Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Festtage
"Ausgerechnet an Weihnachten!"

Terror, Trauer, Trotz - wie passt das zum Versprechen von Frieden und Liebe? Der Freiburger Theologe Stephan Wahle hat die Kulturgeschichte von Weihnachten erforscht. "Weihnachten ist ein Aufbruch gegen das Tabu in der Gesellschaft, dass man eigentlich sich gar nicht mehr so richtig freuen kann", sagte er in DLF.

Stephan Wahle im Gespräch mit Christiane Florin | 23.12.2016
    PD Dr. Stephan Wahle
    PD Dr. Stephan Wahle (Thomas Kunz/Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
    Christiane Florin: Ist Weihnachten ein frohes Fest?
    Stephan Wahle: Die biblische Botschaft von Weihnachten ist ausgehend von der Engelsbotschaft ein freudiges Ereignis: "Fürchtet euch nicht, freuet euch, der Heiland ist geboren". Die Worte der Engel geben eigentlich schon mit: Von diesem Ereignis, von dieser Geburt geht etwas ganz Neues, etwas Freudiges, etwas Erfrischendes auch aus. Im Laufe der Zeit hat man dieses biblische Motiv auch immer wieder aufgegriffen in vielen Kirchenliedern - Freuet euch", "Lebet auf" oder "Tochter Zion, freue dich" - im Grunde genommen ist Weihnachten ein Fest der Freude.
    Florin: Nun haben wir in den letzten Tagen öfter gehört: "Ein Anschlag, ausgerechnet auf einen Weihnachtsmarkt". Was meint dieses "ausgerechnet"? Was wird da getroffen?
    Wahle: Weihnachten und der Weihnachtsmarkt, beides sind natürlich auch Symbole. Und wenn dann gerade ein Weihnachtsmarkt oder wenn dann damit auch das Weihnachtsfest getroffen wird, zeigt das natürlich auch nochmal einen Impuls an, dass hier jetzt nicht nur etwas Zufälliges geschehen ist, sondern damit auch ein Anschlag verübt wird auf die Grundfesten, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut. Und deshalb glaube ich schon, ist das jetzt hier eine ganz, ganz sensible Situation, dass ausgerechnet an Weihnachten und ausgerechnet an einem Ort, wo Menschen zusammenkommen, auch dieser Freude oder dieser Sehnsucht nachspüren wollen, dass es etwas mehr gibt als nur das Alltägliche, das gerade dort ein solcher Anschlag verübt wurde.
    "Heile-Welt-Stimmung ist nicht nur negativ zu sehen"
    Florin: Sie sprachen gerade von "den Grundfesten unserer Gesellschaft". Es geht also um mehr als um die Heile-Welt-Stimmung oder sogar die Partystimmung, die Weihnachtsmärkten gerade von besonders christlichen Vertretern gern unterstellt wird?
    Wahle: Natürlich gehört zu Weihnachten die Sehnsucht nach einer besseren, nach einer heilen, nach einer ruhigen, nach einer besinnlichen Welt. Weihnachten ist in Deutschland oder in unserer Region hier eine relativ ruhige und stille Zeit. Zumindest wünscht man sich das. Viele Weihnachtsmärkte zeigen zwar vielleicht genau das Gegenteil, aber ich würde doch noch mal unterscheiden: Der Weihnachtsmarkt und überhaupt die Feste, sie sind nicht zu vergleichen mit anderen großen Volksfesten, wo in der Tat irgendwie nur das Happening im Mittelpunkt steht. Das Weihnachtsfest deutet doch darauf hin, dass man auf der Suche ist, dass man auch nach mehr suchen möchte, dass man dies auch irgendwo finden will, dass man sich nicht zufrieden gibt mit dem Alltäglichen, mit dem Leidvollen. Weihnachten ist vielleicht ein Aufbruch gegen das Tabu in der Gesellschaft, dass man sich eigentlich gar nicht mehr so richtig freuen kann, freuen darf, weil es eben mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit gibt. Von daher: Heile-Welt-Stimmung, das ist nicht unbedingt immer nur rein negativ zu sehen.
    Florin: Jetzt wird oft gesagt: 'Wir bleiben trotzig die, die wir sind. Wir sind der Westen, wir lassen uns das nicht zerstören. Wir lassen uns das nicht kaputtmachen.' Kann man eigentlich trotzig Weihnachten feiern, um die westliche Kultur zu behaupten?
    Wahle: Also, ich glaube, es wäre nicht gut zu sagen: Wir feiern Weihnachten, um irgendwie etwas behaupten zu wollen.
