Samstag, 20. April 2024

Archiv

Fernando Aramburu: "Patria"
Das Schicksal einer ganzen Region

Nach gut 50 Jahren und Hunderten Opfern stellte die Separatistenorganisation ETA 2011 das Morden für ein unabhängiges Baskenland ein. Jetzt ist ein großes Epos des in Hannover lebenden Fernando Aramburu erschienen, das den gesamten Konflikt anhand von zwei Familien erzählt.

Von Peter Henning | 29.01.2018
    Buchcover Fernando Aramburu: Patria und Regenszene mit rotem Regenschirm
    Buchcover Fernando Aramburu: Patria und Regenszene mit rotem Regenschirm (Rowohlt Verlag / Jelina Berzkalns)
    Im November 2011 ging der mehr als fünf Jahrzehnte währende blutige Unabhängigkeitskampf der "Euskadi Ta Askatasuna", kurz ETA genannten baskisch-nationalistischen Untergrundorganisation zu Ende, indem deren Führer zunächst einen Waffenstillstand mit der spanischen Zentralregierung vereinbarten – und sich ein Jahr später zur Auflösung und Selbst-Entwaffnung bereit erklärten.
    Was blieb, war – ausgehend von dem ersten, im Juni 1960 verübten Mordanschlag – eine Bilanz des Schreckens: 4.000 Terror-Akte mit 864 Todesopfern. Bis zuletzt hatte die 1959 als Widerstandsbewegung gegen die Franco-Diktatur gegründete Separatistengruppe mit Waffengewalt für ein selbstbestimmtes, politisch souveränes "Euskal Herria" gekämpft – ein autonomes Baskenland. In der abschließenden Mitteilung der ETA, welche die baskische Zeitung "Gara" seinerzeit veröffentlichte, hieß es:
    "Die ETA hat entschieden, ihre bewaffnete Aktivität definitiv einzustellen. Im Baskenland beginnen nun neue politische Zeiten. Anstelle von Gewalt und Repressionen sollen Dialog und Einvernehmen den neuen Zyklus bestimmen."
    Die damalige spanische Zentralregierung verkündete daraufhin flugs den Sieg der Demokratie über den Terror – und der Traum zahlloser Basken von einem eigenen Staat wurde öffentlich zu Grabe getragen.
    Epos um zwei Familien, einst Freunde, später Feinde
    Sieben Jahre sind seither vergangen. Doch die Nachwehen des ganz Spanien jahrzehntelang mit immer neuen Terrorakten in Atem haltenden baskischen Befreiungskampfes sind bis heute spürbar – auch und vor allem in der spanischen Literatur. Hatten etwa der baskische Lyriker Bernardo Atxaga und das jahrelang inhaftierte Ex-ETA-Mitglied Joseba Sarrionandia in ihren Romanen 2006 und 2007 das Tabuthema des Verrats in der ETA und das Schicksal baskischer Flüchtlinge thematisiert, so gibt Fernando Aramburus nun auf deutsch erschienener Roman "Patria" endlich auch den Opfern dieses Terrors eine Stimme.
    Fünf Jahrzehnte lang gehörte das blutige Diktat der ETA für knapp zwei Millionen Basken ebenso zu ihrem Alltag und ihrem post-franquistischen Selbstverständnis wie ihre eigene Regionalsprache, das Euskara, das Rückschlagspiel Pelota oder das Fisch-Gericht Bacalao al Pil-Pil, bei dem Stockfisch mit einer speziellen, aus Gelatine zubereiteten Soße serviert wird.
    In seinem Roman zoomt sich der seit mehr als dreißig Jahren in Deutschland, in Hannover, lebende Baske Fernando Aramburu porentief an die Risse und Verwerfungen in den Seelen seiner Figuren heran, die er zum Gegenstand seines aus einhundert Einzelkapiteln montierten Erzähltableaus macht. Entrollt wird die wechselvolle Geschichte zweier, jahrzehntelang eng miteinander befreundeter baskischer Familien, welche schlagartig zu erbitterten Widersachern werden, als Txato, der eine Fabrik unweit von San Sebastian betreibt, Opfer eines Terroranschlags wird – und Mirens und Joxians Sohn Joxe Mari als erklärter Kämpfer für ein autonomes Baskenland im Untergrund lebt.
