Donnerstag, 28. März 2024

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Streitkultur in Deutschland
"Es gibt eine Asymmetrie zwischen links und rechts"

Deutschland diskutiert nicht erst seit der Tellkamp-Debatte über Rechtspopulismus, Meinungsfreiheit und Sprache. Nicht immer verlaufen diese Debatten sachlich. Haben die Deutschen das Streiten verlernt? Nein, sagte "Zeit"-Autor Ulrich Greiner im Dlf. Er sieht den Grund für heutige Diskussionskultur in Deutschlands Geschichte.

Ulrich Greiner im Gespräch mit Katja Lückert | 22.03.2018
    Verkehrsschilder, die nur nach links oder nach rechts weisen. Eine gemeinsame Sprache scheint in vielen Streitpunkten zu fehlen.
    Links und rechts finden auch in den Debatten keine Schnittmenge (imago / blickwinkel)
    Katja Lückert: In der vergangenen Woche wurde im Netz eine bürgerliche Solidaritätsbekundung unter dem Titel "Erklärung 2018" veröffentlicht, die aus folgenden zwei Sätzen besteht:
    "Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird."
    Die heute erscheinende Wochenzeitung "Die Zeit" bringt heute ein ganzes Dossier zum Thema: Was ist heute konservativ? Und sie zeigt im Feuilleton Fotos von einigen prominenten Unterzeichnern dieser Erklärung. Unter ihnen der Schriftsteller Rüdiger Safranski, der Publizist Henryk Broder und die ehemalige Bürgerrechtlerin und CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld. An den Literaturkritiker und ehemaligen Feuilletonchef der "Zeit" Ulrich Greiner ging heute Nachmittag die Frage: Sie schreiben, die schärfste Waffe im Streit der Meinungen ist der Vorwurf, rechts zu sein. Und: Rechts sei all das, was diejenigen, die auf der richtigen Seite stehen wollen, nicht sind. Ulrich Greiner, haben wir das Streiten verlernt?
    Asymmetrie zwischen links und rechts
    Ulrich Greiner: Nee, wir haben das Streiten nicht verlernt. Aber es gibt natürlich eine gewisse Asymmetrie zwischen links und rechts, und das ist auch leicht zu verstehen. Das hat natürlich mit der deutschen Geschichte zu tun. Aber es gibt eigentlich in jeder Demokratie Linke und Rechte und Liberale und Konservative und so fort, und die sind sich nicht grün und nicht angenehm, aber die gehören eigentlich alle dazu. Und das ist eigentlich in Deutschland nicht der Fall. Die Rechten werden dann immer gleich mit dem Nazi-Vorwurf konfrontiert, und das ist natürlich der ärgste Vorwurf, den man erheben kann.
    Lückert: Haben wir eigentlich eine Möglichkeit, uns auf eine gemeinsame Einschätzung unserer Wirklichkeit zu einigen? Und solange wir das nicht können, können wir überhaupt handeln?
    Greiner: Nee. Wir müssen uns ja nicht einigen. Jeder sieht die Wirklichkeit ja ein bisschen anders und wenn wir diese wirklich heikle Frage der Flüchtlingspolitik nehmen, dann gibt es natürlich ganz verschiedene Ansichten dazu. Und man kann ja auch sehen, dass innerhalb relativ kurzer Zeit, eben seit dem September 2015, die Ansichten bestimmter Medien und auch bestimmter Personen sich doch modifiziert haben. Das ist also normal. Wir müssen uns nicht einigen. Wir beide, die wir jetzt gerade miteinander sprechen, wir müssen nicht dasselbe denken über Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Was wir allerdings müssen, uns auf eine vernünftige Weise darüber verständigen, auseinandersetzen, streiten.
    Lückert: Aber es gibt immer diese Platzverweise. Und warum diese Distanzierungen?
    Greiner: Na ja, das ist natürlich erst mal bequem. Ich meine, wir neigen alle zur Bequemlichkeit. Und wenn ich etwas, was mein Gegner sagt, nicht leiden kann, weil ich mir das irgendwie ganz zutiefst widerstrebt, dann ist es natürlich anstrengend, jetzt argumentativ was dagegen zu setzen, und es ist viel einfacher zu sagen, der redet ja wie die AfD und damit ist der Fall erledigt.
