl sie acht Jahre die Sonderschule besuchte, konnte sie lediglich einzelne Wörter und ihren Namen schreiben. Und auch richtig lesen hat sie damals nicht gelernt.
"Wir waren immer schon abgeschrieben, unsere Familie. Wir waren zu viele Kinder. Die haben gesagt, diese Familie ist asozial. Und da hat man uns nicht an die Hand genommen."
Und so verlässt Ute Holtschumacher mit 15 Jahren die Schule, zieht von zuhause aus, bekommt wenige Jahre später ihre Tochter und verdient ihr Geld fortan als Küchenhilfe und Zimmermädchen. Dass sie weder lesen noch schreiben kann, hält sie geheim. Aus Scham.
"Man betrügt sich ja eigentlich selber das ganze Leben. Ich bin ja auch immer angespannt durchs Leben gegangen. Das macht mit der Zeit einen auch krank."

Endlich Geburtstagskarten schreiben können

Lange fuscht sie sich durch: lässt sich in der Bank beim Überweisungsschein helfen, Babynahrung kauft sie in der Apotheke, da werden ihr die Etiketten auf den Gläschen vorgelesen. Und es klappt. Lange. Erst mit Ende 40 kommt es raus, dass sie Analphabetin ist. Sie verliert nach 17 Jahren ihren Job und wird schwer psychisch krank. Erst im Jobcenter rät man ihr schließlich zu einem Alphabetisierungskurs.
"Heute sage ich mir, es ist schön, dass alles so passiert ist. Es macht mich aus und ich habe die Chance bekommen noch mal lesen und schreiben zu lernen, was ich mir schon als Kind gewünscht habe."
Seit fünf Jahren drückt die 55-Jährige jetzt wieder die Schulbank. Endlich kann sie Geburtstagskarten schreiben und mit ihren Enkeln Textnachrichten austauschen. Und weil sie anderen Analphabeten Mut machen will, spricht Ute Holtschumacher mittlerweile offen über ihre Erfahrungen.
Und sie begleitet regelmäßig das ALFA-Mobil, ein Wohnmobil, das durch Deutschland fährt und über funktionalen Analphabetismus informiert. Das ist nötig, denn Deutschlandweit leben 7,5 Millionen Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können, erklärt Elke Sommerfeld. Die Pädagogin gehört auch zum ALFA-Mobil-Team und erlebt immer wieder, wie stark das Thema Analphabetismus stigmatisiert wird.
"Auf jeden Fall sind es oft die Fragen nach den Ursachen und hauptsächlich immer dieses ‘Das kann doch gar nicht sein’ oder ‘Wie kann das sein’. Dass sie sich eben fragen, wie das trotz der Schulpflicht sein kann. Viele fragen sich natürlich auch, wer diese Menschen sind und dann kommen auch Vorurteile, sowas wie, es sind vielleicht nur Ausländer."

Analphabeten sind nicht weniger intelligent

Falsch. 60 Prozent der Betroffenen sprechen Deutsch als Muttersprache, erklärt Elke Sommerfeld. Genauso falsch ist die Annahme Analphabeten seien weniger intelligent. Immerhin bedarf es viel Kreativität und Einfallsreichtum auch ohne gute Kenntnisse im Schreiben und Lesen im Leben zu Recht zu kommen, gibt Anke Grotlüschen von der Universität Hamburg zu bedenken. Sie gilt als führende deutsche Expertin für Analphabetismus.
"Man fürchtet dann erst einmal, dass das Menschen sind, die ganz allein gelassen sind. Ganz so ist das in der Regel nicht. Die Mehrheit der sogenannten funktionalen Analpabeten hat es immerhin hinbekommen berufstätig zu sein. Das heißt 58 Prozent sind beschäftigt. Wir haben in Deutschland durchschnittliche Quote von 66 Prozent. Das heißt der Unterschied ist gar nicht so groß."
Nicht selten arbeiten diese Analphabeten in unbefristeten Vollzeitstellen. Es handelt sich dabei allerdings meistens um geringqualifizierte Tätigkeiten und die werden deutlich schlechter bezahlt. Häufig verhindert Papierkram, dass Analphabeten die Chance bekommen, sich hochzuarbeiten. Hinzu kommt: Die meisten Analphabeten kommen in ihrem Leben zurecht, sie haben Familie und einen funktionierenden Alltag. Lernen hat da nur wenig Platz.
"Das bedeutet eine gute Unterstützung würde darin bestehen, dass die Betriebe die Zeit fürs Lernen freistellen, während die öffentliche Hand die Kosten fürs Lernen übernimmt. Solche Angebote sind möglich. Wir lernen mit großer Überraschung aus Frankreich, dass das ein Modell ist, was hervorragend funktioniert."
In Frankreich ist auch dank des Engagements von Unternehmen die Zahl der funktionellen Analphabeten innerhalb der letzten acht Jahren von 3,1 auf 2,5 Millionen gesunken. Davon könnte man in Deutschland lernen. Hierzulande besuchen gerade mal 20.000 Analphabeten Kurse. Und dass, obwohl diese kostenlos sind.

Nicht jeder Mensch muss perfekt lesen und schreiben

Simone Ehmig möchte aber schon viel früher bei der Unterstützung ansetzen. Sie leitet das Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen. Die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung zeige, dass rund 19 Prozent der Kinder mit unzureichenden Kenntnissen beim Lesen und Schreiben von der Grundschule auf die weiterführende Schule versetzt werden, warnt sie.
"Das heißt unter Kindern und Jugendlichen wächst mit jedem Geburtsjahrgang im Grunde ein ähnlich hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen heran, die später ein erhöhtes Risiko haben wieder zu funktionellen Analphabeten zu werden, wenn sie erwachsen sind."
Helfen kann hier schon regelmäßiges Vorlesen. Das zeigen Untersuchungen der Stiftung Lesen.
"Auf der anderen Seite haben wir auch eine positive Bedeutung für die kognitive Entwicklung des Kindes. Dass bedeutet Kinder, denen vorgelesen worden ist, lernen leichter lesen. Sie finden schneller in Texte hinein und können sie unkomplizierter wahrnehmen."
Eltern, die vorlesen, können also die Zukunft ihres Kindes maßgeblich beeinflussen. Und Lehrer müssen sensibilisiert werden. Denn auch wenn am Ende nicht jeder Mensch perfekt lesen und schreiben muss, wer es gar nicht kann, durcherlebt soziale und psychische Benachteiligung.
Experten sind sich zudem einig, dass man noch weiter erforschen muss, welche Fähigkeiten gerade im digitalen Zeitalter auch für funktionale Analphabeten unbedingt zum Leben dazu gehören sollten. Das hat auch Ute Holtschumacher gelernt. Sie ist ein großer Internet-Fan geworden und sucht dort besonders gerne nach Gedichten oder Sinnsprüchen.
"Kämpfe um das, was dich weiterbringt. Akzeptiere das, was du nicht ändern kannst und trenne sich von dem, was dich runterzieht."
Obwohl sie immer noch Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat, ist Ute Holtschumacher auf einem guten Weg. Analphabetin ist sie keine mehr.
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