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Film "The Voices"
Im Kopf eines Serienmörders

"The Voices", der neue Film von Marjane Satrapi, ist ein Ritt durch die kranke Phantasie eines Serienmörders. Dabei versucht dieser komplett in Berlin-Babelsberg gedrehte Film das Kunststück, die verdrehte Welt des Psychopathen abzubilden. Jede Szene ist ein kleines Kunststück.

Von Josef Schnelle | 26.04.2015
    Ein Messer liegt in Kunstblut.
    Die in Paris lebende Iranerin Marjane Satrapi hat zum ersten Mal einen nicht von ihr selbst verfassten Stoff verfilmt. (picture alliance / dpa / Fritz Schumann)
    Jerrys Welt ist bunt, knallbonbonbunt. Seine Wohnung strahlt. Er selbst ist immer gut gelaunt und kann sogar der Vokuhila-Frisur seines Kollegen in der Autofabrik etwas abgewinnen. Er freut sich auf den Betriebsausflug weil man da, wie er meint, neue Freundschaften schließt. In seine Kollegin aus der Buchhaltung, Fiona, ist er sowieso verliebt. Das Leben ist schön und alles fällt ihm leicht. Doch etwas stimmt nicht mit ihm. Er hat einen Hund und eine Katze und lebt ganz allein. Beide aber sprechen mit ihm.
    "Hört sogar auf mich." - "Wo zum Teufel ist mein Futter, du Hackfresser." - " Hi, Mr. Whiskas." - "Wenn nur diese verlauste Tölle nicht wär." - "Du bist'n braver Hund." - "Du bist'n guter Junge." - "Hören Sie manchmal Stimmen?" - "Töte ihn. Fick den Köter." - "Stimmen? Nein."
    In Wahrheit machen ihm die ständigen Stimmen in seinem Kopf zu schaffen. Jerry muss Medikamente nehmen, um seine Schizophrenie in Zaum zu halten. Doch meist lässt er die Pillen einfach weg. Sonst erwiese sich das Leben noch als grau und leer. Lieber unterhält er sich mit seinem Kater, der gewitzt und durchtrieben ist. Immer wieder macht ihm der Kater Mr. Whiskas in grober obszöner Wortwahl böse Vorschläge, gegen die der nette und freundliche Hund Bosco mit seiner verbindlichen Art meist nicht anzukommen vermag. Ab und zu wehrt sich Jerry gegen seinen bitterbösen Kater: ""Ich muss nicht auf dich hören. Du bist n Kater." - "Aber ein Kater, der Sprechen und Argumentieren kann. Das ist ein Weltwunder."
    Soweit so harmlos. So bleibt es aber nicht. Wenn Jerry die Pille nimmt, was er von Gerichts wegen muss, verändert sich die Welt Jerrys spektakulär. Seine schöne lichtdurchflutete Wohnung erweist sich als Drecksloch und der Kater macht nur Miau und der Hund wuff. Und dann tritt das Grauen in sein Leben. Jerry ist im wahren Leben nämlich ein Serienmörder, der Leichenteile in Schachteln aufhebt und abgeschlagene Köpfe von Opfern im Kühlschrank verrotten lässt.
    "Aber einnehmen. " - "Jetzt ist er wie ausgewechselt." - "Nehmen Sie die Pille, die Pille." Jerry schmeißt die Pillen weg und tauscht sein Mörderleben lieber gegen ein buntes poetisches Märchen à la Dr. Dolittle ein, in dem ihn stets Schmetterlinge umkreisen und der abgeschnittene Kopf seines zerstückelten Opfers Fiona im Kühlschrank kokett mit ihm flirtet. "Jerry, Jerry." - "Hi Fiona." - "Sieh‘, was Du mir angetan hast."
    Zwischen blutigem Horror und absurder Komödie versucht dieser komplett in Berlin-Babelsberg gedrehte Film das Kunststück, die verdrehte Welt eines Psychopathen abzubilden, wozu Kameramann Maxime Alexandre mit seinen widerstreitenden Farbkonzepten für die Phantasie und für die Realwelt keinen geringen Beitrag leistet. Da ist jede Szene ein kleines Kabinettsstückchen. Die in Paris lebende Iranerin Marjane Satrapi hat hier nach zwei Filmen, die ihren gezeichneten Novellen-Comics folgten, nach "Persepolis" 2007 und "Huhn mit Pflaumen" 2011 zum ersten Mal einen nicht von ihr selbst verfassten Stoff verfilmt. Von den autobiographischen Grundzügen ihrer ersten beiden Filme löst sie sich dabei äußerst radikal und begibt sich mit boshafter Lust in die Sphären des "Grand Guignol-Theaters" der gleichnamigen Pariser Gruselbühne der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren meist blutigen Schockeffekten. Der krause Humor, mit dem Satrapi die scheinbar realistischen Szenen anreichert, steigert noch die surreale Stimmung dieses irren Ritts durch die kranke Phantasie eines Serienmörders. Nur so lässt sich wahrscheinlich das Verbrechen ertragen: indem man es völlig aus seiner Wahrnehmung ausblendet und die Wirklichkeit zum Disneymärchen stilisiert.