Freitag, 19. April 2024

Archiv

Fidelmusik aus dem 13. bis 15. Jahrhundert
Zwischen Minnegesang und Vokalpolyphonie

Schon früh hat der Franzose Baptiste Romain von der klassischen Violine zur mittelterlichen Fidel gewechselt. Aus der neuen CD seines Ensembles Le Miroir de Musique spricht Romains Begeisterung für das reiche und vielgestaltige Repertoire seines Instrumentes.

Am Mikrofon: Bernd Heyder | 15.04.2018
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Der Fidel-Spieler Baptiste Romain (JB MILLOT)
    Für so manchen ist sie der Inbegriff mittelalterlicher Instrumentalmusik: die "Fidel", französisch "vièle", spanisch "vihuela" und okzitanisch "viola" – ein Streichinstrument mit Darmsaiten, die Urahnin der Geigen und Gamben. Wie so viele kulturelle Innovationen des Mittelalters fand sie irgendwann vor der Jahrtausendwende den Weg aus der arabischen Welt nach Europa. In der lateinischen Literatur der Zeit begegnet sie uns als "viella", die Fidel-Spieler sind folglich die "viellatores".
    Mit der Fidel durch die Jahrhunderte
    Auf ihr großes Zeitalter zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert haben jetzt Baptiste Romain und sein Ensemble "Le Miroir de Musique" den Fokus geworfen: "In seculum viellatoris" heißt nach einem Stück aus dem 13. Jahrhundert die gerade erschienene CD des Ensembles.
    Musik: Anonymus, In seculum viellatoris
    "In seculum viellatoris", so lautet die Überschrift dieses kurzen dreistimmigen Stückes, das der neuen CD von Le Miroir de Musique auch den Titel geliefert hat. Ursprünglich war diese Musik offenbar eine vokale Motette über den liturgischen Cantus firmus "In seculum". Ohne Text findet sie sich in einer Notenhandschrift der Staatsbibliothek Bamberg. Das Manuskript wird auf die Zeit um 1400 datiert und stammt wohl aus Südfrankreich oder Italien. Der Zusatz "viellatoris" bedeutet demnach so viel wie "für Fidelspieler", und genau so präsentiert es Baptiste Romain hier gemeinsam mit zwei Ensemblekolleginnen.
    Baptiste Romain ist seit dem vergangenen Jahr Professor für Streichinstrumente des Mittelalters und der frühen Neuzeit an der Schola Cantorum in Basel, der ältesten und auch heute noch wichtigsten Ausbildungsstätte speziell für Alte Musik und historische Aufführungspraxis. Sein Ensemble für das Repertoire aus Spätmittelalter und Renaissance hat Romain schon vor zehn Jahren gegründet. Mit dieser dritten CD begibt es sich auf einen Gang durch drei Jahrhunderte, um die verschiedenen Seiten der Musik für Fidel zu beleuchten. Neben der instrumentalen Interpretation mehrstimmiger Vokalwerke ist da eine weitere und wesentlich ältere Facette die Tanzmusik.
    Musik: Anonymus, La uitime estampie Real
    Zweistimmig auf der Fidel und ergänzt um impulsive Trommelrhythmen präsentieren Baptiste Romain und Thierry Gomar hier eines der frühesten Beispiele notierter Instrumentalmusik: die achte "Estampie Royale", ein königlicher Tanz also, der sich in einem Manuskript aus dem 13. Jahrhundert in der Pariser Bibliothèque nationale findet.
    Instrument der Minnesänger
    Baptiste Romain hat schon in frühen Studienjahren von der Violine zur Fidel gefunden. Zunächst studierte er am Centre de Musique Médiévale in Paris bei Marco Horvat. Dann wechselte er an die Mittelalterabteilung der Schola Cantorum Basiliensis, wo Randall Cook, Dominique Vellard und Crawford Young zu seinen Lehrern zählten; schließlich studierte er noch am Konservatorium von Lyon bei Pierre Hamon. Die neue CD spiegele auch seine eigene musikalische Bildungsreise in Sachen "Fidel" während der vergangenen 15 Jahre wider, schreibt Romain im lesenswerten Beihefttext. In diesem Zusammenhang hebt er seine Begegnung mit der Sängerin Sabine Lutzenberger hervor, die ihm neben Dominique Vellard Anregungen zum gemeinsamen Musizieren mit der Singstimme gegeben hat.
    Dass sich so mancher Minnesänger selbst auf der Fidel begleitete, weiß man aus verschiedenen historischen Berichten; der provenzalische Trobador Perdigon ist sogar auf mehreren Miniaturen mit der Fidel abgebildet. Eine der mit Text und Melodie überlieferten Lieddichtungen von Perdigon stellt auf der CD der Countertenor Paulin Bündgen vor, die Liebesklage "Tut l’an mi ten Amors de tal faisson": "Das ganze Jahr hindurch behandelt Amor mich wie einen, der an der Schlafkrankheit leidet …." Baptiste Romain begleitet den Sänger mehrstimmig improvisierend auf der Rubebe, einem kleineren Fidel-Typ mit einem zargenlosen Korpus. Der flache Saitensteg, der das mehrstimmige Spiel erleichtert, steht hier auf einer Decke aus Ziegenhaut.
    Musik: Perdigon, Tut l’an mi ten amors de tal faisson
