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Feine Antennen für zwischenmenschliche Schwingungen

Die deutschen Ursprünge seiner Familie waren dem israelischen Schriftsteller Chaim Be'er beim Schreiben seines Romans "Bebelplatz" stets bewusst. Bis 1947 war der Bebelplatz als Opernplatz bekannt. Dort, im Zentrum von Berlin, wurden am 10. Mai 1933 Bücher verbrannt.

Von Sigrid Brinkmann | 09.12.2010
    "”Der Originaltitel meines Buches lautet "Vor dem Platz”, aber das Wort Platz hat im Hebräischen zwei Bedeutungen. Es verweist auch auf Gott. In der hellenistischen Zeit ließ man einen Buchstaben aus, wenn man Gottes Namen schrieb. Man hielt einen Platz frei. Gott wird mit der räumlichen Leere konnotiert, mit dem Nichts. Die leere unterirdische Bibliothek am Bebelplatz sieht im Winter wie ein Grab aus, wie eine Gaskammer. Man steht da und fragt sich: Wo war Gott während des Holocaust?”"

    In Chaim Be’ers Roman treffen passionierte Buchjäger, Gelehrte, Lektoren und Dichter aufeinander, um die sinnstiftende und lebensverändernde Kraft des Buches zu preisen. Fiktive Charaktere treiben die Handlung voran, doch erzählt Be’er in seinem Buch ebenso von Begegnungen mit real existierenden Personen wie der Mutter seiner Übersetzerin, dem Sohn eines Nazi-Offiziers und Charles Berlin, der in Harvard eine "Israeliana"-Bibliothek aufbaute. Hunderte von Zuträgern schickten Mitschnitte von Vorträgen, Buchkritiken, Einladungskarten, Filmposter und allerhand mehr nach Harvard, um das kulturelle Leben in Israel zu dokumentieren. Die Beantwortung der Frage, wozu dieser ungebremste, ungefilterte Sammelwahn diene, schockierte den Schriftsteller Be’er.

    "”Charles Berlin sagte: Eure Geschichte ist eine Kurzgeschichte, kein Roman. Israel ist für das jüdische Volk nur ein Zwischenstopp, eine Durchgangsstation, und ich fürchte, dass die Geschichte des jüdischen Staates ein Ende haben wird. Deshalb wollen wir für die weltweit verstreut lebenden Juden so etwas wie eine Sicherheitskopie anlegen, denn die Araber werden eines Tages alle Kulturzeugnisse zerstören. Meine anfängliche Begeisterung über die außergewöhnliche Sammlung wich dem Entsetzen, denn natürlich ängstigt mich der mögliche Untergang Israels. Und dann, Jahre später, kam ich nach Berlin, um im Literarischen Colloquium am Wannsee meinen Roman zu schreiben. Einen Monat hatte ich dort Unterkunft.""

    Chaim Be’er erzählt aus der Ich-Perspektive und entblößt sich mal als egozentrischer Nörgler, mal als Beobachter mit feinen Antennen für zwischenmenschliche Schwingungen. Die erotische Spannung, die sich zwischen den Hauptakteuren - jüdischen Buchliebhabern, einer deutschen Philologin und ihm selbst - aufbaut, kappt er jedoch regelmäßig durch das Ausbreiten enzyklopädischen Wissens. Das hemmt den Fluss des Romans erheblich.

    Dabei will man ergründen, welches Geheimnis seine Figuren antreibt. Wunden werden offengelegt, doch schnell wieder bedeckt. Da ist der reiche Unternehmer Sussman, der zum Gedenken an seine ertrunkene Tochter ein privates Wissenschaftskolleg gründet. Viel später erkennen wir, dass er ein autoritäres Familienoberhaupt ist und den Tod der Tochter mit verursacht hat. Die deutsche Sprachwissenschaftlerin hat ein heimliches Verhältnis mit Sussman und buhlt verführerisch um die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers. Warum will sie unbedingt ein Kind von einem Juden? Und warum schenkt die Lichtgestalt des Romans, der in seiner Kindheit aus Berlin vertriebene, kinderlos gebliebene Antiquar Schlomo Rappoport gerade dieser Frau am Ende seines Lebens sein Herz und seine Schätze?

    Man braucht Geduld beim Lesen dieses in Deutschland verfassten Werkes, das auf so viele Nebenschauplätze ausweicht. Belohnt wird, wer es liebt, Gedanken zu folgen, die von poetischen und biblischen Zitaten abgerundet werden. Be’er führt den Leser durch sein Berlin und nimmt ihn mit nach Tel Aviv, Jerusalem, Düsseldorf, Frankfurt und Worms. Für Menschen wie ihn, sagt der Autor, sei Deutschland der richtige Ort, denn schließlich sei der Philosoph Moses Mendelssohn der Vater aller nicht religiösen Juden. Aber auch die eigene Herkunft war Chaim Be’er beim Schreiben seines Romans "Bebelplatz" stets bewusst.

    "”Die Ursprünge unserer Familie liegen in Deutschland. Es gibt Spuren bis ins 10. Jahrhundert in Worms oder wie wir sagen: Wormaisa, wegen der Nähe der Gemeinden Worms, Speyer und Mainz. Unser Urahn wurde von Karl dem Großen aus Italien ins Rheinland geholt und wurde Rabbi in Worms. Dreihundert Jahre später bewegte sich die Familie gen Osten, und vor zweihundert Jahren zog sie nach Jerusalem. Es waren orthodoxe Juden. Sehr fanatisch. Mein Vater war in den späten zwanziger Jahren mit seinen Geschwistern und seiner Mutter aus Russland nach Palästina geflohen.

    Ich bin in einer der wenigen Familien groß geworden, in der man keine Holocaust-Opfer zu beklagen hatte. Während eines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten, wo ich erste Teile meines Romans schrieb, surfte ich nachts oft im Netz. Ich ging auf die Seite der Gedenkstätte Yad Vashem und entdeckte so, dass mehr als vierzig Mitglieder der Familie meines Vaters aus Wolhyn im Krieg gewaltsam umgekommen sind. Cousins zweiten und dritten Grades starben in der Ukraine unter der deutschen Besatzung.

    Vor zwei Jahren bin ich mit meiner Tochter in diese Gegend um Kiew, Tschernobyl und Ovrutsch gefahren. Wir haben nichts als Gräber und Gruben gefunden und hatten also wieder mit dem leeren Raum zu tun. Schatten dieser unterirdischen Gräber findet man in meinem Roman.""

    Chaim Be’er: "Bebelplatz". Roman
    Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
    352 Seiten, 24,90 Euro,
    Berlin Verlag, Berlin Oktober 2010