    Florin: Aber das wird ja gesagt im Moment.
    Fürchtet euch nicht - eine hohle Formel?
    Wahle: Es wird gesagt, ja. Das finde ich aber dann kritisch, wenn man dieses Fest wieder verzweckt oder ideologisch missbraucht. Wenn man so in dieser Form Weihnachten noch weiterhin feiern will, hat man die religiöse, die biblische Botschaft verkannt. Die geht nämlich nicht dahin, dass man den anderen als den vermeintlich Schwächeren oder den Unwissenden oder den Ungläubigen brandmarkt. Weihnachten ist von der Botschaft her ein Fest, das auch an alle verkündet werden soll, nämlich diese Überzeugung, dass innerhalb dieser Welt, dieser eine Gott Mensch geworden ist und auch ein Leben will, ein Leben in dieser Zeit würdigt und auch den Menschen damit unendlich würdigt.
    Florin: Dieses "Fürchtet euch nicht", das in der Bibel sehr häufig vorkommt, wird das nicht jetzt ein bisschen hohl, angesichts der Tatsache, dass gerade nach diesem ganzen Jahr so viele Menschen Angst haben?
    Wahle: Es gab ja auch in der Geschichte immer ganz große Leidensereignisse und trotzdem wurde dann halt dieses Fest gefeiert oder diese Botschaft verkündet. Natürlich muss man auch die Frage stellen: Warum lässt Gott so etwas zu? Oder ist das überhaupt noch glaubwürdig, was man dort verkündet? "Fürchtet euch nicht" - kann man das überhaupt so leben? Man kann aber auch die andere Frage herumstellen: Was wäre, wenn man in der Tat nur von Furcht geprägt oder von Sorge geprägt das Leben führt und zwar immer, von Geburt bis zum eigenen Tod hin?
    Florin: Steckt in der Krippe auch das Kreuz?
    Wahle: Selbstverständlich. Wir haben das zwar häufig vergessen, aber wenn man in die Liturgie hineinschaut, wenn man auch in die Theologie hineinschaut, Weihnachten ist entstanden aus dem Osterfest heraus. In den ersten Jahrhunderten gab es noch gar kein eigenes Geburtsfest Jesu Christi, sondern nur das eine große Fest von Ostern, in das auch die Menschwerdung hineingelegt war. Und im 4. Jahrhundert hat sich ein eigenständiges Geburtsfest herausgebildet, am 25. Dezember. Aber man hat lange Zeit immer noch bewahrt: Denjenigen, den ihr da feiert, der wird auch einst einen Tod sterben am Kreuz, der ist jetzt auch schon als ein Krippenkind da, welches verweist auf sein Sterben. Es gibt dann beispielsweise Gesänge: "Puer natus est", ein sehr bekannter Gesang, "ein Kind ist uns geboren". Wenn man ganz genau hinhört "puer", das ist nicht nur das kleine, hilflose Kind, sondern das ist vielleicht sogar auch der Knecht, der einst sterben wird. Von daher, unmittelbar zur Feier von Weihnachten gehört eigentlich Leiden, Tod und Auferstehung mit hinzu. Und von daher werden uns auch in einem Lied wie "Stille Nacht" etwa, eine Strophe überliefert, die singen wir zwar sehr selten, aber da ist gerade nämlich sogar auch vom Kreuz die Rede.
    "Man erlebt die Brüche im Leben noch mal intensiv und neu"
    Florin: Feiern wir wirklich Christus oder feiern wir uns Weihnachten selbst?
    Wahle: Ich glaube nicht, dass der Mensch nur sich selbst feiert an Weihnachten. Ob die meisten Menschen mit einem religiösen Bekenntnis dies tun, sei dahingestellt. An die Stelle des Bekenntnisses, so wird häufig gesagt, ist die Stimmung, die Emotion getreten oder eine gewisse Ahnung oder Sehnsucht. Aber ich glaube nicht unbedingt, dass der Mensch nur um sich selbst kreist. Weihnachten bietet schon die Gelegenheit, nochmal zu schauen, wie stehe ich jetzt gerade hier in dieser Zeit. Man erlebt zumindest auch Brüche im Leben nochmal ganz intensiv und neu. Aber dabei bleibt es nicht, es bleibt nicht nur bei einer Selbstreflektion, sondern dies wird auch geteilt mit anderen Menschen. In wieweit darin dann das Krippenkind oder sogar der Gottessohn noch aufscheint, das ist eine sehr große Vielfalt natürlich geworden in unserer auch säkularen Gesellschaft, in der das Heilige oder das Religiöse vielleicht irgendwie noch gespürt wird, aber nicht unbedingt als Bekenntnis noch geteilt wird.
