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Festung Europa

Innerhalb Europas sind Schlagbäume und Grenzzäune verschwunden, die Außengrenzen jedoch werden so scharf bewacht wie nie zuvor. Zum Beispiel in Melilla, der spanischen Enklave an der Nordküste Marokkos.

Von Elias Bierdel | 02.11.2009
    Beim Thema Flüchtlingsdramen an den europäischen Außengrenzen denkt man zu allererst an Bootsflüchtlinge vor Lampedusa oder den Kanaren. Dort vollzieht sich eine zunehmend brutale Abwehrschlacht, in der europäische Grenzwächter Boote abdrängen und zur Umkehr zwingen. Für die einen ist dies die legitime Antwort auf ein Sicherheitsproblem – für die anderen die fatale Preisgabe der Menschenrechte: Fest steht nur, dass die Zahl der Opfer an den Seegrenzen in die Zehntausende geht.

    Weit weniger ist vom Geschehen an den Landgrenzen die Rede – schon gar nicht von jener nahezu unbekannten Zone, wo europäische und afrikanische Territorien nicht durch Meerwasser getrennt sind, sondern unmittelbar aufeinanderstoßen. Melilla ist so ein Ort. Die spanische Enklave in Marokko steht als Relikt einer eben doch noch nicht so ganz vergangenen Kolonialzeit seit 1497 unter der Herrschaft des Könighauses von Kastilien.

    Damit gehört die 60.000-Einwohner-Stadt bis heute zum Staatsgebiet Spaniens – und ist folglich Teil der Europäischen Union. Für die Flüchtlinge und Migranten, für die Verzweifelten und die Abenteurer, die sich an den Zäunen vor Melilla treffen, liegt jenseits der Grenze ihr Eldorado. Doch der Weg dorthin ist versperrt.

    Der 10,2 Kilometer lange Grenzzaun ist mittlerweile zwischen sechs und acht Meter hoch und besteht aus drei Zaunreihen. Zwischen der äußeren und der mittleren Zaunreihe ist eine Drahtmatrix gespannt, aus der sich Personen, die hineinfallen nicht mehr allein befreien können und durch die sie sich enorme Verletzungen zuziehen. Zwischen der mittleren und der inneren Zaunreihe gibt es einen betonierten Pfad, auf dem die Guardia Civil patrouilliert. Die oberen Teile der Grenzzaunreihen sind mit Stacheldraht und rasiermesserähnlichen Klingen bestückt. Rund um Melilla ist marokkanisches Militär stationiert, das den Zaun von marokkanischem Territorium aus bewacht und mit Gummigeschossen und teilweise auch scharfer Munition auf Personen schießt, die die Zaunanlagen überwinden wollen. Auch die Guardia Civil schoss mit Gummigeschossen auf Migrierende, als diese gerade versuchten über den Zaun zu gelangen und verletzte dabei etliche von ihnen lebensgefährlich.
    Stacheldraht und Schießbefehl an den gemeinsamen Außengrenzen – gerade im Jubiläumsjahr der Maueröffnung erhält Hanna Diederichs Buch eine beklemmende Aktualität, auch wenn das von der Autorin wohl kaum so beabsichtigt war. Die Berliner Sozialpädagogin hatte während des Praktikums bei einer spanischen Hilfsorganisation in den Jahren 2006 und 2007 mehrere Wochen in Melilla verbracht – ihre Erfahrungen verwertete sie zunächst in öffentlichen Vorträgen, dann in einer Diplomarbeit. Nun bringt der Frankfurter Verlag Brandes&Apsel den kaum veränderten Text als Band 152 seiner Reihe "Wissen und Praxis" heraus. Leider ist dabei ein Buch entstanden, das auch die fachlich vorgebildete und interessierte Leserschaft auf eine harte Probe stellt.