    Lückert: Der Schriftsteller Rüdiger Safranski hat gerade im Spiegel gesagt, für manche ist das Reden vom "Volk" bereits unanständig – wir finden keine gemeinsame Sprache, viele sagen immer etwas in Klammern, von dem sie dann gleich mit sagen, dass sie es eigentlich nicht sagen darf. Das hat sich auch eingebürgert?
    Greiner: Ja, das ist schrecklich. Es ist natürlich so: Auch wenn man schreibt, ist man natürlich immer in Versuchung, gewissermaßen Anführungszeichen zu setzen, und das ist natürlich eine heikle Form. Was soll das eigentlich bedeuten? – Und wenn wir reden, ist es natürlich sehr schwierig. Da muss man schon eine gute Schauspielausbildung haben, um Anführungszeichen gewissermaßen mit sprechen zu können. Das ist natürlich bei solchen Begriffen wie "Volk" und "Heimat" und "Familie" und "Mutterschaft" und so, die sind kontaminiert. Aber das sollte man eigentlich nicht erlauben. Man sollte nicht erlauben, dass die Nazis noch 70, 80 Jahre danach so eine Macht über unsere Sprache haben. Man kann nicht alle Begriffe wieder reinigen. Das ist mir schon klar. Aber der Begriff "Volk" ist ja unverdächtig. Erstens steht er im Grundgesetz und zweitens haben wirklich Leute, auf die wir heute noch stolz sind, damals gerufen, wir sind ein Volk, und das war das Ende der DDR.
    An der Flüchtlingskrise scheiden sich die Geister
    Lückert: Sogar die Kanzlerin hat gestern in ihrer Regierungserklärung Fehler eingeräumt. Haben Sie den Eindruck, dass viele Menschen das Bedürfnis haben, noch mal zurückzublicken auf das Jahr 2015 folgende, auf die Frage, hätte sich die Geschichte anders entwickeln können, wenn die Politik andere Entscheidungen getroffen hätte?
    Greiner: Na ja, das wird ja pausenlos gemacht. Ich meine, mit jedem Terroranschlag, mit jedem missglückten Beispiel von Integration bis hin zu dieser ja auch merkwürdigen Debatte über die Essener Tafel kommt natürlich der Blick zurück auf 2015. Das ist aber eigentlich nur begrenzt hilfreich, weil was man da machen würde, wäre sozusagen eine kontrafaktische Geschichtsschreibung. Es ist ja nun passiert. Und ob Frau Merkel es anders machen hätte sollen – ich meine, was hilft uns das jetzt noch mal alles. Ich meine, man weiß, das ist halt passiert.
    Lückert: Es lässt sich ja endlos darüber streiten, das sagen Sie, wo die meisten Antidemokraten sitzen, in der linken oder in der rechten Ecke. Zwölf Publizisten, die die sogenannte Erklärung 2018 unterschrieben haben, zeigen Sie heute mit Foto im Feuilleton. Warum?
    Greiner: Ja nun. Es ist übrigens auch heute in der Konferenz darüber kontrovers diskutiert worden. Einige Kollegen sagten, warum zeigt ihr denn diese Leute, ihr macht sie ja dadurch nur hoffähig. Und andere sagten, nein, warum sollen wir die Leute nicht zeigen, das ist sozusagen ein privater Kreis von interessanten Zeitgenossen, die sich in Berlin da in einem Salon treffen und diskutieren – die muss man doch zeigen, man muss doch wissen, wie die aussehen. Und die sind ja auch extrem verschieden, von Rüdiger Safranski, den ich selber sehr schätze und auch kenne, bis hin zu anderen, die ich eigentlich gar nicht kenne und bei denen ich eher ein bisschen skeptisch bin. Aber das bedeutet ja nicht, wenn man die zeigt und wenn man referiert, was in der Ausgabe passiert ist. Was die denken und worüber die sprechen, bedeutet ja nicht, dass man sich mit denen identifiziert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.