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Festival d'Avignon
Olivier Py befragt Spiritualität und Ideale

Pathos, Spielfreude und Spielwut, Bewegung - ein einziges gewaltiges Metapherngewitter bietet der Autor, Regisseur, Festivaldirektor und Fundamentalkatholik Olivier Py in Avignon auf. Am Ende seiner programmatischen Arbeit, der immer wieder auch selbstironischen Kolportage, ist das Theater neu erfunden, meint Eberhard Spreng.

Von Eberhard Spreng | 19.07.2014
    Eine Szene aus Olivier Pys Stück "Orlando ou l'impatience" auf dem Festival d'Avignon
    Eine Szene aus Olivier Pys Stück "Orlando ou l'impatience" auf dem Festival d'Avignon (AFP/Bertrand Langlois)
    "Das Nichts ist der Ort des Göttlichen", oder "Ich will ein Theater, das die Existenz Gottes beweist", oder "es reicht schon aufzutreten und die Welt ist ein andere". Überspannte Sprüche wie diese fallen allen Ernstes in Olivier Pys "Orlando ou l'impatience", in der ein Sohn seine Schauspielermutter unentwegt nach der Identität seines Vaters fragt.
    Die Bühne wird von Podesten und fahrbaren Treppen gebildet, die von Szene zu Szene immer wieder um einen zentralen Spielplatz herum kombiniert werden. Mal auch kreist dieser um die eigene Achse, wie ein Wirbel, der schnell auch alle Figuren erfasst. Immer wieder präsentiert Py in seinem brillant verkörperten Stück mögliche Antworten auf die zentrale Frage des jungen Protagonisten und damit als Karikatur, diverse Formen von Theater. Schnell wird aber auch klar, dass sich hinter seinem Fragen nach dem Vater eigentlich die Gottsuche versteckt, die ungeduldig nach letzten Begründungen forscht. Die Antworten der diversen potenziellen Väter bleiben immer nur Stückwerk, aber allen ist eins gemein: Das Theater ist die einzige Perspektive für jeden Sinnsucher.
    Pathos, Spielfreude und Spielwut, Bewegung, ein einziges gewaltiges Metapherngewitter bietet der Autor, Regisseur, Festivaldirektor und Fundamentalkatholik hier auf. Am Ende von Pys programmatischer Arbeit, der immer wieder auch selbstironischen Kolportage, ist das Theater neu erfunden und wer, so der Text am Ende, dort auftritt, die Angst im Bauch und weltanschaulich nackt und bloß, der wird der Gnade teilhaftig. Amen!
    Einen "Tempel des menschlichen Geistes" soll Howard Roark errichten in Ivo van Hoves technologisch ausladender Theaterfassung von Ayn Rands Roman "Fountainhead", der in Deutschland unter den Titeln "Der ewige Quell" beziehungsweise "Der Ursprung" erschien.
    Der flämische Regisseur lässt in ausgefeiten Videoprojektionen und mit melodramatischen Begleitmusiken die Welt eines genialischen aber erfolglosen Architekten aufleuchten, der sich herrschenden Moden und Denkweisen nicht unterwirft, eine sadomasochistische Liebesgeschichte erlebt und am Ende doch von einem zynischen Kapitalisten in seinem Künstlertum erkannt wird.
    Der Roman war die Bibel der politischen Rechten in den USA. Sein unterschwelliges Genie-Kult-Übermensch-Geschmäckle, hinter dem sich letztlich ein faschistoides Menschenbild verbirgt, wird auch Regisseur Ivo von Hove in seinem über vierstündigen Gesamtkunstwerk nicht los. Er kann nicht verhindern, dass im Kampf des einsamen Künstlers gegen die opportunistische Öffentlichkeit letztlich ein falscher Gegensatz konstruiert wird.
    Großtheater über Moral und Ideal
    Nach Pys und van Hoves weit in den Wertehimmel ausgreifendem Großtheater über Moral und Ideal konnte das Festival eine Position jenseits abendländischer Traditionen gut brauchen.
    Ein Tänzer starrt unentwegt in den schwarzen Nachthimmel über dem Papstpalast, er taumelt dabei mit weit durchgebogenem Körper über die Bühne. Ein hartes Spitzlicht zeichnet die Kontur eines Mannes vor einer schwarzen abweisenden Mauer, die die breite Bühne nach hinten begrenzt: die Menschheit, gefangen zwischen zwei Dunkelheiten. Ausgehend vom 100. Jahrestag des 1. Weltkriegs führt die szenische Meditation „I am" des von Samoa stammenden Choreografen Lemi Ponifasio von schamanistisch anmutender Beschwörung über zeremonielle Gruppenbilder in eine beklemmende Version der christlichen Kernallegorie: Auf der nunmehr schräg gestellten Mauer zappelt eine Christusgestalt in Todeszuckungen und wird dann mit rohen Eiern beworfen. Zuvor sahen wir vor einem fast durchgängig schwarz gekleideten Ensemble eine weiße Frauengestalt auf einem Stuhl: Zitate aus dem Kriegsdrama "Hamletmaschine" von Heiner Müller rezitiert sie, bevor ihr ein Gewehr in die Hand bedrückt wird, das Maul mit einer roten Rose gestopft und sie von jedem der anderen Akteure mit Blut bespuckt wird. Eine weiße Tulpe wirft jeder ihr hin. Ein Beerdigung als Hinrichtung. Zu einem tief grollenden Donner, es könnte ferner Schlachtenlärm sein, schichtet der Gründer der Lebens- und Theatergemeinschaft MAU Bild auf Bild. Jedes für sich mit suggestiver Kraft; aber rätselhaft in ihrer Abfolge. Zum Schluss rauscht in einer Videoprojektion ein riesiger Wasserfall über die gewaltige Fassade des Papstpalastes. Die Natur erobert die Artefakte der Menschheit zurück. Das islamische Glaubensbekenntnis im Stil des Gesangs der Muezzine kommt von Band. Das Publikum verlässt die Protz- und Trutzburg der Päpste verwirrt. War das eine Christusaustreibung? „I am" ist vorerst ein unerschlossenes künstlerisches Terrain, eine Terra Incognita im globalen Spektakelbetrieb.