Dienstag, 19. März 2024

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Film "Staudamm"
Leise Annäherung an das Schockthema Amoklauf

Der junge Berliner Regisseur Thomas Sieben zeigt in seinem Film "Staudamm" die Nachwirkungen eines Amoklaufs. Eine erstaunlich leise Annäherung an ein Schockthema, die aber funktioniert - auch dank des ausgezeichneten Spiels der Mimen Friedrich Mücke und Liv Lisa Fries.

Von Rüdiger Suchsland | 30.01.2014
    Ein junger Mann joggt. Er joggt allein durch den frischen Schnee. Jeder seiner Schritte hinterlässt Spuren - ein sehr schönes Kinobild in diesem Film, denn so geht es dem jungen Mann, einer der beiden Hauptfiguren des Films, auch sonst in den letzten Tagen. Dieser Mann heißt Roman, und er verdient sich sein Studium damit, Polizeiberichte, Akten und Prozess-Dokumente für einen Rechtsanwalt zu recherchieren und auf Band zu sprechen, damit der sich das Material anhören kann.
    Seit Kurzem ist er in einem beschaulichen Provinzkaff in den bayerischen Vorderalpen, für seinen neuesten Fall.
    - "Bist nicht von hier, oder?
    - "Nein."
    - "München? Bin Laura."
    - "Roman!"
    Dieser neue Fall entpuppt sich schon in den ersten Stunden als alles andere als übliche Routine:
    - "Du bist wegen Peter hier, oder?"
    - "Was für 'n Peter?"
    - "Peter Wagner, der Junge, der in der Schule da..."
    Man kann es nicht aussprechen, was passiert ist, dafür sitzt das Trauma zu tief. Das Trauma, unter dem diejenigen leiden, die einen Amoklauf erlebt und überlebt haben, die mit den Todesopfern befreundet waren, und vielleicht auch mit dem Täter. So wie Laura:
    - "Kanntest Du den?"
    - "Klar kannt' ich den. Soll ich Dir vielleicht die Schule zeigen. Also wo er's gemacht hat?"
    Gibt es eine Erklärung für derartige Taten?
    Anfangs mag bei Roman noch die gleichgültige Grundhaltung eines stillen Einzelgängers dominieren. Doch das ändert sich bald, als er mit der kaum begreifbaren Tat eines Amokläufers durch die Augen von dessen Mitschülerin Laura konfrontiert wird - eine Augenzeugin des Geschehens, bei dem ihr Klassenkamerad 17 Schüler und Lehrer erschossen hat. Eine seltsame Anziehung stellt sich zwischen beiden ein und Roman versucht zu verstehen, was damals geschehen ist.
    Gibt es überhaupt eine Erklärung für derartige Taten oder wird alles am Ende für immer im Dunkeln bleiben?
    Wie erzählt man von einem Amoklauf, ohne Gewalt zu zeigen, Tote, viel Brutalität und Blut? Das ist das schwierige Unterfangen, dass sich der junge Berliner Regisseur Thomas Sieben vorgenommen hat. Sieben, geboren 1976, hatte bereits in seinem Debüt "Distanz" in kühl anmutender Beobachtungsmanier die Psyche eines jungen Mannes rekonstruiert, der zwischen Gleichgültigkeit und Gewaltausbrüchen schwankte.
    "Staudamm" ist demgegenüber der noch reifere Film.
    Dazu bei trägt das ausgezeichnete Spiel der Darsteller. Gemeinsam mit Friedrich Mücke spielt Liv Lisa Fries die zweite Hauptrolle - Fries, die allein in diesem Monat schon mehrere Preise bekam, zuletzt am Wochenende den Darstellerpreis beim Festival in Saarbrücken, ist mindestens die Entdeckung der Saison. Ihr nuanciertes Spiel voller Understatement trägt den Film und erleichtert den Zugang zu einem so schwierigen Thema.
    Im Vergleich zu den vielen so spektakulären wie spekulativen Annäherungen an das Thema Amoklauf ist die behutsame distanzierte Annäherung dieses klugen Regisseurs an die schrecklichen Geschehnisse scheinbar kühl. Doch der Horror kriecht bald förmlich aus den Akten.
    "Die Lichtverhältnisse in der Schule an dem Tag waren eher dunkel. Peter Wagner begann sein Tötungsvorhaben an der Schule um ca. zehn Uhr fünf in die Tat umzusetzen."
    Dem neugierigen Fremden begegnen im Dorf Anfeindungen
    Die beiden Hauptfiguren schlagen gemeinsam mit Kiffen, Alkohol und Billard die Zeit tot, schleichen nachts durch das verlassene Schulgebäude, und begehen den titelgebenden Staudamm, an dem der Täter von der Polizei gestellt und erschossen wurde.
    Zugleich begegnen dem neugierigen Fremden im Dorf Anfeindungen. Sein Auto wird zerkratzt. Und die Rolle Lauras bleibt zunächst geheimnisvoll, voller Andeutungen.
    Immer besser kann man mit der Zeit dann verstehen, was womöglich im Kopf eines Massenmörders vor sich geht und was das monströse Verbrechen auch mit Laura und Roman anstellt, wie es die Überlebenden zeichnet. Der kleine Ort befindet sich noch immer in Schockstarre und Laura, das Mädchen, das mit dem Täter befreundet war, kann sich Roman gegenüber erst langsam öffnen - irgendwann dann zeigt sie ihm und damit uns das intime Tagebuch des Amokläufers - ohne Klischees und Stereotypen. Eine erstaunlich leise Annäherung an ein Schockthema, ein empfehlenswerter Film.
    "Die Leute sagen immer Amoklauf. Peter hat es ganz bewusst gemacht."