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Film "Bande de filles"
Mädchen der Banlieue

Céline Sciammas Film "Bande de filles" ist nicht nur ein Film über den Alltag einer Mädchengang. Zugleich ist er ein modernes feministisches Manifest und einer der besten Filme des Kinojahrs - findet unser Kritiker.

Von Rüdiger Suchsland | 27.02.2015
    Die Darstellerinnen des französischen Kinofilms "Bande de Filles" posieren für die Kamera
    Die Darstellerinnen des französischen Kinofilms "Bande de Filles" beim Filmfestival von Cannes im Mai 2014: Marietou Toure (von links), Lindsay Karamoh, Assa Sylla und Karidja Toure (AFP/ Loic Venance)
    Ein American-Football-Match. Die Spieler fighten, die Härte des Geschehens wird durch eine Zeitlupe noch hervorgehoben. Dann wird erkennbar: Es sind zwei Frauenteams, die hier gegeneinander spielen - eine programmatische erste Szene, die den Takt vorgibt für einen politisch wie sozial überaus wachen Film, der ohne Scheu sehr bewusst Stereotypen aufnimmt, um sie zu brechen - wie Football, den Männlichkeitssport par excellence.
    Es geht in diesem Film um vier starke, schwarze Girls aus der Pariser Vorstadt. Sie haben nichts, also nehmen sie sich alles: Style, Stolz, Freiheit. Im Zentrum steht die junge Marieme (großartig gespielt von Karidja Touré), die es im Alltag nicht leicht hat, zum Beispiel mit ihrem kaputten Bruder. Aber Marieme ist eine Kämpferin.
    Eines Tages lernt sie eine Frauen-Gang kennen. Diese Mädchen sind unkonventionell und witzig, sie klauen gelegentlich, prügeln sich sogar, wenn es sein muss. Vor allem aber lassen sie sich nichts gefallen. "Tu was du willst!" ist ihr Motto - gerade für einen Haufen vermeintlich chancenloser Mädchen aus den Banlieues, ein Fanal der Freiheit.
    Nach kurzer Annäherung wird Marieme aufgenommen.
    Ihr Bandenname ist Vic, wie Victoire, das französische Wort für Sieg.
    Der Film beobachtet Marieme und ihre neuen Freundinnen in ihrem Alltag. Ihr Leben ist nicht einfach und wird auch nicht verklärt. Aber umgekehrt versagt sich dieser Filme den Blick von oben herab und alle Versuchungen des Sozialpädagogischen, des schnellen Mitleids, der einfachen Ursachenbestimmung. Hier wird nicht Vorstadt gleichgesetzt mit sozialem Elend und Chancenlosigkeit, hier werden keine Filmcharaktere stellvertretend für ein Milieu therapiert.
    Im Gegenteil: "Bande de Filles" ist ein hochunterhaltsamer Film, der viel Spaß macht. Was anderen Regisseuren zum Sozialdrama oder zur moralischen Lektion gerinnen würde, nutzt Céline Sciamma in ihrem dritten Spielfilm (nach "Water Lillies" und "Tomboy") zu einem ästhetischen und antikonventionellen Statement: Indem die Bedeutung der Form schon über das Handwerk unterstrichen wird, durch ausufernde Kamerabewegungen und forcierten Musikeinsatz, indem Musik und Klamotten aber auch für die Figuren selbst Identität bilden, erklärt Sciamma, dass Selbstfindung mit Stilbewusstsein zu tun hat, und zugleich das Gegenteil von Anpassung ist. Dass der Wunsch der Umwelt, man solle "erwachsen" und "reif" werden, oft nur eine Maske der Repression ist.
    Nouvelle Vague heute
    Zugleich ist dies ein modernes feministisches Manifest: Sciamma zeigt, was Feminismus wirklich heißt: Selbstbewusstsein und Selbst-Bestimmung.
    Wenn sich diese Mädchen fortwährend im Spiegel angucken, sich filmen, und gegenseitig beurteilen, geht es um Selbst-Bestätigung, darum, dem Fremdbild ein Selbstbild entgegenzusetzen.
    "Bande de Filles" ist selbst ein solches Spiegelbild, und zeigt uns Zuschauern darin, was das eigentliche Problem für viele Geschlechtsgenossinnen der vier Vorstadtgirls ist: fehlendes Selbstbewusstsein, fehlender Mut, fehlende Härte und Durchsetzungskraft. Er zeigt uns, dass das nicht etwa "männliche Werte" sind, sondern universale.
    Zum Höhepunkt wird eine Szene, in der die vier Mädchen ausgelassen in einem Hotelzimmer feiern. Sie tanzen auf dem Bett, gemeinsam. Sie tanzen zum Song "Diamonds" von Rihanna, der Sängerin, mit deren Kraft, deren Selbstbewusstsein die vier sich identifizieren.
    Die Regisseurin kostet diesen Moment aus. Sie hat die vier in bläuliches Licht getaucht, inmitten der lauten Musik fängt sie Augenblicke der Stille ein, ein Augenaufschlag, ein Lächeln. Sie sind jung; sie sind schön, sie sind stark. Sie sind völlig losgelöst. Und ganz langsam geht die Stimme der Sängerin in ihre Stimmen über. Denn sie haben eine eigene Stimme. Wir hören sie in diesem Film.
    Der Filmtitel ist natürlich eine offene Anspielung auf Jean-Luc Godards "Außenseiterbande". Wie dieser ist auch "Bande de Filles" ein Film, der uns vorführt, nicht erklärt, warum Freiheit womöglich mehr mit Ästhetik zu tun hat, als mit Moral, mehr mit Pop als mit political correctness, mit Musik und Mut, aber ganz bestimmt gar nichts mit Quoten. Sondern eben mit dem Motto: "Tu' was Du willst!"
    "Bande de Filles" ist fraglos einer der besten Filme des ganzen Kinojahres.
    Alles vibriert in diesem Film. Die Leinwand atmet frische Luft.
    Nouvelle Vague heute - wenn diese Formel einen Sinn macht, dann in diesem Film.