    "Vièle" oder "Fidel", so erfährt man im CD-Beiheft, das meint im Hochmittelalter zunächst noch ganz unterschiedliche Typen von Streichinstrumenten; auf den beigegebenen historischen Abbildungen lässt sich das unschwer erkennen. Ob das Instrument nun auf dem Arm oder auf den Knien gehalten wird: Die Theoretiker im 13. Jahrhundert beginnen, zwischen einen taillierten Typus etwa von der Größe einer heutigen Bratsche und der kleineren Variante ohne Zargen zu unterscheiden, auf der Baptiste Romain gerade den Countertenor Paulin Bündgen begleitet hat.
    Rhythmisch frei ausschwingende Melodien
    Die Musik des Hochmittelalters, soweit sie durch schriftliche Quellen entzifferbar überliefert ist, mag für viele heutige Hörer erst einmal exotisch erscheinen, vielleicht sogar ähnlich unkonventionell wie Neue Musik. In diesen frühen Gesängen hört man rhythmisch frei ausschwingende Melodien in einer Skala, die sich meistens auf einen Raum von fünf Ganztönen beschränkt. In der Begleitung der Oberstimme durch wenige einander abwechselnde Liegetöne deutet sich eine modale Harmonik an, die noch weit von der uns vertrauten Dur-Moll-Tonalität entfernt ist.
    Baptiste Romain hat die 16 Stücke der CD chronologisch angeordnet. Wer sich auf die älteste, frei begleitete einstimmige Musik des 13. Jahrhunderts eingelassen hat, der wird erstaunt sein, wie modern im Vergleich dazu die Chanson "O rosa bella" im überbordenden Stil der "Ars subtilior" klingt. Das dreistimmige Werk über ein Liebesgedicht von Leonardo Giustiniani stammt von Johannes Ciconia. Er war um 1390 einer der ersten Franko-Flamen, die als Sängerkomponisten im Italien der Renaissance Karriere machten. Es dürfte kein Zufall sein, dass zu dieser Zeit erstmals Fideln nachweisbar sind, die einen gebogenen Steg aufwiesen und damit für das einstimmige Spiel innerhalb eines Ensembles prädestiniert waren.
    Musik: Johannes Ciconia, O rosa bella
    Mit zwei Fideln und Laute interpretiert "Le Miroir de Musique" diese dreistimmige Chanson von Johannes Ciconia. Vokale Partien instrumental auszuführen und dabei auch improvisatorisch durch Ornamente zu bereichern, das war bis ins 17. Jahrhundert hinein auch in der Kunstmusik allgemein üblich.
    Der Dudelsack als Zweitinstrument
    Baptiste Romain hat in seinem Ensemble vornehmlich Weggefährten aus seinen Studienjahren versammelt. Das ist eine junge Generation von Experten, die sich der mittelalterlichen Aufführungspraxis nicht nur mit umfassenden stilistischen Kenntnissen, sondern auch mit viel Klangsinnlichkeit widmen. Und so führt dieses Programm nicht in ein Museum der Klangbeispiele, sondern in eine eigene musikalische Welt. In einem eher rustikal anmutenden anonymen Stück gesellen sich zu den Fidelspielerinnen Claire Flotzer, Elizabeth Rumsey und Tabea Schwarz noch Claire Pigannio an der Harfe und Marc Lewon auf der Laute. Dazu präsentiert sich Baptiste Romain auch einmal auf dem Instrument, dem er sich neben den Fideln ebenfalls widmet: dem Dudelsack.
    Musik: Anonymus, Tenor "La belle se siet au pied"
    Mit dieser instrumentalen Bearbeitung einer französischsprachigen Chanson richtet Le Miroir de Musique den Blick auf das 15. Jahrhundert und den kunstsinnigen Hof von Burgund. Hier wirkten damals gegen fürstliche Entlohnung nicht nur die seinerzeit bedeutendsten Komponisten Guillaume Dufay und Gilles Binchois, sondern auch zwei blinde Fidel-Virtuosen aus Kastilien. Die Frage, welche Kunstfertigkeiten sie vor dem höfischen Publikum so an den Tag legten, kann Baptiste Romain zwar nicht definitiv beantworten. Er hat am Ende seines CD-Programms aber einige Kostproben aus dem reizvollen burgundischen Repertoire zusammengestellt, das die Zeitgenossen mit so ehrenvollen Begriffen wie "Ars nova" und "Ars subtilior" belegten. In der anonymen Chanson vereinen sich da die Stimmen von Grace Newcombe und Sabine Lutzenberger mit den Klängen von zwei Fideln und Laute. "Soyés loyal a vo povoir", so lautet der Text diese Liedesliedes: "Bleibt so treu, wie Ihr könnt, so werdet Ihr den Trost süßer Hoffnung erhalten". Das "Seculum viellatoris", die Ära der Fidel, neigt sich da dem Ende entgegen. "Violine" und "Viola da gamba" heißen ihre Erben. Auch sie werden sich zunächst in solch einem polyphonen Consort-Repertoire bewähren.
    Musik: Anonymus, Soyés loyal a vo povoir
    In seculum viellatoris – Die mittelalterliche Fidel
    Troubadour-Gesänge, Tänze und polyphone Werke des 13. bis 15. Jahrhunderts von Perdigon, Ciconia, Dufay u. a.
    Le Miroir de Musique
    Baptiste Romain, Leitung und Fidel
    Label: Ricercar LC 08851, EAN 5400439003880