Weltstadt Nagasaki

Trotz Atombombe weltoffen geblieben

Blick auf die Stadt Nagasaki, Japan
Blick vom Berg Inasa auf die japanische Stadt Nagasaki. © imago/Kyodo News
Von Jürgen Hanefeld · 30.07.2018
Der Massenmord am 9. August 1945 in Nagasaki mit einer US-Atombombe ist bis heute zu spüren. Trotzdem ist die Hafenstadt so weltoffen wie kaum ein anderer Ort in Japan. Dank seiner Geschichte mit europäischen Seefahrern und Legenden.
Brian Burke-Gaffney ist kanadischer Historiker und lebt seit Jahrzehnten mit seiner japanischen Frau in Nagasaki. Dort arbeitet er als Professor an der Universität und ehrenamtlich als Direktor des Glover-Garden, der mit zwei Millionen Besuchern pro Jahr wichtigsten Touristenattraktion der Stadt. Quasi im Nebenberuf ist er auch noch ein unverbesserlicher Legendenzerstörer. Andauernd müsse er seine Gäste enttäuschen, sagt er, weil in den Prospekten so viel Unsinn über Glover-Garden stehe.

Im Weltzeit-Podcast hören Sie alle Folgen unserer Reihe über Weltstädte mit einer besonderen Geschichte: Nagasaki, Alexandria, San Francisco und Ceuta.

Was also ist wahr an den Geschichten über die Europäer im Nagasaki des 19. Jahrhunderts? Zum Beispiel an der über Thomas Glover.
"Thomas Glover stammte aus Aberdeen in Schottland. Er kam 1859 nach Japan und gründete seine eigene Firma namens Glover & Co in Nagasaki. In den folgenden acht Jahren führte er in Japan verschiedene neue Technologien ein, Schiffbau zum Beispiel, Kohleabbau, und er war auch Mitbegründer der ersten japanischen Bierbrauerei 'Kirin'."
Glover hat also keineswegs das Bier nach Japan gebracht, das waren die Holländer. Er habe auch nichts mit japanischen Revolutionären zu tun gehabt, wie es in den Touristen-Prospekten steht. Schon gar nicht habe er sie in seinem Haus versteckt. Im Übrigen war er bei weitem nicht der einzige europäische Geschäftsmann damals in Nagasaki. Dutzende Kaufleute nutzten die Öffnung Japans gegenüber dem Westen, um reich zu werden.
Brian Burke-Gaffney, Direktor des Glover-Garden in Nagasaki.
Brian Burke-Gaffney, Direktor des Glover-Garden in Nagasaki.© Jürgen Hanefeld
Eine Legende lässt der Historiker Burke-Gaffney immerhin gelten: Es gebe eine - wenn auch verschlungene - Linie von Puccinis weltberühmter Oper "Madame Butterfly" zu der famosen Villa des Schotten.
"Wegen des einzigartigen Designs, halb westlich, halb japanisch, und dem wundervollen Blick über den Hafen von Nagasaki, haben sich die Amerikaner vorgestellt, wie Madame Butterfly auf die Rückkehr Pinkertons wartet. Sie gaben dem Haus den Spitznamen "Madame Butterfly-Haus". Das blieb haften."
Die todtraurige Geschichte um die mandeläugige Japanerin, die sich von einem ruchlosen Marineoffizier schwängern lässt und sich am Ende umbringt, ist frei erfunden. Das alltägliche Leben in Nagasaki sei anders gewesen, sagt Brian Burke Gaffney:
"Madame Butterfly ist ein erfundener Charakter. Aber wenn man die Geschichte dieser Region betrachtet, dann war Thomas Glover beileibe nicht der einzige, der mit einer Japanerin zusammenlebte. Viele wurden glücklich, hatten Kinder und Familien ihr ganzes Leben lang. Nagasaki hatte diese Atmosphäre einer romantischen Hafenstadt mit internationalem Flair, wo sich Leute aus verschiedenen Kulturkreisen trafen."

