Donnerstag, 25. April 2024

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Festival d'Avignon
Auftakt mit Seneca

Zwei verfeindete Brüder, unappetitliche Schandtaten und grausame Flüche sind die Ingredienzen von Senecas Stück "Thyeste". Thomas Jolly bringt die selten gespielte Rachegeschichte auf die Bühne. Eine Gewaltchronik der besonderen Art zum Auftakt des 72. Theaterfestivals im französischen Avignon

Von Eberhard Spreng | 07.07.2018
    THYESTE Text Seneque Traduction Florence Dupont direction Thomas Jolly artistic collaboration Alexandre Dain set design Thomas Jolly and Christelle Lefebvre music Clement Mirguet light Philippe Berthome and Antoine Travert costumes Sylvette Dequest make up Elodie Mansuy direction assistant Samy Zerrouki with Thomas Jolly and la maitrise populaire de l opera comique and la maitrise de l opera grand Avignon cour d honneur du palais des Papes 72e Festival Avignon 2018. THYESTE Texte de Seneque Traduction Florence Dupont mis en scene Thomas Jolly collaboration artistique Alexandre Dain scenographie Thomas Jolly et Christelle Lefebvre musique Clement Mirguet lumiere Philippe Berthome et Antoine Travert costumes Sylvette Dequest maquillage Elodie Mansuy assistanat a la mise en scene Samy Zerrouki Avec Thomas Jolly et la maitrise populaire de l opera comique et la maitrise de l opera grand Avignon cour d honneur du palais des Papes 72e Festival Avignon 2018.
    Regisseur Thomas Jolly spielt Atreus (Festival d’Avignon 2018/ Christophe Raynaud de Lage/ Hans Lucas)
    Ein raumfüllender Unheilssound, grelle Lichtbündel, die im Himmel zusammenlaufen, ein vom heftigen Wind zerzauster Bühnennebel. Mit diesen Showelementen taucht aus einer Versenkung in der Mitte der gewaltigen Papstpalastbühne eine grünlich schimmernde Fabelgestalt auf, die dem Publikum mit einer Schrifteinblendung an der hoch aufragenden Fassade des Baus aus dem 13. Jahrhundert als Tantalos vorgestellt wird. Der kommt geradewegs aus der Unterwelt, wohin ihn die Götter verbannt haben, nach einigen, zum Teil ziemlich unappetitlichen Schandtaten. Umringt wird er von einer Schar äußerst gruselig ausgeschmückter Kinderdarsteller: Weiße Gesichtsmasken unter schwarzen Perücken, mit roten Fäden, die aus Augen und Mundwinkeln baumeln: Böse Vorzeichen für de kommende blutige Taten. Zum Geist des Tantalos stößt dann eine üppig als Gruselmärchentante ausgestattete Megäre, eine Furie, die über die Familie der Atriden einen bösen Fluch ausstößt.
    "À chaque génération je veux des criminels bravant l’ordre divin des choses, sans cesse renaîtra le mal. La vengeance fera pulluler les crimes d’un seul et en sortira dix."
    Unsicherer König
    Eine jede Generation des Tantalos soll hinfort Verbrechen an der göttlichen Ordnung begehen. Nach der Exposition dieser bösen Geister ist es am Tantalos-Enkel Atreus, seine Rachetat am Bruder Thyestes auszusinnen, der ihn zuvor mit der eigenen Frau betrogen und bestohlen hatte, bevor er aus dem Königreich verbannt worden war. Regisseur Thomas Jolly spielt ihn selbst: Im gelben Anzug mit grüner Plastikglaskrone, in seinen Bewegungen immer wieder erstarrend, ein verunsicherter König, der von Angst getrieben scheint, dem unbeherrschbarsten aller Handlungsmotive. Vor zwei Jahren hatte er in der Rolle von Shakespeares Unrechtskönigs "Richard III" einen furiosen Theaterpunk gespielt, ein Bösewicht der Rhetorik, jetzt zeigt er den Atreus als Figur, die in Jämmerlichkeit beginnt und in fühllosem Sadismus endet.
    "Aller courage, achevez … l’avenir te regardera avec horreur. ll faut oser un crime sanglant, un crime contre l’humanité."
    Kluge Regieeinfälle
    Ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" fordert dieser Atreus von sich selbst; daraus wird, und hier folgt der Lateiner Seneca treu dem griechischen Vorbild, ein kosmisches Verbrechen, ein Verbrechen gegen eherne Regeln. Christen, die es noch nicht gab, würden sagen: ein Verbrechen gegen die Schöpfung. Die Sonne wendet sich vor Horror darüber, dass Atreus Thyestes Söhne opfert und ihr Fleisch dem Vater als Festmahl vorsetzt, aus ihrer Bahn und lässt die Erde in Dunkelheit versinken. Jolly bebildert das, indem er das kranke, fahle Licht eines großen, am entfernten Ostturm befestigten Filmscheinwerfers auf die Bühne fallen lässt, auf der sich die Kinder und Jugendlichen des ansonsten aus dem Off tönenden Chornachwuchses zweier Opernhäuser versammelt haben. Es ist auch ein stummer Moment schmuckloser Welthaltigkeit im theatralischen Mythengetöse. An regielichen klugen Einfällen in Bild und Ton mangelt es dem talentierten Regisseur nicht. Einmal ergießt sich, zum Geräusch einer Fliegenschar, ein Heer kleiner schwarzer Papierschmetterlinge aus einem hoch gelegenen Fenster; der heftige Mistral wirbelt sie herum im gesamten Ehrenhof. Eine gewaltige Hand liegt rechts, eine Tragödienmaske links auf der weiten Bühne. Fast unentwegt betont Musik den lyrischen Charakter der antiken Dichtung, bis zum Rap, der sich die Frage nach königlichen Tugenden stellt.
    "Un roi est-il inébranlable, inaccessible, invulnérable ..."
    Allegorische Seelenzustände
    Die Latinistin Florence Dupont hat Seneca äußerst schlank und fast schmucklos übersetzt und damit viel dafür getan, dass dieser dramatisch so unergiebige Stoff dem zeitgenössischen Verständnis und dem gewaltigen Papstpalastpublikum zugänglich gemacht wird. Denn hier treten anders, als in griechischen Tragödien, weniger Figuren auf, als allegorische Seelenzustände: die pure Trauer, die pure Wut.
    In der letzten Stunde sitzt Damien Avice als Thyestes an einer langen, blutbefleckten Tafel und brüllt sich tapfer durch die Klimax der Verzweiflung. Das Fleisch seiner Söhne verdaut er schlecht, ein gnadenloser Atreus wirft ihm deren Köpfe vor die Füße. Aber spätestens jetzt fragt man sich, ob dieses Kammertheater, dieses kleine Nachdenkstück, diese Blutparabel, Thomas Jollys Operninszenierung mit all ihrem Bildergedöns überhaupt verträgt. Dieser an einer Renaissance des Volkstheaters bastelnde junge Regiemeister leistet sich einfach, womöglich aus Angst vor der Herausforderung des Spielortes mit seinen über 2200 ausverkauften Plätzen einfach etwas zu viel an Bild und Ton und vertraut zuwenig auf die Imagination.