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Film der Woche: "Roma"
Weibliche Widerstandskraft

Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón erzählt in "Roma" die Geschichte seiner eigenen Kindheit in Mexiko-Stadt Anfang der 1970er-Jahre. Im Mittelpunkt steht die Geschichte der indigenen Haushälterin der Familie. "Roma" ist ein Film über die Solidarität von Frauen.

Von Hartwig Tegeler | 17.12.2018
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    Die Schauspielerin Yalitza Aparicio Martinez aus dem Film "Roma" mit ihrer Familie in Tlaxiaco (imago stock&people / Agencia EL UNIVERSAL)
    Immer wieder in "Roma" fragen wir uns: Warum kann denn nicht einer mal die Hundescheiße in diesem engen Innenhof wegmachen? Im langen Vorspann sehen wir seine quadratischen Boden-Kacheln, darauf das Putzwasser. Cleo wird den Kot wegspülen, aber in der nächsten Szene ist der wieder da. Cleo ist das indigene Hausmädchen und Kindermädchen bei den Antonios und ihren vier Kindern. Liebevoll kümmert sie sich um sie, ist wie eine zweite Mutter.
    Cleo steht im Zentrum von Alfonso Cuaróns Erinnerung an die eigene Kindheit in einer Mittelstandsfamilie im Stadtteil Roma in Mexiko-Stadt. Diese Erinnerung an die Anfänge der 1970er-Jahre, die zum Film in magischen Schwarz-weiß-Bildern wird, ist heil, aber – man denke an die Hundehaufen – gleichzeitig alles andere als heil. Der Pater Familias beispielsweise, wird bald verschwunden sein, einfach so.
    Ein Film über die Solidarität von Frauen
    Diese Zeit Jahre bildet außerdem eine Zäsur in der mexikanischen Gesellschaft. Hochschwanger gerät Cleo in das berüchtigte Fronleichnam-Massaker von 1971, bei dem 1971 eine paramilitärische Gruppe bei protestierende Studenten ermordete. Ein Ereignis, wie Regisseur Afonso Cuarón bemerkt, das eine "Narbe im kollektiven Bewusstsein der mexikanischen Geselschaft" hinterlassen hat. "Roma" ist also ein Film über das Private, über den Alltag und die Gesellschaft. Und alles bündelt sich in der Figur des Hausmädchens Cleo. "Roma" ist auch ein Film über die Solidarität von Frauen, ihre Widerstandskraft.
    Am Ende verkauft Sofia, die Mutter der Familie, eine Akademikerin wie ihr Mann, das Ungetüm von einem Ford Galaxy, den sie, als ihr Mann sich davongemacht hatte, beim Einparken in den schlauchförmigen Innenhof – der mit den Hundehaufen – verschrottete und zu Cleo nur meint: "Egal, was sie sagen, wir Frauen stehen immer alleine da."
    Das neue Auto wird kleiner sein. Mit Cleo und den Kindern fährt Sofia am Ende ein paar Tage ans Meer. Die Kinder gehen baden; als zwei von ihnen es aus eigener Kraft nicht wieder an den Strand schaffen, läuft Cleo, die nicht schwimmen kann, ins Meer und rettet sie. Auf dem Sand umarmen sich alle, niedergesunken im Sand. Ein Bild, das wie eine Pietà wirkt, in dem Maria den vom Kreuz abgenommenen Jesus hält.
    Opfer bringen für andere
    Wie er sich für die Menschen ganz geopfert hatte, so erzählt uns Alfonso Cuarón, wie sich auch Cleo ganz für andere opfert. Sicher entwirft Cuarón so das Bild einer Heiligen, einer Madonna. Aber als sie da, am Strand, umarmt von den anderen, anfängt zu weinen, als sie schluchzt, sie hätte nicht gewollt, dass ihr Kind, das tot geboren wurde, auf die Welt kam, da ist Cleo nicht die Heilige, sondern leidender Mensch.
    "80 Prozent der Szenen im Film entstammen meiner Erinnerung", sagt Alfonso Cuarón, "wir haben in einem Haus gedreht, das die exakte Nachbildung des Hauses meiner Kindheit war. Die Familie in unserem Film ist identisch mit meiner Familie vor 40 Jahren. Und diese Geschichte dreht sich um eine Person, die ich mit am meisten liebe", meint Alfonso Cuarón.
    Das Leben darstellen, wie es ist
    Es ist ein faszinierender Sog und eine ungeheure Intensität, mit der die wunderbare indigene mexikanische Schauspielerin Yalitza Aparicio uns quasi hineinzieht in die Figur der Cleo und in den Kosmos dieses Films. Und mit ihr wird Alfonso Cuarón seinem Credo in "Roma" gerecht, das Leben nämlich darzustellen, wie er sagt, in all seinen Facetten.
    Die bekommen wir zu sehen: das Schmutzige der Hundehaufen, das Brutale eines Massakers an Studenten, das Träumerische, wenn Cleo oben auf dem Dach des Hauses zusammen mit dem kleinen Junge auf dem Rücken liegt und in den Himmel schaut, das Verzweifelte, wenn sie ihr totgeborenes Kind im Arm hält, und das Magische, wenn Cleo mit geschlossenen Augen auf einem staubigen Platz auf einem Bein steht.
    Natürlich beschönigt Erinnerung die eigene Vergangenheit; die von Alfonso Cuaróns macht da sicher keine Ausnahme. Doch erstaunlich ist, wie diese womöglich verklärende Erinnerung sich in "Roma" mit der genauen Rückschau auf die Vergangenheit verbindet und zu einer komplexen Erzählung über einen Menschen wird.