    Florin: Es gibt Versuche der Kirchen, Weihnachten zu re-christianisieren. Da wird zum Beispiel darauf geachtet, dass keine Weihnachtsmänner verteilt werden, also die mit der Zipfelmütze, sondern Schoko-Nikoläuse mit Bischofsmütze. Es gab vor Jahren mal den Spruch eines Elektronik-Diskounters "Weihnachten wird unterm Baum entschieden". Da haben Kirchenvertreter dagegengehalten: "Nein, Weihnachten wird in der Krippe entschieden". Was halten Sie von solchen Streitereien ums Prinzip - ausgerechnet an Weihnachten?
    "Moralische Predigten an Heiligabend helfen nicht"
    Wahle: Protestaktionen als solches helfen, glaube ich, kaum. Wir müssen schauen als Kirchen oder als Theologen, inwieweit wir in dieser Weihnachtskultur unsere Botschaft verkünden können. Da helfen keine moralischen Predigten an Heiligabend, da helfen auch nicht unbedingt groß angelegt Werbestrategien seitens der Kirche. Sondern wir sollten unsere Aufgabe, gerade auch die Weihnachtsgottesdienste zu feiern, einfach gut machen und glaubwürdig und auch wieder Glaubwürdigkeit zurückerobern meinetwegen.
    Florin: Wenn ein Pfarrer, eine Pfarrerin die Weihnachtspredigt schon vor einer Woche geschrieben hat, vor dem Anschlag in Berlin, sollte er, sollte sie diese Predigt jetzt umschreiben?
    Wahle: Ich würde schon versuchen, vielleicht etwas hinzuzufügen, zu den Überlegungen, die man schon angestellt hat. Denn sind sie sensibel gewesen, auch für eine Verkündigung der Weihnachtsbotschaft in heutiger Zeit, dann würde auch nochmal so ein aktueller Anlass gut dahineinpassen. Waren sie im Vorfeld auch nicht sensibel oder war es eine Predigt, die man vor zehn Jahren mal verfasst hat, dann funktioniert das natürlich überhaupt nicht.
    Florin: Erinnert eine gute Weihnachtspredigt an unsere Verletzbarkeit?
    Wahle: Ja. Wenn wir also zum Beispiel beten: Gott, du hast den Menschen wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert, dann wird hineingenommen in das Geheimnis der Menschwerdung das ganze menschliche Leben. Dazu gehört die Verletzbarkeit, da gehört natürlich auch nochmal der vielleicht allzu frühe Tod von vielen Menschen hinzu, der ausgesprochen werden soll. Wo nicht vielleicht unbedingt sofort ein Sinn oder eine Antwort gegeben werden muss, weil es auf viele Fragen eben auch keine eindeutige Antwort gibt.
    "Die Klage über Weihnachten ist so alt wie das Fest selbst"
    Florin: Ich höre aus Ihren Antworten heraus, dass Ihnen um die Zukunft von Weihnachten nicht bang ist.
    Wahle: Ich bin durch meine Forschungen auch sensibel dahingehend geworden, dass man den Menschen mehr zutrauen darf im Hinblick auf ihre Weihnachtsfeier, als man vielleicht auf vielen Stammtischen oder auch in intellektuellen Kreisen meist meint, verbreiten zu müssen. Die Klage über Weihnachten ist so alt wie das Fest, auch die Klage darüber, dass das Eigentliche doch was ganz anderes ist, christlich gesehen eben an Ostern oder auch humanistisch in anderen Dingen oder dass es nur um Familienrührseligkeit und so etwas geht. Wenn man genauer hinschaut, können die Menschen durchaus auch unterscheiden, sehen eben auch in diesem Fest viel mehr als nur Kommerz oder Geschenkeaustausch. Das, was einen bewegt, wird in dieses Fest durchaus mit hineingelegt, wird auch offenbar, auch Konflikte. Deshalb ist mir um das Fest eigentlich nicht bange. Es wird sich verändern, es wird sich auch durch unsere plurale Gesellschaft noch einmal wieder verändern, so wie es sich in den letzten Jahrhunderten immer wieder verändert hat, kulturelle Einflüsse aufgenommen hat, von der römischen Kultur, von der germanischen Winterkultur. Um das Fest habe ich nicht die große Sorge. Bei den anderen christlichen Feste, Pfingsten beispielsweise oder Christi Himmelfahrt, da kann man viel skeptischer sein.
    Stephan Wahle: "Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft"
    Herder, Freiburg 2015. 492 Seiten, 39.99 Euro.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.