    Denn über endlos lange Seiten ziehen sich die Gegenüberstellungen der diversen makro-, mikro und mesotheoretischen Ansätze der Migrationsmodelle, werden Begriffe definiert, Herangehensweisen erläutert, die Methodik hinterfragt, Gliederungen vorgenommen und einschlägig bekannte Kapazitäten zitiert. Das Quellenverzeichnis listet schließlich fast 200 Titel auf. Bei soviel dröhnender Gelehrsamkeit drohen die Stimmen der Menschen, die in und um Melilla stranden, unterzugehen. Erst im letzten Drittel kommen die schon Enttäuschten oder noch Hoffenden selbst zu Wort. Und bringen, wie der 30-jährige Rashid, ihre Sicht der Dinge auf den Punkt:

    Zunächst lade ich sie ein, die Geschichte noch einmal zu lesen. Vor allem die europäische Geschichte. Und die Geschichte der Kolonialländer. Und dass sie sich erinnern, dass hier über Jahrhunderte ökonomische Ressourcen erschlossen wurden und deswegen sollten sie nicht die Augen vor dieser Realität verschließen. Meiner Meinung nach wird es weiter Migration geben, solange wir dieselbe wirtschaftliche und politische Situation haben. Europa hat eine Verantwortung gegenüber des Ländern des Südens. Weil die Wirtschaftssysteme, die mein Land lenken, Systeme sind, die durch Europa gebilligt sind, das Wirtschafts- und das politische System. Also gibt es eine Verbindung und somit eine direkte und indirekte Beeinflussung.

    Doch es geht nicht nur um die Ungerechtigkeiten im Welthandel. Auch die Widersprüche einer europäischen Politik, die billige Arbeitskräfte sucht und braucht, aber gleichzeitig legale Zugangswege für Migranten verschließt, treten offen zutage. Die Autorin benennt auch das Versagen der EU-Mitgliedsländer, zwischen nationalen und gesamteuropäischen Interessen eine gemeinsame Linie zu finden. Es sind aber die andauernden Widersprüchlichkeiten, in denen sich Verzweifelte, Vertriebene, Flüchtlinge und Abenteurer gefangen sehen.

    Hanna Diederich hat Interviews mit Menschen geführt, die aus verschiedenen Gründen ihre Heimat verlassen haben und sich von Europa angezogen fühlen – von einem Europa, das ihnen allerdings rasch zeigt, dass es an ihnen nicht interessiert ist. Was von den großen Träumen in Mellila bleibt, ist der Wunsch, irgendwie am Ende doch weiterziehen zu können und jedenfalls der stets drohenden Abschiebung in die Herkunftsländer zu entgehen. So wie bei der jungen Mutter Samira, deren Traum vom Leben in Europa gleichzeitig rührend naiv – und doch abgeklärt wirkt:
    Ich möchte ein normales Leben, ein einfaches. Dass mein Mann arbeitet oder wir arbeiten gleichzeitig und die Kinder sind im Kindergarten. Gut, Deutschland ist das Beste von ganz Europa. Wer alles davon träumt nach Deutschland zu gehen, weil man in Deutschland niemals Papiere bekommt. Von ganz Europa ist es in Deutschland am schwierigsten. Wenn du ledig bist, um zu heiraten, okay. Aber ein Kranker wird niemals Papiere bekommen, niemals.
    Als Diskussionsbeitrag zur überfälligen Neubestimmung in der festgefahrenen europäischen Migrationspolitik kann Hanna Diederichs Fleißarbeit vielleicht Argumente und Denkanstöße liefern. Dem wichtigen Thema aber in einer breiteren Öffentlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, dazu ist es - leider - nicht geeignet.

    Elias Bierdel über Hanna Diederichs Buch "Melilla. Transit oder Endstation. Europäische Abschottungspolitik und ihre Folgen für die Flüchtlinge. Erschienen im Brandes & Apsel Verlag, es hat 188 Seiten und kostet 19 Euro 90 (ISBN: 978-3-86099-616-4).