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Film: "She's Lost Control"
Aus dem Leben einer Sex-Therapeutin

Von Rüdiger Suchsland | 14.05.2015
    Ein Mann hat einen Kussmund am Hemdkragen.
    Ein Mann hat einen Kussmund am Hemdkragen. (picture alliance / dpa - Oliver Berg)
    Es gibt Berufe, an deren Existenz kann man kaum glauben. Zu ihnen gehört etwa jene der "Sexual Surrogates", jener medizinisch verschriebenen Therapeutinnen, die als Sexualpartner sexuelle Störungen und Intimitätsprobleme bei Männern korrigieren sollen - durch praktische Übungen.
    "He is with me for about two years and he has sustained problems with intimacy" - "Did you bring a check? Have a chair. You and I agree, to explore this part of my body" - "What we try to do here is help you, so that when you meet one special in your real life, you can work it out."
    Was klingt wie eine Männerfantasie, auf den ersten Blick zumindest, das gibt es wirklich, jedenfalls im bekanntlich sehr therapiefreudigen Amerika. Als so ein "Sexual Surrogate" arbeitet auch die Hauptfigur in diesem Film. Sie heißt Ronah und studiert Verhaltenspsychologie, die Therapietätigkeit ist nur ein Job. Gerade schreibt sie ihre Abschlussarbeit. Ihre Eizellen lässt sie für die Zukunft einfrieren - und dies ist in diesem Film ohne Frage auch eine Metapher für ein gefriergetrocknetes, gewissermaßen auf Eis gelegtes Leben.
    Ronah ist eine kühle, intelligente Frau, die sehr still ist und spürbar die Kontrolle über jeden Bereich ihres Lebens behalten will. Ein absoluter Profi, nicht nur in ihrem Gewerbe. Zugleich glaubt man zu erkennen, dass sie irgendetwas, eine seltsame Last mit sich herum trägt. Dann wird dieses Gefühl bestätigt, aber weiterhin vage. Denn wir sehen, dass Ronah sich abends eine Spritze setzt, aber wir wissen nicht, um was es sich handelt.
    Vielleicht ist es eine der wenigen echten Schwächen von Anja Marquardts selbst sehr kontrolliertem, mitunter überraschend strengem Spielfilmdebüt, dass der Titel des Films bereits zur Gewissheit werden lässt, was sonst noch länger im Unklaren bleiben würde: Dass es hier um eine Frau geht, die die Kontrolle verliert.
    Unbekannte und bedrohliche Krankengeschichte
    Dabei könnte alles ganz anders sein, viel schöner. Boy meets Girl, Junge trifft Mädchen - im bekannten Schema emotionaler wie sexueller Annährung, das eine der Basiskonstanten der Spielfilmgeschichte bildet, bewegt sich auch dieser Film. Doch von Anfang an ist die Begegnung nicht spontan, sondern vermittelt, liegt über ihr der Mehltau einer in ihren Einzelheiten unbekannten, dadurch umso bedrohlicheren Krankheitsgeschichte.
    "You like looking at me? Do you not feel save with me?" - Die Frage nach der Sicherheit verweist auf ihr Gegenteil, die Unsicherheit. Vor der schützen die detailliert gefassten Verträge zwischen Patient und Therapeutin. Wie sich herausstellt, ist Ronahs Souveränität vor allem angeschminkt. Sie selbst ist offenkundig auf andere Art sozial isoliert.
    Der jungen Deutschen Anja Marquardt, die - schon dies ist ungewöhnlich - in den USA Film studiert hat, ist in ihrem Spielfilmdebüt Erstaunliches geglückt. Ein Film, der stilistisch nicht allein wegen seiner Sprache und dem Schauplatz New York amerikanisch wirkt. Marquardt gelingt es, elegante, zwingende, zugleich statische Bilder zu finden, die sich einerseits zwar im Fahrwasser des neueren US-Independent-Kinos bewegen, und gelegentlich an Steven Soderberghs Arbeiten erinnern und andererseits etwas öfter an die dialogstarke, ausgefeilte Inszenierung unbeholfener Großstädter, die unter dem unübersetzbaren Überbegriff des "Mumblecore" inzwischen auch in Deutschland Nachahmer gefunden hat.
    Die Tyrannei des Intimen
    Marquardt erzählt so kühl und kontrolliert, dass der Film die Haltung seiner Hauptfigur zu spiegeln scheint. Zachary Galler's Kamera benutzt immer wieder extreme Großaufnahmen, mit denen er den Figuren wortwörtlich zu Leibe rückt. Von New York dagegen ist wenig zu sehen - der eigentliche Ort dieses Films soll ein universaler und noch nicht einmal notwendig amerikanischer sein. Fast wie eine Geisterstadt wirkt alles. Man sieht lange leere Flure, Passagen und gesichtslose, pastellfarbene Räume.
    Marquardt gelingt es über weite Strecken schlüssig und allenfalls etwas überbetont und auffällig eine grundsätzliche Situation gegenwärtigen Lebens zu beschreiben. Die Regisseurin diagnostiziert eine Unfähigkeit zur Intimität, die die Tyrannei des Intimen, die Soziologen seit etwa drei Jahrzehnten in den Gesellschaften des Westens konstatieren, ebenso spiegelt, wie sie womöglich mit dem Zerfall des Privaten in den neuen sozialen Netzwerken zusammenhängt. Auch wer ihr inhaltlich in solchen Bestandsaufnahmen nicht folgt, wird die Fragen, die dieser Film aufwirft, beantworten müssen.
    Im letzten Drittel des Films wird die Urangst vor Kontrollverlust bestätigt. Denn einer der Patienten von Rhona wandelt sich zu einem bedrohlichen Irren, und der Film zu einem Psychothriller. Und der hippe Mumblecore wird durch eine Dosis Horror à la David Cronenberg angereichert. Nicht überraschend, aber auch hierin schlüssig. - "I am a bad boy, I know"