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Fette Beute Wort

Dann kam der gewaltige Sturm. Er haute in den Wald wie eine Bombe. Innerhalb von wenigen Stunden war der Wald verheert. Sie haben dann eine Weile auf einer Bank gesessen, von der aus man über das Tal hinüber zu einem großen, bewaldeten Hang schaut, aber was heißt bewaldet, der Hang war eine Glatze, und überall die übereinander gefallen Baumstämme. "Mikado", hat der Cousin gesagt. "Alles Mikado. Eine falsche Bewegung und alles ist aus.

Gisa Funck | 08.08.2003
    Es ist eine kleine, dörfliche Welt, die Tanja Jeschke in ihrem Kurzgeschichtenband Fette Beute Wort beschreibt. Eine Welt, in der Worte eine ungeheure, wirkmächtige Macht besitzen. Kaum etwa hat der japanische Cousin von Futsimo, die Hauptfigur in der Erzählung Mikado , das Wort "Mikado" ausgesprochen, da eskaliert auch schon ein lange schwelender Konflikt. Futsimo, die stille, fast stumme Japanerin, die mit ihrem deutschen Mann in einem schwäbischen Dorf zusammenlebt, muss über den Ausdruck ihres Cousins so lachen, dass ihr Mann wütend wird. Vor lauter Wut fängt er am nächsten Tag an, im Wald Holz zu sägen – und wird prompt von einem Baumstamm erschlagen. "Mikado" – der japanische Begriff für die Kunst der exakten Bewegung – entwickelt in dieser Erzählung Jeschkes also geradezu prognostische Kraft. Er wird regelrecht zur Ankündigung einer Art Gottesstrafe. Denn tatsächlich wurde Futsimo vorher von ihrem Mann und dessen Familie auch falsch bewegt. Oder besser gesagt: falsch behandelt. Die deutsche Familie degradierte die Japanerin zur "schönsten Puppe" ohne eigenen Willen, wie Futsimos Schwiegermutter es einmal ausdrückt.

    Fette Beute Wort : Jeschkes Buchtitel ist in ihren Erzählungen Programm. Worte sind es, oft nicht mehr, die hier den Lauf der Dinge verändern. Worte, die aus vorher gestohlenen Tomaten in der Titelgeschichte plötzlich harmlos "stibitztes" Gemüse machen. Worte, mit denen sich eine Rentnerin an anderer Stelle tröstlich einreden kann, "alle Hände voll zu tun zu haben", obwohl sie eigentlich gar nichts mehr tun hat. Und wiederum Worte sind es, die auch das Leben von "Konrad Becherlein" entscheidend prägen. In seiner Kurzgeschichte ist es das Andersen-Märchen vom "Eisernen Zinnsoldaten", das den kleinen Jungen so fasziniert, dass er schon bald nur noch im Stechschritt herumläuft. Erste Schritte in eine Zukunft, die Konrad Becherlein ausschließlich den Zinnsoldaten opfert:

    Ganz abgesehen davon, dass Konrad Becherlein sich diese steife Gangart nicht mehr ausreden ließ, versteifte er sich von nun an mit größtem Eifer auf das Sammeln von Zinnsoldaten. Einmal bekam er eine Einladung des Clubs zum Ball der Zinnsoldatensammler und entdeckte, dass er keine Frau hatte. Da er jedoch keine Aktion von Seiten des Clubs auslassen wollte, beschloss er frauenlos seinen Mann zu stehen. Es wurde ihm gelohnt: an seinem Tisch saß Herwig Hut – ein bekannter Sammler im Landkreis – mit seiner eheringlosen Tochter Gertrud. Es folgten ein paar Besuche, der Sammlung und der Tochter, dann die Hochzeit. Der ganze Club war anwesend, es gab einige gute Zinnsoldaten unter den Geschenken.

