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Film "Höhere Gewalt"
Menschliche Ohnmacht

Eine Idylle, die trügt: Regisseur Ruben Östlund zeigt in seinem Film "Höhere Gewalt" die Wohlstandsverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts als dekadentes, überlebtes Ancien Régime - allerdings ohne dabei zu moralisieren.

Von Rüdiger Suchsland | 15.11.2014
    Ein Familienfoto: Vater, Mutter, zwei Kinder - ein glücklicher Ski-Urlaub. Schweden, die in Frankreich ihre Winterferien verbringen. Ihnen scheint es an nichts zu fehlen, sie sehen gut aus, ihr Hotel ist luxuriös, die Skiausstattung auf dem neuesten Stand, so modisch wie sicher.
    Regisseur Ruben Östlund zeigt die Idylle, Tomas, Ebba, Harry und Vera genießen Schnee, Sauna und schicke Abendessen. Zugleich konterkariert er sie immer wieder mit Bildern, die eine ironische, auch distanzierende Wirkung entfalten; Bilder der Routine, des Seriellen unseres Daseins:
    Wir sehen das Hotelpersonal, das seltsam unberührt nach ganz eigenen Gesetzen serviert, reinigt, räumt und den Ablauf der Maschinerie sichert.
    Wir sehen Drüsen, die künstlichen Schnee rieseln lassen, sehen Pistenraupen, die wie ein seltsames futuristisches Ballett, nachts dafür sorgen, dass die Touristen am Morgen ideale Schnee-Bedingungen vorfinden.
    Dies montiert der Regisseur parallel zur Abendtoilette der Touristen - die Sequenz mündet in den Moment, in dem sich die komplette Familie vor dem Badezimmerspiegel mit elektrischen Zahnbürsten die Zähne putzt.
    Und dann die Kanonen, die kontrolliert Lawinen auslösen, geplante Katastrophen - also ein Widerspruch in sich.
    Einige Zeit später passiert, was die latent angespannte Atmosphäre schon ahnen ließ: Eine solche Lawine wird größer und heftiger als erwartet und rast auf die voll besetzte Terrasse eines Cafés zu, in dem auch Tomas' Familie sitzt:
    "Papa! Papa!"
    Ein Schock für die Beteiligten, auch für die Zuschauer, der sich zwar bald in Pulverschnee auflöst, aber doch untergründige Spuren hinterlässt. Die Idylle bekommt Haarrisse, immer sichtbarer werden Spannungen. Ursache ist die Erfahrung, die Ebba gemacht hat: In dem Augenblick, in dem die Lawine das Café unter sich zu begraben drohte, fühlte sie sich von ihrem Mann allein gelassen.
    Tomas selbst sieht das anders - und es liegt im Auge des Betrachters, welcher Version er hier folgt.
    Von der Katastrophe des Normalen
    Man kann in diesem Tomas einen Mann sehen, der Schwäche partout nicht eingestehen kann, der im entscheidenden Moment egoistisch handelt, immer Ausreden sucht - und damit einen typischen Repräsentanten zeitgenössischer Männlichkeit.
    Man kann aber auch Ebbas Reaktion infrage stellen: Reagiert sie nicht über? Ist ihr Hadern mit dem Gatten nicht etwas hysterisch?
    Dies ist ein existenzielles Drama, das an die bürgerlichen Selbstzerfleischungs- und Entlarvungsorgien eines Ingmar Bergman erinnert.
    Ähnlich konsequent ist auch dieser Film. Allerdings moralisiert er nicht, ist ironischer, kühler, ohne Furor.
    Östlund erzählt von der Katastrophe im Normalen. Im Rhythmus mehrerer Tage präsentiert "Höhere Gewalt" ein Klassenporträt, in dem breite Teile des Publikum sich problemlos selbst wiedererkennen werden: Schöne, gebildete, wohlhabende, übergesunde, allseits durchgecheckte und sicherheitsbesessene Menschen, die ihren Alltag routiniert managen, noch nie echte Probleme gekannt haben. Als die dann kommen, sind sie hilflos.
    Der Film ist aber auch einfach eine großartige Farce, eine Comedie Humaine über das moderne Leben.
    Über eine Gesellschaft, die unfähig ist, Dinge, die eben vorkommen, zu akzeptieren. Die stattdessen alles Mögliche zu etwas Grundsätzlichem erklärt, auf das sie therapeutisch reagiert.
    Eine Gegenwart, die ihre Ängste nicht mehr zu kontrollieren vermag, nicht rational mit ihnen umgeht, sondern zunehmend von Panik erfasst und blockiert wird.
    Östlunds Film erzählt anhand eines Mikrokosmos vom Ganzen: Er zeigt die Wohlstandsverhältnisse des frühen 21. Jahrhunderts als dekadentes, überlebtes Ancien Régime. Ganz sachte, gewissermaßen über die Ränder, kehrt das Verdrängte zurück.
    Die "Höhere Gewalt" des Titels kann Gott meinen, kann die bevorstehende politische Revolution meinen, oder einfach den Einbruch des Unverhofften ins geregelte Leben, Befreiung und Bedrohung zugleich. In jedem Fall aber ist "Höhere Gewalt" eine Chiffre für die Ohnmacht des Menschen.