Kosmopolitische Tradition bis ins 16. Jahrhundert

Das ist bis heute so geblieben. Obwohl Nagasaki mit seinen gerade mal 420.000 Einwohnern für japanische Verhältnisse allenfalls eine kleine Großstadt ist, verströmt sie den Duft der großen, weiten Welt. An allen Haltestellen der ratternden Straßenbahn gibt es mehrsprachige Hinweise auf Attraktionen in Reichweite, auch die Ansagen in den Waggons sind nicht allein japanisch, sondern englisch, chinesisch und koreanisch. Nirgendwo sonst in Japan kommen Ausländer so leicht ohne einheimische Sprachkenntnisse zurecht. Eine kosmopolitische Tradition, die ins 16. Jahrhundert zurückreicht.
In den Straßenbahnen in Nagasaki sind die Ansagen auch auf Englisch, Chinesisch und Koreanisch. Ein Waggon hält gerade.
In den Straßenbahnen in Nagasaki sind die Ansagen auch auf Englisch, Chinesisch und Koreanisch.© Jürgen Hanefeld
Der von zahllosen Eilanden geschützte Hafen auf der südlichen Hauptinsel Kyushu war ursprünglich ein Fischerdorf gewesen. Bis es 1543 ein Schiff aus der portugiesischen Kolonie Malakka im heutigen Malaysia hierher verschlug. Dies gilt als erster Kontakt zwischen Europa und Japan. Der Handel kam schnell in Gang. Das in einer tief eingeschnittenen Bucht windgeschützt liegende Nagasaki wurde schnell zum Ziel der portugiesischen Karacken, den riesigen Dreimastern. Die Kaufleute lieferten die ersten Schusswaffen nach Japan, die Jesuiten den katholischen Glauben, die Japaner Silber. Etliche Lokalfürsten konvertierten zum Christentum.
Die Oura-Kirche in Nagasaki ist die älteste Kirche Japans
Die Oura-Kirche in Nagasaki ist die älteste Kirche Japans.© picture-alliance / dpa / Kohei Chibahara
Einige portugiesische Produkte, die über Nagasaki importiert wurden, gibt es heute noch als japanische Spezialität. Castella-Kuchen zum Beispiel und Tempura, frittiertes Gemüse. Auch Knöpfe, Kartenspiele, bestimmte Stoffe und Kleidungsstücke, vor allem aber Tabak und Chinin, die portugiesische Schiffe aus Brasilien mitbrachten, wurden Teil der japanischen Alltagskultur. Binnen weniger Jahre gründeten die Jesuiten in Nagasaki Kirchen und Pflegeheime und übernahmen die Verwaltung.
Doch den Militärherrschern Japans behagte nicht, was sich im Süden des Reiches abspielte. Ende des 16. Jahrhunderts wurden alle Missionare ausgewiesen. An der Oura-Kirche, der ältesten Japans, erzählt der Priester Kiyomi Mooroka die Episode aus dem Jahr 1597, als wäre er dabei gewesen.
"Unter dem Shogunat Hideyoshi wurden 26 Christen in Osaka und Kyoto festgenommen und nach Nagasaki verschleppt, 20 Japaner und sechs Ausländer. Durch halb Japan wurden sie getrieben um zu zeigen, was Leuten geschieht, die sich zum Christentum bekennen. Auf diesem Hügel namens Nishizaka wurden die 26 Männer an Pfähle gebunden und verbrannt. Im Hafen lagen portugiesische Schiffe, die mit ihren Signalhörnern die Zeremonie begleitet haben."
Die Legende vom Tod der 26 Männer - der jüngste zwölf, der älteste 64 - ist ein fester Bestandteil des Katholizismus in Japan. Sie wurden im 19. Jahrhundert sogar zu Heiligen erklärt. Doch außer in Nagasaki hat sich die fremde Religion nie durchsetzen können. Und selbst hier blieben die Christen in der Minderheit. Das 250 Jahre geltende Verbot war nachhaltig. Nur 10 Prozent der Stadtbevölkerung - rund 40.000 - sind heute Katholiken, Protestanten gibt es kaum.
Der Besuch der Sonntagsmesse in der Nakamachi-Kirche ist ein Erlebnis. Die vielleicht 250 Gläubigen, zwei Drittel von ihnen sind Frauen, sitzen auf der rechten Seite und tragen weiße Spitzenschleier. Auf der linken Seite die Männer. Alle haben nach japanischer Sitte die Schuhe an der Kirchentür stehen lassen.
Sonntagsmesse in der Nakamachi-Kirche.
Sonntagsmesse in der Nakamachi-Kirche.© Jürgen Hanefeld
Die Verfolgung der Christen hat eine Sekte entstehen lassen, die zumindest ein Kuriosum darstellt. Nur hier, in und um Nasasaki, gibt es sogenannte "verborgene Christen".

