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Bund Deutscher Verwaltungsrichter
Sperrstunde könnte überall fallen

Dass Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie in manchen Bundesländern von Gerichten gekippt werden und in anderen nicht, liege auch an Interpretationsspielräumen der Richter, sagte Robert Seegmüller, Richter am Bundesverwaltungsgericht, im Dlf. Für einheitliche Rechtssprechung brauche es mehr Vorgaben der Bundesebene.

Robert Seegmüller im Gespräch mit Stephanie Rohde | 17.10.2020
Zwei Polizisten kontrollieren in Berlin die Einhaltung der Sperrstunde. Inzwischen hat das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrstunde aber gekippt.
Zwei Polizisten kontrollieren in Berlin die Einhaltung der Sperrstunde. Inzwischen hat das Berliner Verwaltungsgericht die Sperrstunde aber gekippt. (picture alliance/Christophe Gateau/dpa)
Um die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen, hat die Politik neben vielen weiteren Maßnahmen auch ein Beherbergungsverbot und eine Sperrstunde eingeführt. Doch das Beherbergungsverbot gilt nur noch in wenigen Ländern, denn teilweise haben Gerichte es gestoppt, wie in Baden-Württemberg, Niedersachsen und in Brandenburg. In Schleswig-Holstein hingegen hatte das Beherbergungsverbot vor Gericht Bestand.
Ähnliches zeichnet sich nun auch mit der Maßnahme der Sperrstunde ab. In Berlin hat das Verwaltungsgericht die Sperrstunde für die Klagenden außer Kraft gesetzt, auch in anderen Städten klagen Menschen dagegen.
Über den juristischen Umgang mit den Corona-Maßnahmen haben wir mit Robert Seegmüller gesprochen. Er ist Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen und Richter am Bundesverwaltungsgericht.
Stephanie Rohde: Warum kippen Gerichte die Beherbergungsverbote nicht einfach überall?
Robert Seegmüller: Es hat in der Tat in den letzten Tagen eine ganze Reihe obergerichtlicher Entscheidungen gegeben. Drei Obergerichte – Sie haben sie angesprochen, in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Berlin-Brandenburg – haben die Beherbergungsverbote gekippt, zwei Gerichte – Sie haben genannt das in Schleswig-Holstein, aber auch das OVG Hamburg – haben die Beherbergungsverbote erst einmal bestätigt.
Robert Seegmüller, Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen, spricht am 01.06.2016 auf dem 18. Deutschen Verwaltungsgerichtstag in Hamburg.
Robert Seegmüller, Vorsitzender des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (picture alliance/dpa/Lukas Schulze)
Die Ursachen dafür sind vielfältig, ich will vielleicht drei Punkte kurz herausgreifen: Zum einen ist Rechtsprechung letztlich von ihrer Natur her schon recht uneinheitlich angelegt. Zum Zweiten sind die zu entscheidenden Fälle und die Argumente der Beteiligten natürlich nie ganz gleich. Und zum Dritten hängen die unterschiedlichen Entscheidungen ganz entscheidend mit dem Maßstab für die obergerichtlichen Entscheidungen zusammen. Ich will’s kurz erläutern, wenn ich darf. Der erste Punkt: Dass Gerichte in einheitlich gelagerten Fällen zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen der Rechtslage kommen können, ist wie gesagt der Rechtsprechung immanent. Sie wird durch persönlich und sachlich unabhängige Richterinnen und Richter ausgeübt, die sind nur dem Gesetz unterworfen und nicht an Weisungen gebunden. Diese Unabhängigkeit ist auch in der Verfassung garantiert, und soweit Gesetze Interpretationsspielräume lassen, hängt es daher wesentlich vom jeweils entscheidenden Gericht ab, wie der Fall ausgeht. Man spricht daher auch davon, dass Rechtsprechung konstitutionell uneinheitlich ist.
Ein Schild hängt unweit vom Dom vor einem Hotel.
Aktuelle Übersicht über die Beherbergungsverbote in den Bundesländern
Die Vielzahl an Beherbergungsregeln in den 16 Bundesländern konnte auch der Bund-Länder-Gipfel nicht vereinheitlichen. Eine Übersicht der aktuellen Regeln.
Rohde: Ja, Herr Seegmüller, aber wenn wir jetzt mal schauen auf die Fälle zum Beispiel Verreisende, die haben ja dieselbe Gefährlichkeit, egal ob sie jetzt nach Schleswig-Holstein fahren oder nach Baden-Württemberg. Da kann man doch einheitlich entscheiden, oder?
