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Fedor von Zobeltit: "Die papierene Macht"
Die Entdeckung der Boulevardzeitung

Von Florian Felix Weyh | 26.03.2015
    Die Komtesse heiratet einen Bürgerlichen. Ja nun! Ihr Adel ist zwar alt, doch dem Grafen, ihrem Vater, fehlt es an agrarischem Geschick, ergo an Einnahmen. Lieber betreibt er Politik im Reichstag, wo - noch! - preußische Junker wie er den Ton angeben. Allerdings ist er ein moderater Nationalliberaler, der dem Glück der Tochter nicht im Weg stehen will. Zumal der Schwiegersohn - bürgerlich hin oder her - in die Familie neben Wohlstand eine nicht zu verachtende Expertise einbringt. Er ist Verleger und gründet gerade mit dem Grafen und weiteren Gleichgesinnten eine veritable Tageszeitung.
    "Die Zeitung sollte das Echo der Partei sein. (...) Die Rede kam im allgemeinen auf die Haltung des neuen Blattes. Man wünschte in allen Teilen die gleiche Vornehmheit bewahrt zu wissen. Die lokale Chronik und das Forensische dürften nichts enthalten, was in der Familie Anstoß erregen könne; es sei abscheulich, mit welchem Eifer die Zeitungen gräßliche Verbrechen und häßliche Gerichtsverhandlungen aufzubauschen pflegten."
    Aber das tun im Kaiserreich noch ziemlich wenige Konkurrenten. Das herrschende publizistische Paradigma lautet: Parteilichkeit, zumindest politische Eindeutigkeit, ob nur erzreaktionär oder sozialdemokratisch. Zeitungen kauft man nicht ob der darin enthaltenen Neuigkeiten, sondern weil die Lektüre eines bestimmten Blattes die eigene Identität stärkt.
    Plötzlich kommt da aber ein in Köln bankrott gegangener Druckereibesitzer nach Berlin und hat eine veritable Idee. »Kolportagenlektüre im Zeitungsformat« lautet sie, und natürlich blitzt er bei seriösen Geldgebern mit so etwas ab - bei bürgerlichen Verlegern wie des Grafen Schwiegersohn sowieso. Kolportage ist etwas Unaussprechliches, meint Heftchenromane fürs gerade so alphabetisierte Volk.
    Aber genau da, erkennt der Kölner Bankrotteur, der zuvor mit einem edel gedachten Volksbildungsprojekt Schiffbruch erlitt, genau da liegt der Ansatzpunkt: Eine moderne Zeitung muss nicht die Welt ideologisch einordnen, und sie lebt nicht von ihren Abonnenten. Sie muss die Welt auf den Punkt bringen und sich im Straßenverkauf bewähren! Das schreit freilich nach revolutionären Neuerungen:
    "In dem Blatte wimmelte es von lockenden Überschriften; dabei war aber die Einteilung nicht unübersichtlich, im Gegenteil: diese unliterarische Hinweisung auf den Inhalt, die nur die grobe Wirkung des Ganzen erhöhen sollte, erleichterte dem Durchschnittsleser zweifellos die Orientierung. Eine längere Plauderei beschäftigte sich mit den kommunalen Verhältnissen Berlins; eine andre trug den Titel "Aus der Gesellschaft" und brachte allerhand Klatschgeschichten von Grafen O. und der Baronin von A. und dem Fürsten von I.-K. auf T. - erfundenes Zeug, pikant erzählt, dazwischen aber auch Familiennachrichten, bei denen die Namen voll ausgedruckt waren."
    Nein, hier ist nicht von der heutigen Bildzeitung die Rede. Fedor von Zobeltitz' Roman "Die papierene Macht" stammt aus dem Jahr 1901. Der Kampf zweier Zeitungsmodelle um Kopf und Geldbeutel der Menschen ist allerdings eine passende Ausgrabung. Auf sehr unterhaltsame Weise wird einem vor Augen geführt, wie lange schon die Selbstbilder des Qualitätsjournalismus auf tönernen Füßen stehen, weil bereits vor über hundert Jahren klar geworden ist, dass sich Markt und Geist, Anspruch und Gewinn selten miteinander vermählen lassen.
    "Die papierene Macht ist unter allen Umständen immer eine demokratische", muss ein adeliger Geldanleger ins Parteizeitungsmodell begreifen und sich damit zugleich die doppelte Niederlage eingestehen: Bleibt sein Blatt ideologisch dem Adel verpflichtet, erreicht es niemals die Massen; erreicht es die Massen nicht, verliert er sein Geld. Denn: »Eine Zeitung ist wie ein Raubtier; sie frißt den Mammon.« Raubtiere aber kann man nur als Zirkusdirektor halten, und dann muss man auch als Zirkusdirektor agieren, laut und sensationslüstern. Dem Gründer des populistischen "Volksboten" mangelt es an Ideen nicht:
    "Ich habe natürlich auch noch andre Köder in petto. Freie Rechtsbelehrung im juristischen Briefkasten; jeder Winkeladvokat macht uns das für ein paar Groschen Honorar. Freie ärztliche Beratung; vielleicht auch Unfallversicherung der Abonnenten; Gratisprämien, Verlosungen, naive Preisausschreiben."
    So droht schon in Zobeltitz' Roman das gedruckte Wort zur Begleiterscheinung des eigentlichen Geschäfts zu werden. Der Autor - heute unbekannt - war zu seiner Zeit ein viel gelesener Romancier. Nie ganz unten bei der Kolportage angesiedelt, dennoch ein Realist mit hohen Verkaufszahlen. Die Figuren des vorliegenden Romans beschreibt er differenziert, auch wenn er alle Konfliktlinien der wilhelminischen Gesellschaft zugleich aufruft: Adel gegen Bürgertum, Aufsteiger gegen Traditionalisten und last not least Christen gegen Juden.
    Hier bewegt sich Zobeltitz erfreulich weit entfernt von den Klischees seiner Zeit, indem er den Sohn des Grafen erkennen lässt, dass dessen antisemitische Grundhaltung auf reinem Mitläufertum basiert. Zur Ehe mit der jüdischen Bankierstochter kommt es dennoch nicht. Zobeltitz ist Kind seiner Zeit und seiner Schicht genug, um hier den tragischen Todesfall als Lösungsstrategie vorzuziehen.
    "Die papierene Macht" ist ein Gesellschaftsroman, der eindeutig von Fontane herkommt und auf Fallada zustrebt. Noch übt der preußische Adel aufs Bürgertum ungeheure Anziehungskräfte aus, doch am unteren Ende sind schon die kleinen Leute dabei, die Gesellschaft umzuformen. Den Landjunkern ist das egal; hochmütig denkt einer ihrer Vertreter:
    "Eine Stadt wie Berlin stand geistig viel zu hoch für eine so miserable Presse. Dieser "Volksbote" mußte ebenso rasch wieder verschwinden, wie er gekommen war. Er war nicht zu fürchten; kein anständiger Mensch würde ihn lesen."
    Wie man sich so irren kann.
    Fedor von Zobeltitz - "Die papierene Macht"
    Czernin Verlag/ Bibliothek der Erinnerung, 21,00 Euro, ISBN: 978-3-7076-0500-6, 408 Seiten