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Rebellion gegen die soziale Kälte

Wenn die Menschen allein, ohne Verwandte sterben, schlägt seine Stunde: Mr. May vom Londoner Sozialamt kümmert sich als "Funeral Officer" um die Bestattung. Doch dann soll seine Stelle gestrichen werden. Uberto Pasolini setzt in seinem Sozialdrama "Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit" ganz auf den grandiosen Hauptdarsteller Eddie Marsan.

Von Hartwig Tegeler | 03.09.2014
    Die Kälte des Neoliberalismus, die Verwerfungen, die die Politik Maggie Thatchers und die der Folgenden in Großbritannien angerichtet haben, wir werden viel davon sehen in "Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit". Auf den Punkt kommt das auch, wenn John Mays Chef sagt, was er von Tod, Trauer und Vergänglichkeit hält. Und dabei doch nur ein treffendes Bild gibt, wie die Gesellschaft mit den Lebenden umgeht.
    "Seien wir ehrlich, die Toten sind tot. Beerdigungen sind für die Lebenden. Und, wenn das keiner ist, interessiert es auch keinen. Richtig? Ich denke, für die Lebenden ist es vielleicht besser, nichts davon zu wissen. Also keine Beerdigungen, keine Trauer, keine Tränen."
    John Mays lakonischer, vielleicht devoter, so scheint es am Anfang, vielleicht ungläubiger Kommentar dazu:
    "Ich denke, so habe ich das noch nie gesehen, Mr. Pratchett."
    Mehr als ein Verwalter der sozialen Kälte
    John May scheint auf den ersten, allerdings nur auf diesen Blick ganz Erfüllungsgehilfe dieser Haltung, vollkommener Befehlsempfänger, der die soziale Kälte von seinem kleinen Büro irgendwo in den Katakomben der Londoner Sozialbehörde verwaltet. Aber das scheint nur so.
    Das kleine Büro in der Sozialbehörde.
    "Bezirksamt Kensington, John May am Apparat. Mr. Radulowicz. Sein Sohn. Aber der Nachname."
    Wenn die Menschen allein, ohne Verwandte sterben - Urbild der Einsamkeit in den Städten -, dann ist John May zuständig:
    "Also genau genommen kümmern wir uns in dieser Abteilung darum, die Angehörigen von Verstorbenen zu finden."
    Dieser zurückgenommene Mann - keine Bewegung in seiner Mimik -, dessen Alltag in seiner Sozialwohnung durchdrungen ist vom Geruch der Einsamkeit. Ja, Mr. May mag einsam sein, ein Eigenbrötler, wie viele von denen gewesen sind, die er zu Grabe trägt, aber Mr. May ist ein Mensch, der seinen Job nicht nur mit vollkommenen Pflicht-, sondern auch in ebensolchem Mitgefühl erledigt. Mitunter auch gegen die Interessen der Familienangehörigen, wenn sie denn existieren.
    "Nein, nein, die Familie ist nicht verpflichtet, die Kosten der Beerdigung zu tragen."
    Es ist sogar John May, der dem Pastor die Trauerreden schreibt, basierend auf den spärlichen Informationen, die er zusammen getragen hat. Mr. May hat mit anderen Worten ein Gefühl für die Vergänglichkeit. Und ist voller Empathie.
    Ein Job stirbt
    Eines Tages erscheint Mays Chef im kleinen Büro. Umstrukturierungs-, Rationalisierungsmaßnahmen. Mr. May ist nicht wirtschaftlich.
    "Oh nein, Sie verstehen nicht. Sie müsse nicht pendeln. Darum geht es ja. Angesichts der angespannten Finanzlage führt die Behörde Rationalisierungsmaßnahmen durch. Wir lassen Sie gehen."
    Aber da noch ein letzter Fall, eine letzter Toter, wochenlang in seiner Wohnung gelegen hat. Jetzt gibt John May, der "Funeral Officer", noch einmal alles; er begibt sich auf die Reise in das Leben des Toten. Und auf einmal wird die Recherche zur ganz eigenen Reise des Mr. May.
    Am Ende, nein, keine Sorge, das ist kein Happyend, von dem hier die Rede ist - wie der Film endet, das lassen wir beiseite -, also: Gegen Ende lächelt Mr. May einmal, der Mann, der sich um die verlorenen Seelen kümmert und selbst wie verloren wirkt. Das ist natürlich nur bemerkenswert, weil Eddie Marsan, der Mr. May mit einer herausragenden Intensität spielt, als Angestellter der Londoner Sozialbehörde, vorher nie, wirklich nicht einmal gelächelt hat. Uberto Pasolini hat 1997 schon die britische Sozial-Tragikomödie "Ganz oder gar nicht" produziert. "Ganz oder gar nicht" erzählt die Geschichte einer Gruppe von Arbeitslosen aus Sheffield, die eine ziemlich eigenwillige Strip-Show auf die Bühne bringen. Von hier führt eine direkte Linie zu Mr. May. Zu seiner sozialen Einsamkeit, aber eben auch seiner Menschlichkeit. Die ist Rebellion gegen die soziale Kälte. Sein Lächeln aber ist der Aufbruch, es ist das Abwerfen des Alten. Ein ungeheuer wuchtiges Kinobild. Man könnte heulen, so schön, so bewegend ist das in diesem wunderschönen, ruhigen Film, der eine herausragende Eigenschaft hat: So, wie sich John May für die interessiert, die er zu Grabe trägt, so interessiert sich Uberto Pasolini für die Menschen.