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Film "Dämonen und Wunder"
Was für ein Kino!

Jacques Audiards mit der Goldenen Palme ausgezeichneter Film "Dämonen und Wunder" erzählt von Flüchtlingen, die in einer Pariser Banlieue kein neues Zuhause finden. Doch dieser Thriller, dieser Migrations- und Familienfilm erzählt davon ganz anders als erwartet.

Von Hartwig Tegeler | 09.12.2015
    Der französische Regisseur Jacques Audiard mit der französischen Schauspielerin Sophie Marceau (l.) und der Schauspielerin Kalieaswari Srinivasan (2.v.l.)
    Der französische Regisseur Jacques Audiard mit der französischen Schauspielerin Sophie Marceau (l.) und der Schauspielerin Kalieaswari Srinivasan (2.v.l.) bei der Verleihung der Goldenen Palme in Cannes. (VALERY HACHE / AFP)
    Am Anfang, da brannten die getöteten Kameraden von Dheepan aus der Tamile-Tigers-Brigade auf dem Scheiterhaufen, da hatte Dheepan seine Uniform hinein geworfen, da ist er schon in Frankreich, am Anfang träumt Dheepan von dem Elefanten, der aus dem Wald tritt, der alles sieht. So wie Dheepan, der bald auch alles sieht.
    Dheepan, Yalini und das Mädchen Illayall kommt mit den Pässen einer getöteten Familie aus Sri Lanka nach Frankreich. Yalini erzählt das später ihrem Chef, dem Gangsterboss, da der sowieso nichts versteht. In der Kinofassung übrigens ist nur die tamilische Sprache synchronisiert; das Französische wird untertitelt. Die Fremdheit in dieser Welt bleibt so gut sinnlich spürbar.
    "Sie ist nicht meine Tochter. Und er ist nicht mein Ehemann. Das ist alles eine Lüge."
    Dheepan und seine Familie, die nicht seine Familie ist, findet eine Wohnung in einer Hochhaussiedlung, Banlieue, Bandenrevier. Er der Hausmeister. Oben auf den Hochhäusern patrouillieren die Gangs.
    Auf der einen Seite ist die Welt, in die er gekommen ist, Dheepan fremd. Auf der anderen Seite hat der Mann, der nicht mehr im Bürgerkrieg kämpfen wollte, ein präzises Gespür für Gewalt, weil sie ihn ihm - nur scheinbar befriedet - noch tobt. Jederzeit abrufbereit. Sein erster Blick auf die Gangmitglieder, die oben auf den Hochhäusern Wache stehen, sagt uns, dass er weiß - wie der Elefant, der aus dem Dschungel trat, am Anfang -, dass er weiss, was hier läuft. Die Gangster wissen nichts von seiner Geschichte. Das wird ihnen zum Verhängnis werden.
    Eine zutiefst verstörende Geschichte
    Dheepan ist ein sehr guter Hausmeister; er repariert sogar den Fahrstuhl im Hochhaus. Da ist er ganz oben im Hochhaus. Er reißt die Tür auf, die Tauben fliegen raus. Und Deephan lächelt. Das ist ein Moment der Erlösung, aber nur kurz. Denn "Dämonen und Wunder" ist einer dieser Filme, wo zu Beginn der Erzählung so viel Gewalt, so viel Leid und Traumata quasi in die Erzählung hineingelegt sind, dass wir instinktiv ahnen, es wird umkippen. Weil die Gewalt wie ein mäandernder Strom sowohl unter der Welt läuft, aus der Dheepan kam, wie auch unter der, in der er sich jetzt wiederfindet. "Dämonen und Wunder" ist aber auch ein Migrationsfilm, ein Film über unsere Zeit, hier, jetzt in Europa. Nicht aus unserer Perspektive, sondern der der Migranten. Dheepan und seine falsche Familie sind Illegale, weil ihre Papiere nicht ihre sind. Hör zu, sagt Dheepan zu Illayaal, die nicht in der Schule sein will, wir haben ein Geheimnis.
    "Sieh mich an. Wir haben ein Geheimnis. - Ich will da nicht hin. - Das darfst du nicht vergessen. Willst du zurück, willst du das? Ich will das auch nicht. Na geh schon, na los."
    Jacques Audiards Figuren sind keine Helden, wie sie uns das Hollywood-Kino unterjubelt. Sie sind nur Überlebende, Verstörte und Zerstörte, sie sind Geschädigte, Grenzgänger; in ihnen lodert das, was nicht zivilisiert ist. Man braucht nur an die nahezu sexuelle Erregung zu denken, die Frau ohne Beine in "Der Geschmack von Rost und Knochen" empfindet, wenn sich die Männer in den illegalen Kämpfen blutig schlagen. In Dheepan, der Hauptfigur in "Dämonen und Wunder", grandios gespielt von Jesuthasan Antonythasan, der als Kindersoldat im Bürgerkrieg von Sri Lanka kämpfte, brennt die Hölle. So erzählt "Dämonen und Wunder" dann von einer blutig-brutalen Wandlung eines Soldaten zu einem liebevollen Vater und Ehemann, in dem der das Monster der Gewalt noch einmal in einem Amoklauf bedient. Das ist eine zutiefst verstörende Geschichte, die wir hier sehen. Wollen wir das glauben, das Gewalt heilt? Diese Frage haut uns Jacques Audiard ohne Moral, ohne Botschaft, ohne Eindeutigkeit um die Ohren.
    Grandios, spannend, nachdenklich, berührend und betörend
    Feuerfreie Zone, brüllt Dheepan! Als Yalini und Illayaal in der Siedlung in eine Schießerei zwischen den verfeindeten Banden geraten, steht das Monster, das in Dheepan nur schlummerte, nun wieder auf. Noch droht der Bandenchef Dheepans Frau Yalini: "Dein Mann muss aufhören. Mit seiner weißen Linie. Sonst bringe ich ihn um. Aber einige Sachen verlaufen doch anders."
    "Ein Prophet": ein Kleinkrimineller, der hellsichtig wird und zum großen Mafiaboss aufsteigt. "Der Geschmack von Rost und Knochen": eine Tiertrainerin, die beide Beine verliert und sich in einen brutalen Boxer verliebt. Und jetzt "Dämonen und Wunder". Diese drei letzten Filme von Jacques Audiard, sie sind ungeheuer kraftvoll und intensiv in ihrer Wirkung. Und filmisch sowieso meisterlich: Ein Flüchtlingsdrama zu verbinden mit einer Liebesgeschichte und einem Thriller, damit die Grenzen zwischen klassischer Tragödie und Genrefilm wie beiläufig, wie selbstverständlich zu ignorieren, das ist eine einzigartige, faszinierende Kunst. Grandios, spannend, nachdenklich, berührend und betörend. Was für ein Kino, was für ein europäisches Kino! Was für ein Filmemacher!