    Jeschkes Erzählungen sind eher Gleichnisse als Kurzgeschichten. Wobei ihre Stimme häufig an die allwissende Sprechweise von Märchen erinnert. "Es gab", "es war", "plötzlich" oder "einmal" heißen typische Satzanfänge bei ihr. Und wie im Märchen oder in der Parabel geht auch sie immer von einem Einzelfall aus, um auf ein allgemeines Phänomen zu verweisen. Die Episode von Konrad Becherlein kann man hier beispielsweise als Parabel auf eine soldatisch erzogene Kriegsgeneration lesen, deren Schicksal vom Gebot des Gehorsams bestimmt wurde. Man kann sie so lesen. Doch man muss es nicht tun. Genau das macht den Reiz der besseren ihrer 28 Episoden aus: darin schildert sie gleichnishafte Begebenheiten, ohne eine Deutung vorzugeben.

    Ihr Erzählband gleicht dann einer Art Besinnungslektüre der unaufdringlichen Art. In den weniger gelungenen Geschichten hingegen klingt noch zu sehr die studierte Theologin Tanja Jeschke durch. Da ist sie dann noch zu sehr eine Predigerin für die gute Sache und zu arg um eine Pointe mit Erkenntnisgewinn bemüht. So, wie etwa in der Anekdote Frau und Mann, in der ein Ehepaar beschließt, sich Vögel zuhause zu halten – bis es erkennt, dass natürlich kein Käfig für einen Vogel so schön sein kann wie die Weite des Himmels. Glücklicherweise aber sind solche betulichen Ausrutscher selten, in denen das Buch dann plötzlich nach jener christlichen Erbauungsliteratur klingt, mit der Tanja Jeschke, Jahrgang 1964, zuerst ihr Geld als Schriftstellerin verdient hat. Neben einem Begleitbuch zur Kommunion hat sie ein Kinderbuch geschrieben, in dem die Weihnachtsgeschichte kindgerecht erzählt wird.

    Fette Beute Wort ist tatsächlich ihr erstes Buch ohne betont christlichen Anspruch. Nicht immer schafft die Stuttgarterin darin ganz den Sprung – weg vom religiösen Gebrauchstext hin zur freieren Erzählprosa – fast immer aber sind ihre Geschichten höchst amüsant. Das liegt vor allem an ihren wunderbar eigenwilligen Figuren. Jeschke beschwört einen Provinzkosmos herauf, der merkwürdig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Denn, auch wenn hier hin und wieder ein Taxi durchs Bild fährt, eine Schaufensterpuppe dekoriert wird, oder ein Telefon klingelt: sie skizziert letztlich Stimmungen, Biographien und Ereignisse, die auch vor hundert Jahren hätten stattfinden können. Ihre Helden – egal, ob Erwachsene oder Kinder - gleichen Menschen, die wie in einer Zeitfalte leben. Allesamt sind sie Zurückgebliebene, Fußlahme eines Fortschritts und einer Karriere, die fern eines Großstadt-Trubels einfachen Beschäftigungen nachgehen. Sie arbeiten als Postboten, Seifensiederin, Schuhverkäuferin oder Würstchenfrau.

    Doch so unspektakulär ihr Alltag auch auf den ersten Blick verläuft, so überraschend und skurril sind doch gleichzeitig die Marotten und Strategien, mit der sie der Monotonie und Bitternis ihres kleinen Lebens trotzen. Da gibt es einen Mönch, der für einen bestimmten Blumentopf schwärmt. Einen Bibliothekar, der mit einer Stolpertechnik für Aufsehen sorgt. Eine Schuhverkäuferin, die ihr Spinett an einen Einbrecher verschenkt. Oder eine Witwe, die sich über einen falschen Buchstaben auf dem Grabstein freut. Jedes Leben kann durch Poesie zum Abenteuer werden, zeigt Jeschke, auch wenn es nicht an den ausgewiesenen Abenteuer-Spielplätzen gelebt wird. Mit diesem Credo liegt die Stuttgarter Schriftstellerin vielleicht gerade nicht im Trend einer ansonsten bevorzugt selbstreflexiven Nachwuchsliteratur, die sich zur Zeit am liebsten an der eigenen Nabelschau einer 70er/80er-Jahre-Jugend erfreut.

    Gleichwohl tut es gut, mit Jeschke eine jüngere Autorin zu lesen, die mit Humor und genauem Blick auch einmal abseits und auf andere schaut: weg von sich selbst und fern eines allzu oft um sich kreisenden Kulturbetriebs der Metropole.