Nur "verborgene Christen" sind richtige Christen?

Shigenori Murakami ist ihr Vorbeter. Der 67-jährige verrichtet den Sermon auf einem Berg über dem Meer, und es klingt wie ein buddhistischer Singsang, eine Sutra. Nur wer genau hinhört, erkennt christliche Inhalte. "Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen." Das sei Teil der Camouflage, sagt der "Verborgene Christ", nur so hätten sie seit dem 17. Jahrhundert überleben können. Unten in der Stadt poltert der sonst so freundliche Erzbischof von Nagasaki, Joseph Mitsuaki Takami, etwas ungehalten.
"Die Nachkommen der 'Verborgenen Christen' behaupten, dass nur sie richtige Katholiken sind und die katholische Kirche von heute eine ganz andere und sogar eine falsche Religion ist. So was sagen sie tatsächlich. Das ist doch völlig irre! Es gibt auf der Welt Hunderte Millionen katholische Gläubige. Sie sind vielleicht noch ein paar Hundert. Trotzdem behaupten sie, dass sie die wahren Katholiken sind."
Der Stammbaum des Erzbischofs reicht zurück bis zu den ersten japanischen Christen. Vielleicht ist er deshalb so verärgert, wenn er und seine Vorfahren als Abweichler von der reinen Lehre bezeichnet werden.
"Die meisten Christen haben sich damals entschieden, oberflächlich zum Buddhismus zu wechseln. Das bedeutete, sie mussten vor Beamten des Shoguns auf Tonplatten treten, auf denen christliche Symbole eingeritzt waren. Aber zu Hause haben sie Gott sofort um Vergebung gebeten."
Als das Verbot ab Mitte des 19. Jahrhundert gelockert wurde, bekannten sich die meisten "Verborgenen Christen" zur Römisch-Katholischen Kirche. Nur eine kleine Zahl blieb den überlieferten Ritualen treu. Heute ist Nagasaki der Sitz des höchsten katholischen Geistlichen in Japan. Erzbischof Takami ist ein entschiedener Gegner der Regierung in Tokio, die dabei ist, das Land aufzurüsten.
"Ich bin gegen Krieg. Es gibt keinen Krieg, der notwendig ist. Das ist meine Überzeugung. Die USA, die ein Staat aus Christen sind, haben zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen. Das waren nichts anderes als Menschenversuche. Ich kann gar nicht verstehen, warum Menschen anderen Menschen solche Grausamkeiten antun können."

"Meine Großmutter starb an den Folgen der Atombombe"

