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Festival "Theaterformen" in Braunschweig
Viel zu lernen, viel zu grübeln

Das Festival "Theaterformen" in Braunschweig will genau solche zeigen - Formen des Theaters, wie sich auf sehr unterschiedliche Weise ausprägen in den verschiedenen Regionen der Welt. Im Zentrum stehen in diesem Jahr Stücke aus China und Japan, Malaysia und Singapur, Thailand und Südkorea.

Von Michael Laages | 14.06.2016
    Eine asiatische Frau tanzt mit in die Luft gestreckten Armen in buntem Kostüm und mit bunter Perücke auf einer Bühne.
    Produktion "Miss Revolutionary Idol Berserker" von Toco Nikaido beim Festival Theaterformen in Braunschweig (Festival Theaterformen)
    Wer pünktlich eintrifft, hat schon viel verpasst - noch nie waren die kleinen Einführungsvorträge dermaßen wichtig; was den Fernen Osten generell betrifft, leben wir hierzulande auf der Insel der Ahnungslosen.
    Und wir staunen darum nicht schlecht, jeden Abend von Neuem.
    Etwa darüber, welche immense Bedeutung Baseball, die hier besungene sportliche Spezialität aus den USA, auch in Korea und Japan hat – Toshiki Okada, Autor und Regisseur aus Yokohama, erzählt davon im japanisch-koreanisch gemischten Doppel; und erklärt rudimentär die sehr sonderbaren Baseball-Regeln. Das "Abseits" im Fußball ist demgegenüber Kinderkram - und im Spiel zweier Mädchen und Jungen, einer von ihnen schon ein Crack, erwächst zudem ein Stück koreanisch-japanischer Geschichte.
    Die "Conversations" des Koreaners Kyung Sung Lee nehmen diese schmerzliche Geschichte von Kolonisierung, Unabhängigkeit und Diktatur derweil direkt ins Visier – jene alte Frau, Jahrgang 1941, die im Haus des Regisseurs sauber macht, wird zur Zeitzeugin, zur (so würde das bei "Rimini Protokoll" heißen) "Expertin" des Nachkriegslebens. Dabei putzt sie auch den Raum des Braunschweiger LOT-Theaters - "Zeit" an sich verläuft auch im Theater oft anders in Fernost.
    Viel Welt-Wissen - aber eher wenig faszinierendes Theater
    Als Zeit-Geschichte aber spielt sie immer mit - etwa in "Baling" aus Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur. Der Name der Stadt Baling steht für sogenannte "Friedensgespräche" zwischen der 1955, zwei Jahre vor der Unabhängigkeit neuen Regierung (und hinter ihnen den englischen Kolonialherren!) und der kommunistischen Guerilla, die unbeirrt im Urwald kämpft - aus England tönt dazu finsterste Propaganda herüber:
    Um Frieden geht’s hier nicht, nur um Unterwerfung der Guerilla - die Chin Peng, der Führer des Aufstands verweigert. Das Team um Mark Teh folgt dessen Spuren bis ins Exil – in einer informativen szenischen Recherche.
    Viel Information also, viel Welt-Wissen war bislang im Braunschweiger Angebot - aber eher wenig faszinierendes Theater. Und manchmal drängt sich schon die Frage auf, wozu all das gut sein soll vor heimischem Publikum; etwa die "Extreme Voices"-Show der Tokioter Regisseurin Toco Nikaido.
    Unter Regenhäuten sitzen wir im Saal, weil das gut drei Dutzend Köpfe starke Ensemble nicht nur lärmt und schreit zu discogerechten Choreografien, sondern uns auch mit Wasser, viel klebrigem Papier und Gemüse bewirft. Was ist das anderes als präpotenter Kinderkram, der selbst mit der Attitüde der Bosheit nur spielt - denn wir haben ja die Regenhäute und sind nie in Gefahr. Fake-Gezeter, sonst nichts, in jedem Fall fern von klugem Theater - nordkoreanische Militärparaden sind komischer.
    Sehr komisch wirkt für wenige Minuten auch "Hipster the King", die schräge Show von Thanapol Virulkhakul aus Bangkok.
    Zur alten Sowjet-Hymne posieren sechs Ensemble-Kräfte auf der Bühne. Sie tun nichts - und protestieren so (sagt jedenfalls der Text der Übertitel) gegen einen durchgeknallt-despotischen Regisseur, der ihnen Unerträgliches zumutete. Der Übertitel-Text informiert uns, dass diese statuenhaften "Führer"-Figuren alles, auch das Nichtstun jetzt, immer ganz selbstlos und nur für uns zelebrieren; weshalb wir ab und an recht penetrant genötigt werden, uns zum Beifall zu erheben. Und dann kommt wieder die Sowjet-Hymne - in diesem eher nervend-ironischen Anti-Theater-Spektakel.
    Es gibt viel zu Lernen und zu Grübeln
    Wirklich überzeugend geriet bislang nur "Ten thousand tigers", die aus Singapur angereiste Installation von Ho Tzu Nyen - in einer Art bühnenhohem Setzkasten klingen aus den unterschiedlichen Fächern Geschichten: von der Verwandlung des Menschen zum Tiger, wie sie in mythischen Riten fernöstlicher Dschungelwelten immer wieder beschworen wird. Auch ein legendärer Kommunistenführer der 20er Jahre verschwand so und ward nie mehr gesehen – die Bilder- und Tigerwelten werden derweil immer wieder kontrastiert mit Tonbändern, Mikrofonen, Radios und Abhörgeräten; denn der Parteiführer soll ja auch Mehrfach-Spion gewesen sein.
    Mittendrin singt’s aus dem Grammophon.
    Die Geschichte von den Tigern stiftet wie keine Produktion sonst in den ersten Tagen Verbindungen im Hinüber und Herüber mit fernöstlicher Ästhetik. Und je mehr wir uns bei einem europäischen Festival Näherungswerte des fremden Theaters zu unserem wünschen, desto mehr entdecken wir in uns selbst auch den Kolonialisten europäischer Vorfahren.
    Es gibt halt viel zu Lernen und zu Grübeln bei den "Theaterformen" in diesem Jahr - hoffentlich nicht zulasten des Theaters selbst.