Erst die Boomjahre, dann der Crash. Und die spanischen Olivenbauern wissen sich nun nicht anders zu helfen, als ihre Existenzgrundlage zu verkaufen. Ihre uralten Bäume. Rückblende, zurück in die 1990er-Jahre, als Alma noch klein war und sie mit dem Großvater durch die Olivenhaine schlenderte. Immer wieder zu diesem Baum:
"Er war mein ganzes Leben hier und hat sich nie verändert."
Es war einmal …
"Den sollen die Römer gepflanzt haben, heißt es. - Die Römer? - Weißt du, was 2000 Jahre sind? Ich weiß es nicht. Aber der Baum ist mindestens 2000 Jahre alt."
Dann kommt die Finanzkrise. Jeder kämpft ums Überleben. Der alte Baum steht jetzt in der Düsseldorfer Zentrale eines Energiekonzerns - als Symbol für Nachhaltigkeit. Die kleine Alma, die wir in den Rückblenden sahen, ist jetzt 20, chaotisch, rebellisch, impulsiv, voller Kraft und Wut. Wütend vor allem, weil ihr Großvater, seitdem der Olivenbaum weg ist, nicht mehr spricht.
"Dein Großvater ist nicht mehr da, Alma. - Was meinst du damit? - Na, dass er trauert, das ist alles."
Icíar Bollaíns Film "Der Olivenbaum" erzählt eine auf den ersten Blick einfache Geschichte: Alma will den Olivenbaum von Düsseldorf nach Hause zum Großvater zurückholen. Dafür wird sie ihrem Onkel Alcachofa und ihrem Kollegen Rafa, der in sie verliebt ist, ein paar Lügen auftischen und macht sich dann mit ihnen zusammen auf die Reise, hoch in den Norden. Mit Truck. Und Anhänger.
Urtext der spanischen Literatur,: Miguel de Cervantes' "Don Quijote"
Wirklichkeit und Traum, das Ideal, die Realität und die Lügengebilde drum herum, um die Realität erträglicher zu machen: Darum geht es im Urtext der spanischen Literatur, in Miguel de Cervantes' "Don Quijote". Genau darum geht es nun auch in Icíar Bollaíns wunderbarem Film, in Spanien wochenlang auf dem ersten Platz der Kinocharts. "Der Olivenbaum", zeitgenössische Don-Quijoterie, ein aussichtslos erscheinender Kampf gegen Windmühlenflügel - um Bezug zu nehmen auf die zum Sprichwort gewordene Szene in de Cervantes' Roman.
Alma ist eine junge Frau, hinein geboren in ein Land, das zerrüttet ist von den Auswirkungen der Finanzkrise 2007/2008. Alma erlebt eine Gesellschaft ohne Mut. Aber sie ist jung, zornig, und so ignoriert sie - wie Don Quijote, der "Ritter von der traurigen Gestalt", bei Cervantes - die vorgebliche Logik der Realität und setzt sich in den Kopf, diesen alten Olivenbaum nach Spanien zurückzuholen. Die Bilder, die Icíar Bollaín uns in ihrem Film zeigt, bewegen sich immer im Grenzbereich zwischen Realität und Phantasie. So, wie auch der Baum im Film "Der Olivenbaum" als lebendes Wesen erscheint, in dessen 2000-jährige Gestalt Gesichter, Fratzen, magische Gestalten eingewachsen sind.
"Oh, sieh mal da, ein Monster. - Was ist da? Ein Monster? Siehst du?"
Aber nicht nur der Schriftsteller Miguel de Cervantes, auch Luis Buñuel, der alte Meister des spanischen Kinos mit seiner Faszination für die Grenze zwischen Traum und Albtraum, beide scheinen immer wieder eine sehr lebendige Referenz für zeitgenössische spanische Filmemacher zu sein. Ob es um die Auseinandersetzung mit dem spanischen Bürgerkrieg geht - "Pan's Labyrinth" von Guillermo del Toro - oder um die faschistische Franco-Ära und ihre Nachwirkungen wie in Alberto Rodriguez' großartigem Cop-Film "Mörderland", der Anfang August bei uns in den Kinos anlief.
Soziale Eruption, verursacht von der Finanzkrise von 2007/2008
Oder wenn es jetzt in "Der Olivenbaum" um die soziale Eruption geht, die die Finanzkrise von 2007/2008 verursacht hat. "Wir wollten diesen Film ein bisschen wie ein Märchen erzählen", sagt Filmemacherin Icíar Bollaín. "Aber mit einem realen Bezugspunkt: Eine Geschichte über das, was in unserem Land geschehen ist und geschieht." Märchenhafter Realismus eben, jenseits von Kitsch, jenseits von Idylle, getränkt von bitterböser Realität, aber - und dafür steht Alma die ganze Zeit über - getrieben ist diese Geschichte von Wut, Lebenskraft, Sturheit, Schlitzohrigkeit, Verzweiflung und Liebe.
"Krass, er steht mitten in der Lobby. Sie benutzen ihn als Logo für ihr Unternehmen. Scheiße, er ist eingesperrt. - Alma, er ist kein Tiger. Er braucht keinen Auslauf."
Anna Castillo, die junge spanische Schauspielerin - hier in ihrer ersten Hauptrolle - steht im Zentrum dieser zeitgenössischen Adaption des Kampfes mit den Windmühlenflügeln. Aber auch der grandiose Schauspieler Javier Gutiérrez als Almas Onkel gibt Icíar Bollaíns Film diesen einzigartigen Ton von Melancholie und explodierender Wut über die Verhältnisse.
Der Film "Der Olivenbaum" - Road-Movie, Sozialdrama, Naturfilm - ist von einem großen erzählerischen Reichtum. Und wenn am Ende - eines Films ohne ein Happyend - eine Familie den Großvater zu Grabe getragen hat und an der Stelle, an der vor 2000 Jahren Menschen einen Olivenbaum pflanzten, nun einen neuen setzt, dann ist auch das ein Bild an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, Realität und Hoffnung auf eine Zukunft.