Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Filmfestival GoEast in Wiesbaden
Aufwühlende Geschichten

Das goEast Festival präsentiert Kino aus Mittel- und Osteuropa. Neue Leiterin ist Heleen Gerritsen, die eine anspruchsvolle Auswahl zeigt. So viel herausragende Filmkunst, gleichermaßen im Spiel- und Dokumentarfilm, sah man auf dieser wichtigen Plattform noch nie.

Von Kirsten Liese | 24.04.2018
    Das goEast Festival in Wiesbaden zeigt Filme aus Mittel- und Osteuropa. Das Bild zeigt das Logo des Festivals
    Das goEast Festival in Wiesbaden zeigt Filme aus Mittel- und Osteuropa (©goEast )
    Um einen rätselhaften Mord in einem mittelalterlichen Zauberwald ranken sich die Märchen einer alten Hofdame. Der russische Schwarzweißfilm "Der unerschöpfliche Beutel" bietet große Filmkunst. Er unterstreicht den auffallend hohen Anspruch, der den 18. Wettbewerbsjahrgang in Wiesbaden prägte.
    In der Umsetzung weniger überzeugende Produktionen hat die neue Festivalleiterin Heleen Gerritsen nur in Ausnahmen zugelassen. Nur wenn es um sehr wichtige politische Kommentare geht:
    "Aktuelle politische Themen sind toll, auch weil die Medien in Deutschland daran anknüpfen können, aber ich finde nicht, dass Regisseure, nur weil sie aus einem bestimmten Land kommen in der Pflicht stehen, uns ihr Land zu erklären oder bestimmte Sachen aus ihrer Gesellschaft zu rechtfertigen oder unser Weltbild zu bestätigen. Ich finde es schön, wenn da eine große Diversität vorhanden ist."
    Beklemmende Szenen von rechter Gewalt
    Unaufdringlich inszenieren viele osteuropäische Filmemacher aufwühlende Geschichten. Gesellschaftliche Zustände bilden nur den Hintergrund.
    Am Beispiel einer Gehörlosen, die den Tod zweier Menschen herbeiführt, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern, offenbaren sich in dem kasachischen Sozialdrama "Sveta" die verheerenden Zustände in einem Land, in dem sich nur Abgebrühte über Wasser halten können.
    In dem Drama "Es war einmal im November" leiden eine obdachlos gewordene Lehrerin und ihr erwachsener Sohn unter dem rauen gesellschaftlichen Klima in Warschau: In keine Notunterkunft dürfen sie ihren treuen Hund mitnehmen. Ihre prekäre Situation spitzt sich lebensbedrohlich zu, als gewaltbereite Rechtsextreme, deren Großdemonstration der Film mit dokumentarischen Aufnahmen belegt, Jagd auf sie machen.
    Niemand will die Kriegsverbrechen aufklären
    Zu einem angefeindeten Einzelkämpfer wird auch ein Bergarbeiter in dem komplexen, preisverdächtigen Film "Unter Tage". Mit ihm schafft die Slowenin Hanna Slak kein einfaches Plädoyer für die Menschlichkeit. In einer verlassenen Mine entdeckt der Protagonist Überreste von Menschen, die dort nach Ende des Zweiten Weltkriegs getötet wurden. Außer ihm will niemand diese Verbrechen an Tausenden von Kriegsverlierern aufklären.
    Geschickt verbindet die Regisseurin das private Trauma ihres Helden, dem als Bosnier das Schicksal der in Srebrenica ermordeten Landsleute gewärtig ist, mit öffentlicher Verdrängung.
    "Es ist schwierig darüber zu reden, weil kein einziger Mensch je identifiziert wurde, es gibt auch keinen Willen, diese Menschen zu identifizieren Wenn diese Wahrheiten einfach nicht zugelassen werden, dann wächst dieses Trauma in der Gesellschaft und ich glaube, es ist sehr nötig, über diese verborgenen Wahrheiten zu reden, einfach, um uns davon zu befreien."
    Suche nach Identität
    Wie die Vergangenheit in die Gegenwart eindringt, schildert auch Márta Mészáros, die alte große Dame des ungarischen Kinos, in ihrem jüngsten bewegenden Werk "Aurora Borealis". Da gelangt eine Wiener Anwältin hinter die schmerzreichen Geheimnisse ihrer Mutter, die nach der Flucht aus dem sowjetisch besetzten Ungarn in einem österreichischen Kloster entbunden hatte.
    "Klosterschwester: Viele Frauen haben damals bei uns entbunden. Sie hatten Angst. - Olga: Wovor? –Vor den Sowjets. Wenn die Papiere von jemandem in der sowjetischen Zone nicht in Ordnung waren, konnte der von Polizei verschleppt werden. - Ein Blatt fehlt. Die Geburten im August. – Das ist rausgerissen worden."
    Für all diese bemerkenswerten Produktionen reichen die wenigen GoEast-Preise gar nicht aus. Ein einzigartiger, meditativer Tierfilm mit dem Titel "Der Sagenwald" empfahl sich als ein weiterer würdiger Favorit: Ohne Musik und Kommentar, durchwirkt von kuriosen Szenen und betörend schönen, poetischen Bildern in den ursprünglichen Wäldern Litauens, in denen der Mensch als Eindringling nur stört, überragt er alles, was das osteuropäische Kino bislang auf dem Gebiet des Dokumentarfilms hervorbrachte.