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Film "Inherent Vice"
Wunderbar durchgeknallt

Worum es Paul Thomas Anderson in seinem Film "Inherent Vice" geht, ist nur schwer ersichtlich. Die Charaktere waten durch einen wahren Dschungel aus Verschwörungen, Entführungen, FBI-Intrigen, Morden, Unabwägbarkeiten und Irrsinn. Einen Kinobesuch wert ist er trotzdem.

Von Hartwig Tegeler | 11.02.2015
    Reese Witherspoon in einem rosa Kleid und Joaquin Phoenix im Anzug, nebeneinander stehend, bis zur Taille sichtbar bei der Premiere von "Inherent Vice" am 10. Dezember 2014 in Los Angeles.
    Reese Witherspoon und Joaquin Phoenix bei der Premiere von "Inherent Vice" am 10. Dezember 2014 in Los Angeles. (dpa/picture alliance/Michael Nelson)
    Bringen wir's doch gleich auf den Punkt:
    "Also, worum geht´s hier eigentlich?"
    Also, ich habe nichts verstanden. Ich habe nichts verstanden, gut, verstanden schon, aber ich wüsste nicht zu sagen, worauf's hinauslief, läuft, gelaufen ist. Oder gar laufen wird. 1970, wir reden vom Jahr. Doc, an sich Larry Sportello - alias Joaquin Phoenix in einer unfassbaren Vorstellung - ich verbeuge mich sehr tief - also, er nennt sich Doc, er ist ein klassisches Private Eye (klassisch, weil Chandler, Bogart, Marlowe, film noir, alles klar!). Aber 1970, das Jahr, es sind viele Substanzen im Umlauf, die inhaliert werden. Wo Marlowe den Whiskey hatte, hat Doc Gras.
    "Hippies."
    Und das wirkt sich aus.
    "Hippies."
    Kurzum, er blickt nicht durch.
    "Hippies."
    Wobei es mir bei Paul Thomas Andersons Film, wie gesagt, nicht wirklich anders geht.
    "Hippies."
    Aber - jetzt kommt die Frohe Botschaft: Und das ist auch gut so. Als Hippie beschimpft übrigens der knallharte Bulle, der insgeheim ein Weichei ist - Josh Brolin spielt ihn -, Doc immer wieder. Na ja, 1970, da hatten sie eben ihre Hoch-Zeit. Die Hippies.
    "Du weißt, dass ich jetzt ein Büro habe. Das ist wie ein geregelter Job praktisch."
    Dschungel aus Verschwörungen, Intrigen, Unwägbarkeiten
    Joaquin Phoenix mit unfassbaren Koteletten, mit unfassbar staunend aufgerissenen Augen, mit einem manchmal naiven Blick bezüglich dessen, was da auf ihn zu rauscht. Und vielleicht, bevor hier überhaupt eine Andeutung dessen zu hören sein wird, was da in dieser Aura von Paranoia, Rausch und Absurdität et cetera pp. im Film "Inherent Vice" passiert, vielleicht vorher hier das Credo von Doc, dass er zu verstehen gibt, dass er noch viel weniger verstehen würde, wenn er keine Substanzen inhaliert hätte. Und der doppelte Konjunktiv könnte durchgehen als Verbeugung vor der Undurchschaubarkeit oder Unübersichtlichkeit oder strukturellen Unerzählbarkeit des Seins. Oder so. Jedenfalls irgendwie.
    "Ich habe läuten hören, dass Mickey Wolfmann gar nicht so verschwunden ist, wie wir alle glauben. - Du meinst, er hat uns verlassen, aber er ist noch da?"
    Also, klassische Ausgangssituation wie bei Raymond Chandler oder Dashiell Hammett.
    "Psssh. - Bist du das, Chester? - Er glaubt, er halluziniert."
    Die schöne Blondine kommt rein.
    "Ich brauche deine Hilfe, Doc."
    Shasta, mit der Doc mal zusammen war. Nun ist ihr aktueller Freund verschwunden. Mickey Wolfmann. Aber wie wir eben schon hörten, wie der Typ da eben raunte, vielleicht ist Mickey Wolfmann ja auch nicht verschwunden. Aber damit geht´s los. Mit diesem Psssh, hat dich jemand gesehen.
    "Ist etwas jemand hinter dir her. - Bin gerade durch die Straßen gekurvt, damit's echt aussieht."
    Und über allem liegt der schon zitierte Satz:
    "Also, worum geht's hier eigentlich?"
    Was jetzt kommt, alle Achtung, ein wahrer Dschungel aus Verschwörungen, Entführungen, FBI-Intrigen, Morden, Unabwägbarkeiten und Irrsinn. Durch alles waten Joaquin Phoenix, Katherine Waterston, Josh Brolin, Owen Wilson, Martin Short, Benicio del Toro, Reese Witherspoon, Eric Roberts und die anderen. Los Angeles, Kalifornien, ja, klar.
    "Hippies."
    Film hat Bären und Oscars verdient
    Aber das mit der ewigen Sonne ist schon durch die Manson-Morde an Sharon Tate blutig konterkariert. Ist alles in so einer Unübersichtlichkeit verschwunden, dass Docs Nichtverstehen gar authentisch ist? Oder ist alles sowieso nur ein Traumbild, alles nicht wahr, real, echt?
    "Das kam nicht an. Noch mal. Vegas? Wolfmann? - Ne FBI-Sache. Die wollen jemand anderen auf dem Strip. Der kein Italiener ist. Klingelt's? So, wie Howard Hughes, als er das Desert Inn gekauft hat. - Howard Hughes war Italiener?"
    Vielleicht, Paul Thomas Anderson hat das mal erwähnt in einem Interview, ist "Inherent Vice" ja auch eine Adaption von "Alice im Wunderland". Und wer weiß schon, was am Ende des Kaninchenbaus lauert. Ein Regenbogen? Somewhere over the rainbow. Unwahrscheinlich. Aber jetzt gefragt: Wie verweist Paul Thomas Andersons wunderbare Thomas-Pynchon-Verfilmung "Inherent Vice" in seinen abstrusen Verschachtelungen auf unsere Zeit? Das Hier, das Jetzt. Ja, das ist so eine Frage. Eine gut, eine verständliche, eine nachvollziehbare, vollkommen berechtigte. Ja!
    "Können wir da ein bisschen auf den Busch klopfen. - Klar können wir. - Tatsächlich? - Was heißt das?"
    Also, in einem Film gewesen zu sein, der von so einer wunderbaren Durchgeknalltheit lebt, sie atmet, sie feiert wie Paul Thomas Anderson es in "Inherent Vice" tut, ein Film, der diese Geisteshaltung ebenso feiert wie eine gepflegte Form der Thomas-Pynchon-Paranoia, ebenso wie die, ich erwähnte sie bereits, diese unfassbaren Koteletten von Joaquin Phoenix, ebenso die sinnliche Hippie-Aura von Katherine Waterston, die sexuelle von Reese Witherspoon. Ja, ist hier zu sehen. Das Ende des Satzes kommt jetzt hier: Wenn einem soviel wird beschert, das ist schon einen Kinobesuch wert.
    "Das FBI. Ich meine, wir haben es vermutet, aber wir konnten es nicht beweisen. - Ich habe ihn in deren Obhut gesehen. - Du hast ihn gesehen? - Ja."
    Ich würde diesem Film ja Bären und Oscars geben, alle. Mindestens.