Das ist nicht nur eine akademische Haltung. Takami ist selbst ein Opfer der Atombombe, die Nagasaki am 9. August 1945 zerstörte.
"Ich bin ein Embryo-Hibaksha. Meine Mutter war im 3. Monat schwanger, als die Bombe fiel. Sie arbeitete gerade auf einem Reisfeld vier Kilometer entfernt. Ein Blitz sei aus dem Himmel gekommen, der sie einfach umgeworfen habe, hat sie erzählt. Ihre beiden Schwestern in der Stadt waren sofort tot. Und meine Großmutter starb sechs Tage später unter entsetzlichen Qualen."
Bild des Atompilzes vom 9. August 1945 in der Stadt Nagasaki
Am 9. August 1945 warfen die USA eine Atombombe auf Nagasaki.© Nagasaki Atomic Bomb Museum
Es ist leicht auszurechnen, wer in Nagasaki noch als Zeitzeuge in Betracht kommt. Der Priester Shigemi Fukabori zum Beispiel, der die Bombe als 14-jähriger überlebt hat.
"Meine ganze Familie kam ums Leben. Fünf Geschwister und meine Mutter. Nur mein Vater und ich haben überlebt, weil wir nicht zu Hause waren. Ich arbeitete auf der Mitsubishi-Werft, da wurden Kriegsschiffe gebaut 4,3 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Bei uns flogen nur die Dächer weg. Sonst habe ich nichts abbekommen."
Fukabori hütet ein besonderes Fundstück, den verbrannten Kopf einer Madonna, der in einer Seitenkapelle der Urakami-Kathedrale aufgestellt ist. Nachdem die ursprüngliche Kirche beim Atom-Angriff völlig zerstört worden war, galt auch die wertvolle Marienfigur als verschollen.
"Aber im Oktober 1945 fand ein heimkehrender Soldat im Schutt der Kirche den Kopf. Entsetzlich ramponiert, mit leeren Augenhöhlen. Ursprünglich stammt die Figur aus Italien. Sie war uns zur Weihe der Kirche geschenkt worden."
Um seine Friedensbotschaft zu unterstreichen, nimmt Erzbischof Takami den misshandelten Madonnenkopf auf jede Auslandsreise mit.
"Schrecklich. Es ist unglaublich. Dass man hier noch sehen kann, wie die Bombe die Menschen getötet hat. Davon bin ich total beeindruckt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Grausamkeit macht mich sprachlos."

Museum über Atombomben-Abwurf

Schockiert stehen die Kinder vor den Vitrinen im Atombombenmuseum. Der Besuch sei Pflicht, meint Direktor Akitoshi Nakamura.
"Am 9. August um 11 Uhr 02 wurde die Atombombe hier auf Nagasaki geworfen. Um das Ausmaß der Katastrophe zu zeigen, haben wir dieses Museum gebaut, ganz in der Nähe des Epizentrums. Es liegt unterirdisch. Auf dieser schneckenförmigen Rampe steigen die Besucher hinab in das Jahr 1945."
"Wenn die Besucher hier unten ankommen, sehen sie als erstes diese verbeulte Wanduhr. Sie ist um 11.02 Uhr stehengeblieben. Gegenüber steht das Motto unseres Museums in zehn Sprachen."
Auf Deutsch heißt es: "Nagasaki muss die letzte Stadt bleiben, die eine Atombombe erlebt hat."
Bundespräsident Joachim Gauck besichtigt am 18.11.2016 in Nagasaki in Japan das Atombombenmuseum. Das deutsche Staatsoberhaupt hält sich zu einem fünftägigen Besuch in Japan auf.
2016 besuchte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck das Atombomben-Museum in Nagasaki.© picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
Die Ausstellung ist nicht groß, aber erschütternd: Lebensgroße Fotos zeigen zerfetzte Körper, Menschen, deren Haut bei lebendigem Leibe schmilzt. Im Original verbrannte Kleidung, eine geschmolzene Leiter, ein geborstener Wassertank, Stahl und Glas - von der unglaublichen Hitze in bizarre Formen gepresst.
"Gemessen an der Energie, war die Bombe auf Nagasaki stärker als die von Hiroshima. 1,5 mal mehr. Die Amerikaner wollten eigentlich die Altstadt treffen. Aber dort war es bewölkt. Sie sind dann drei Kilometer weiter geflogen in ein nicht so dicht besiedeltes Gebiet, das von beiden Seiten von Bergflanken geschützt ist. Deswegen war die Zahl der Opfer geringer als in Hiroshima."
Von den damals etwa 250.000 Einwohnern Nagasakis kamen 70.000 sofort oder binnen weniger Tage ums Leben, unter ihnen eine große Zahl koreanischer Zwangsarbeiter, aber nur 250 japanische Soldaten. In der benachbarten Gedenkhalle plätschert Wasser. Das war das, was den verbrannten Opfern am dringendsten fehlte. Hier wird täglich Bilanz gezogen. 176.000 Tote seit damals, und täglich kommen welche dazu.
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