Seegmüller: Ja, der zweite Punkt ist natürlich, dass die Fälle, die entschieden wurden, halt doch nie ganz völlig gleich sind. Gegenstand der gerichtlichen Entscheidungen sind jeweils Landesverordnungen über Beherbergungsverbote. Die darin enthaltenen Regelungen waren halt nicht ganz identisch, sondern wiesen zum Beispiel hinsichtlich der betroffenen Beherbergungsgebiete und der Personenkreise und vor allem der Möglichkeit, sich von den Beschränkungen freizutesten, zum Beispiel ganz unterschiedliche Regelungen auf. So ist beispielsweise dann auch in Niedersachsen die Verordnung unter anderem aus einem rein in der Verordnung Niedersachsen liegenden Grund auch beanstandet worden, weil nämlich die Verordnung auch außerdem unbestimmt war. Das ist auch ein wichtiger Punkt.
Infektionsschutzgesetz wird als Bundesgesetz dezentral vollzogen
Rohde: Schauen wir kurz noch auf die Sperrstunde, die in Berlin gekippt wurde. Was sagen Sie, wird das absehbar dann auch in anderen Bundesländern gekippt werden?
Seegmüller: Das halte ich für möglich, aber jetzt kann man es noch nicht endgültig absehen. Die Argumente, die das Verwaltungsgericht in Berlin gebracht hat, waren ja solche, die sich möglicherweise auch auf Sperrstunden in anderen Bundesländern vereinheitlichen beziehungsweise erstrecken lassen. Das Verwaltungsgericht hat nicht erkennen können, welchen Infektionsschutznutzen die Beschränkung der Öffnung von Gaststätten nach 23 Uhr haben kann. Das heißt aber natürlich nicht, dass die betroffenen Gesundheitsbehörden in anderen Ländern da nicht noch nachlegen können und einen gesteigerten Nutzen für den Infektionsschutz noch belegen können, denn entscheidend hängt es natürlich auch immer davon ab, wie die Grundrechtseingriffe, die in den Verordnungen drinstehen, auch tatsächlich begründet werden. In Berlin hat’s jetzt noch nicht gereicht, aber ob es in Nordrhein-Westfalen reicht, werden wir sehen, zum Beispiel, wenn es dann entschieden werden muss.
Rohde: Aber Herr Seegmüller, es fragen sich ja jetzt schon viele Leute, wenn Sie auf die Sperrstunde schauen und auf das Beherbergungsverbot und diese ganzen gekippten Entscheidungen, warum können Sie da nicht im Bundesverwaltungsgericht ein für allemal in ganz Deutschland entscheiden? Die Justiz wird doch auch gesehen als Korrektiv für die Politik, und gerade jetzt wäre das doch sehr, sehr gut für die Justiz, um Akzeptanz auch zu gewinnen.
Seegmüller: Zum einen, rein von der jetzigen Prozessordnung her, ist ein Rechtsmittel in diesen Eilverfahren an das Bundesverwaltungsgericht nicht vorgesehen. Das hängt auch damit zusammen, dass diese ganzen Entscheidungen, um die es jetzt geht, ja in sogenannten Eilverfahren ergangen sind, und wie der Name schon sagt, soll die Entscheidung ja dann auch schnell fallen, weil die Entscheidung eben auch sehr eilig für die jeweils Betroffenen ist. Wenn man den Fall, zum Beispiel in einem Beherbergungsverbot, erst mal noch in eine zweite Instanz schickt, dann ist möglicherweise der Urlaub, der ja angetreten werden soll, kurzfristig schon verstrichen, und dann nützt der ganze Rechtsschutz den Betroffenen auch nichts mehr. Also es gibt schon gute Gründe, warum man tatsächlich vielleicht auch keine zweite Instanz in diesen Fällen vorsieht.
Blick auf Strandkörbe und den Strand in St. Peter-Ording
Unklare Verbraucherrechte bei Beherbergungsverbot 
Dass Reisen aufgrund des Beherbergungsverbots nicht stattfinden können, sei eine neue Situation, sagte Verbraucherschützerin Beate Wagner im Dlf. Kostenfrei zu stornieren, sei schwierig.