    "Ich muss es wissen, ich habe nicht mehr lange zu leben"
    Zwanzig Jahre später hat Bittori, inzwischen tödlich an Krebs erkrankt, nur noch den einen Wunsch: Sie will wissen, was damals geschah – und wer für den Tod ihres Mannes verantwortlich ist. Insgeheim hält sie Joxe Mari, der am Tag des Anschlags in der Nähe gesehen wurde, für den Mörder ihres Mannes.
    "Wenn ihr den Grabstein über uns deckt und ich mit dem Txato allein bin, will ich zum ihm sagen können: Der Idiot hat sich entschuldigt, jetzt können wir in Frieden ruhen."
    Als es Mirens nach einem Schlaganfall gelähmter Tochter Arantxa gelingt, ihren Vater Joxian dazu zu bringen, hinter dem Rücken seiner streng nationalistisch denkenden Frau wieder Kontakt mit Bittori aufzunehmen, brechen die jahrelang bestehenden Fronten auf. Denn genau darum geht es in Fernando Aramburus Roman: um die Frage, ob und wie – über alle erlittenen Schrecken hinweg – eine Aussöhnung mit denen möglich ist, die einst ihre Urheber waren. Für Bittori jedenfalls mit dem wieder begonnenen Dialog ein erster und vielleicht entscheidender Schritt getan:
    "Frage ihn das für mich! Frage Deinen Sohn das nächste Mal, wenn du ihn besuchst, ob er es war, der geschossen hat? Ich muss es wissen, bald, ich habe nicht mehr lange zu leben. Ich werde ihn auch nicht verraten. Und sag ihm, wenn er mich um Verzeihung bittet, vergebe ich ihm."
    Schriftsteller: "Ich wollte Antworten auf konkrete Fragen finden"
    "Patria" – zu deutsch: Heimat – spürt den geplatzten Träumen und Illusionen der vom Separatisten-Krieg Versehrten nach, indem es auch die Frage stellt, was Heimat ist – und wie man eine solche für sich definiert. Doch Aramburus Buch ist mehr als nur die erschütternde Chronik zahlreicher Verluste, nämlich auch eine große Erzählung über Familienbande, Freundschaft, Misstrauen und Entzweiung. Darin erinnert es an das vieladrige neapolitanische Romanwerk der Italienerin Elena Ferrante, in dessen Zentrum ebenfalls die Geschichte einer Frauenfreundschaft und ihr langsames Zerbrechen steht.
    Zuletzt meldet sich Aramburu selbst mittels eines erzählerischen Kunstgriffs zu Wort, indem er einen Schriftsteller auftreten lässt, der uns die Begründung dafür liefert, weshalb der Roman aus der Sicht seines Schöpfers geschrieben werden musste:
    "Es gibt Bücher, die wachsen in einem im Lauf der Jahre heran und warten auf den richtigen Moment ... Ich war ja ein baskischer Junge wie viele andere, die der Propaganda des Terrorismus und der auf ihr basierenden Doktrin ausgesetzt war ... Und so begann ich, gegen das Leid zu schreiben, das Menschen von anderen Menschen zugefügt wird ... Außerdem schrieb ich gegen Verbrechen, die eine politische Rechtfertigung suchen im Namen eines Vaterlands, in dem eine Handvoll Bewaffnete mit der schändlichen Hilfe eines Teils der Gesellschaft entscheidet, wer zu diesem Vaterland gehört und wer es zu verlassen hat ... Ich wollte Antworten auf konkrete Fragen finden."
    Von der oft verwirrenden Suche nach diesen Antworten, und den steinigen Wegen, die seine Figuren zurücklegen müssen, um sie zu bekommen, erzählt Fernando Aramburus packender Roman.
    Fernando Aramburu: "Patria"
    Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
    Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 760 Seiten, 25 Euro