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Film "Winterschlaf"
Überdruss und Sehnsucht

Der Gewinner der Goldenen Palme von Cannes in diesem Jahr war das Filmepos "Winterschlaf" des türkischen Regisseurs Nuri Bilge Ceylan vor. Der Film handelt von der Wiederkehr des Verdrängten in der Türkei und von den Schuldgefühlen der Intellektuellen, sich von der einfachen Bevölkerung und türkischen Traditionen entfernt zu haben.

Von Rüdiger Suchsland | 11.12.2014
    "Kannst du bitte damit aufhören, was willst du mehr?"
    "Deine Güter treibt mir die Tränen in die Augen"
    Szenen einer Ehe, in der Türkei, irgendwo im Hinterland von Kappadokien. Aber das Paar, das sich hier streitet, eine jüngere Frau, Mitte 30 und ihr etwa 15 Jahre älterer Mann, kommen aus Istanbul, der brodelnden Metropole der Künstler und Intellektuellen. Er heißt Aydin und ist ein Theaterschauspieler, der sich vor einiger Zeit in seinem Elternhaus zur Ruhe gesetzt hat. Dort betreibt er nun ein Hotel, dirigiert mithilfe eines Verwalters das Personal und die von ihm als Grundbesitzer abhängigen Bewohner der Gegend und lebt mit seiner Schwester und Ehefrau Nihal zusammen. Sein künstlerischer Ehrgeiz aber ist weiterhin ungebrochen, nun schreibt er Zeitungs-Kolumnen, in denen er der Bevölkerung des türkischen Hinterlandes ihre Borniertheit vorhält, ihren fehlenden Sinn für Schönheit, und ihre übertriebene, zur Bigotterie gesteigerte Religiosität kritisiert, und die Frage stellt, wie "zivilisiert" der Islam sei.
    Aydin ist in diesem Film am ehesten auch die "Stimme des Autors", des Regisseurs Nuri Bilge Ceylan. Seit Jahren ist Ceylan der wichtigste Filmemacher seines Landes. Wie in seinen früheren Filmen sind seine Bilder auch hier ruhig, und am Stil von Robert Bresson und Andreij Tarkowski orientiert. Doch dieser Film ist weniger lakonisch, vielmehr erstaunlich gesprächig:
    "... und tut auch noch so, als sei er dieser Gott, der er nicht ist. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?"
    Ernste moralische Debatten
    Die Handlung wechselt zwischen Szenen, die Aydin mit seiner Umgebung konfrontieren, und langen Passagen, die die Gespräche zwischen Aydin und seiner Schwester und seiner Frau zeigen. Immer wieder münden diese in ernste moralische Debatten, in denen unausgesprochene Verletzungen zutage treten, und die für Aydin zu persönlichen Herausforderungen werden. Plötzlich scheint Aydins ganzes Leben und sein Charakter auf dem Prüfstand zu stehen.
    "Wenn ich es schaffen könnte, einige meiner Verhaltensweisen zu ändern. Das heißt also, dass ich in deinen Augen schuldig bin."
    Beiden Ehepartnern fällt es schwer, empathisch die Sicht des je Anderen einzunehmen, beide verstricken sich immer wieder in egozentrische Befindlichkeiten. So wie Aydins patriachales Selbstverständnis längst erschüttert ist, so leidet Nihal als reiche "Tatenlose" unter Schuldkomplexen gegenüber der armen Landbevölkerung, die von ihrem Gatten abhängig ist, dessen Verhalten Nihal als "herzlos" empfindet.
    Aydins Schwester ist frisch geschieden und leidet unter ihrem scheinbar verfehlten Leben.
    So ist dies ein psychologisch triftiges universales Drama, deren Figuren-Dreieck sich sogar freudianisch in den Metaphern Ich, Es und Über-Ich deuten lassen. Die Schwester repräsentiert nämlich auch die Stimme der Familie, der Eltern, der Tradition.
    Dichtes Beziehungsgeflecht
    Doch "Winterschlaf" ist noch weit mehr: Um die drei Haupt-Figuren entspinnt sich ein dichtes Beziehungsgeflecht, ein Mikrokosmos, der durchaus als Analogie auf die gesellschaftliche Situation der Türkei verstanden werden kann, als Porträt "in der Nussschale": Es gibt einen Hodscha und einen Lehrer, es gibt Proletarier und Kleinbürger, einen treuen Verwalter und junge Männer mit Wutbürger-Allüren. Aydin steht für die wohlhabende, gebildete, kunstinteressierte und modern ausgerichtete kemalistische Elite der Türkei und ihre jüngsten Desillusionierungsprozesse, den Verlust der kulturellen und politischen Hegemonie.
    Nuri Bilge Ceylan zeigt die zwei Seiten der Türkei, die "weiße", aufgeklärte, gebildete, und die "schwarze", die im derzeitigen Erdogan-Regime die Macht übernommen hat, und eine im neoliberalen Gewand eine bornierte Re-Osmanisierungspolitik betreibt.
    Großartige Zuspitzung
    "Winterschlaf" handelt von der Wiederkehr des Verdrängten in der Türkei, wie auch von den Schuldgefühlen der Elite, der Intellektuellen, sich von der einfachen Bevölkerung und türkischen Traditionen entfernt zu haben.
    Zugleich besitzt alles aber einen universalen Kern: Es geht um die uns alle betreffende Frage, wie man mit seinem eigenen Altern und seiner Sterblichkeit umgeht, mit seinen Mitmenschen, um Überdruss und Sehnsucht. Das schöne Unglück, die elegische Melancholie, die den Grundton dieses Films bildet unterstützen elegische Cinema-Scope-Aufnahmen der schneebedeckten Berg-Landschaft.
    Immer wieder kommt es zu großartigen Augenblicken unvermittelter Zuspitzung. Wenn Aydin etwa ein Wild-Pferd beobachtet, dass eingefangen und mit einem Seil um den Hals gefesselt wird, immer enger, bis es elend röchelt, dann ist das ein Sinnbild für die Zwänge, denen die Natur in der Zivilisation begegnet. Aber mit seinem durch Erschrecken wie Erstaunen geweiteter Blick, mit dem er das Pferd beobachtet, das sich im Verzweiflungskampf wehrt, gegen die Stricke, die es fesseln wollen, blickt er auch sich selber, seiner eigenen Lage ins Gesicht.