Zum anderen geht es halt von der Struktur her des Infektionsschutzgesetzes um im wesentlichen Landesrecht. Diese ganzen Verordnungen, um die es geht, sind landesrechtliche Verordnungen, und das Bundesverwaltungsgericht kann regelmäßig nur – ich verkürze es jetzt ganz stark – Verstöße gegen bundesrechtliche Vorschriften kontrollieren. Das heißt also, wenn ein Landesgericht etwas zu Landesrecht sagt, sind wir regelmäßig an deren Einschätzung vom Inhalt des Landesrechts gebunden und können allenfalls kontrollieren, ob bundesrechtliche Maßstäbe verletzt sind. Deswegen wird die Sache, auch wenn man das Gesetz ändern wollte, recht schwierig.
Rohde: Ich würde gern noch mal bei diesem Punkt des Eilverfahrens bleiben und der Unmöglichkeit, da das Bundesgericht anzurufen. Könnte man nicht bei so wichtigen Rechtsfragen, wie jetzt gerade in dieser Pandemie, ausnahmsweise so etwas machen wie eine Zulassungsbeschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, und dann muss man eben nicht dieses Eilverfahren machen, sondern dann könnte das Bundesgericht direkt entscheiden.
Seegmüller: Sie sprechen jetzt eine bestimmte Form der Ausgestaltung eines weiteren Rechtsmittels an, das ist natürlich theoretisch denkbar, aber wie Sie es schon beschrieben haben, wenn es um eine Zulassungsbeschwerde geht, dann muss ja erst einmal ein Verfahren bei dem ersten Gericht, bei dem Oberverwaltungsgericht zum Beispiel geben. Und dann erst könnte praktisch, wenn dieses die Beschwerde zulässt, den Weg zum Bundesverwaltungsgericht freimachen. Es bleibt dann letztlich dabei, es bleiben zwei Instanzen, und das Bundesverwaltungsgericht muss dann eben ganz unterschiedliche Rechtsverordnungen wieder anschauen. Die niedersächsische ist eben vielleicht nicht so wie die baden-württembergische, und wenn die niedersächsische letztlich unbestimmt ist, die baden-württembergische aber nicht, dann muss schon deswegen fast zwingend was Unterschiedliches rauskommen können, weil eben vielleicht auch ein Grund für die Beanstandung nur in der jeweils einzelnen Verordnung liegt.
Klare bundesrechtliche Maßstäbe schaffen
Rohde: Wären Sie dafür, dass man das macht – Entschuldigung –, wären Sie für so eine Reform, dass die Politik diese Reform auf den Weg bringt, damit man eine einheitliche Entscheidung dann auch in Deutschland in der Pandemie hat?
Seegmüller: Ich glaube, dass die Schaffung eines weiteren Rechtsmittels, ohne dass man auch am materiellen Recht etwas ändert, nicht viel bringen würde. Deswegen würde ich es erst mal nicht befürworten, aber es gibt vielleicht einen anderen Weg, wie man in der Tat zu mehr Einheitlichkeit kommen. Wenn man anschaut, wie das materielle Recht, also das Infektionsschutzgesetz – da sind ja geregelt die Voraussetzungen, unter denen die jeweiligen Landesgesundheitsbehörden in die Grundrechte eingreifen können. Diese Vorschriften sind bisher relativ vage formuliert, vage ist jetzt keine Aussage in dem Sinne, dass die vielleicht verfassungswidrig sind oder so, aber es sind nicht viele Regeln getroffen.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Wenn der Gesetzgeber, der Bundesgesetzgeber jetzt hergehen würde und sagen würde, ich regele jetzt die Voraussetzungen, unter denen ein Beherbergungsverbot, eine Sperrstunde, ein Alkoholausschankverbot im Bundesgebiet erlassen werden kann von den Landesgesundheitsbehörden einheitlich im Infektionsschutzgesetz, dann stellt sich die Lage ganz anders dar. Dann gibt es nämlich klare bundesrechtliche Maßstäbe, an denen sich die Gewerbetreibenden und die Gesundheitsbehörden und natürlich auch die betroffenen Personen orientieren können. Und wenn dann Streit aufkommt, dann macht es auch Sinn, das Bundesgericht zu fragen, das Bundesverwaltungsgericht zu fragen, dann wäre vielleicht auch eine tatsächlich zweite Instanz sinnvoll, weil dann eben der Zugriff für das Bundesgericht auch Bundesrecht wäre.
Rohde: Das heißt, Sie fordern, die Politik muss eigentlich bessere Gesetze machen.
Seegmüller: Bessere Gesetze klingt schon so bewertend, ich würde jedenfalls sagen, vielleicht genauere Gesetze und präzisere Regelungen und vor allem bundesrechtliche Regelungen. Je mehr bundesrechtliche Regelungen da sind, umso mehr Einheitlichkeit im Bundesgebiet herrscht auch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.