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Filmfestspiele von Venedig
Lieblinge, der Hype und eine gespaltene Jury

Die Löwenjagd ist vorbei. In Venedig ging am Samstagabend die "Mostra Internazionale di Cinema" zu Ende. Die Jury zeigte sich in diesem Jahr tief gespalten. Durch die Teilung des Regie-Preises handelte sie sich viel Kritik ein. Auch die Verleihung des Hauptpreises an Lav Diaz stieß nicht nur auf Begeisterung. Eine Bilanz.

Von Rüdiger Suchsland | 11.09.2016
    Der philippinische Regisseur Lav Diaz hält bei der Preisverleihung der 73. Internationalen Filmfestspiele in Venedig am 10.9.2016 den Goldenen Löwen, den er für seinen Film "The Woman Who Left" ("Ang Babaeng Humayo") erhalten hat.
    Der Goldene Löwe ging in diesem Jahr an den philippinischen Regisseur Lav Diaz. (picture alliance / dpa / Ettore Ferrari)
    Original, gewagt, kompromisslos. Für ihn sei dies der beste Film gewesen, sagte Jurypräsident Sam Mendes in Venedig, und meinte damit nicht etwa den Sieger, sondern Tom Fords Wettbewerbsbeitrag "Nocturnal Animals", der einen der beiden Jurypreise bekommen hatte.
    Ein kleiner Affront, der ebenso wie die Teilung des Preises für die beste Regie zwischen den sehr ungleichen Filmemachern Amat Escalante aus Mexiko und Andreij Konchalowsky aus Russland Bände sprach.
    Gespaltene Jury
    Offenbar war die Jury in diesem Jahr sehr gespalten in ihrem Geschmack und zwischen Künstleregos wie Laurie Anderson, Joshua Oppenheimer und eben Sam Mendes, der am Ende der Preisverleihung den Hauptpreis verkündete:
    "Der Goldene Löwe für den besten Film geht an 'The Woman Who Left' von Lav Diaz."
    Es ist schon seltsam und auch ein bisschen absurd: Nach zwölf Tagen eines außerordentlich vielfältigen Wettbewerbs, mit Filmen, die die Grenzen zwischen Genre- und Autorenkino mehr als einmal durchbrochen haben, die in vielen Fällen zumindest versuchten, neues Terrain fürs Kino zu erschließen, gewinnt ausgerechnet der Film, der mit am deutlichsten für klassisches Autorenkino steht: mit einfachsten Mitteln, zum Teil mit Laien gedreht und in Schwarzweiß.
    Aus den Filmen im Wettbewerb stach "The Woman Who Left" vom philippinischen Regisseur Lav Diaz vor allem durch eines heraus: seine Länge von fast vier Stunden. Dagegen, die brave Ordnung des Kinobetrieb ein bisschen durcheinanderzuwirbeln, ist nichts zu sagen. Und ein Opernbesuch dauert ja oft viel länger.
    "The Woman Who Left" steht vor allem für Simplizität
    Man fragt sich allerdings, was das Werk des Philippino eigentlich so großartig macht, dass seine Filme zur Zeit auf nahezu jedem größeren Festival auftauchen, und dort auch noch Hauptpreise gewinnen: In den letzten zwei Jahren allein in Locarno, bei der Berlinale und nun der Goldene Löwe in Venedig.
    Denn "The Woman Who Left" steht vor allem für Simplizität in jeder Hinsicht, beiläufig und aus der Hüfte gefilmt, nicht besonders poetisch, sondern vor allem "Arte Povera" die dem internationalen Autorenkino und dem Industriefilm Hollywoods und seinem Glamourbetrieb eine lange Nase dreht.
    Der Goldene Löwe, die höchste Auszeichnung bei den Filmfestspielen in Venedig.
    Höchste Auszeichnung bei den Filmfestspielen in Venedig: Der Goldene Löwe. (dpa / Jens Kalaene)
    Aber Lav Diaz kann sich zur Zeit eben alles leisten, er ist der neueste Darling der internationalen Autorenfilmszene, die offenbar gerade von sich selber derart gelangweilt ist, dass die Provokation um ihrer selbst willen schon ausreicht, um Erfolg zu haben. So funktioniert eben der Hype, den es natürlich auch in der Kunstszene nicht weniger gibt, wie anderenorts.
    Ist wirklich noch mehr dahinter? Allein die Menge der Filme, die dieser Regisseur derzeit Jahr für Jahr in die Welt wirft, und ihre jeweilige Länge - unter dreieinhalb Stunden geht nämlich für Lav Diaz gar nichts - spricht schon dafür, dass hier einer gar nicht mit übermäßig viel handwerklicher Sorgfalt oder intellektuellem Aufwand arbeiten kann. Es muss also wohl ein Genie vom philippinischen Himmel gefallen sein.
    Trend: Hinwendung zu historischen Themen
    Zumindest in einer Hinsicht repräsentierte "The Woman Who Left" aber genau den Trend des diesjährigen Venedig-Jahrgangs: Die Hinwendung zu historischen Themen, die fast ein bisschen eine Flucht des Kinos vor der Stellungnahme zur Gegenwart ist.
    "The Woman Who Left" spielt nämlich im Jahr 1997 und interessiert sich vor allem für die Tode von Prinzessin Diana und von Mutter Theresa und eine Kidnapperserie in Manila - und die Frage, wie dies die Hauptfiguren hier mitnimmt.
    Aktuell brennendere Stoffe, die nicht in vergangenen Zeiten, sondern direkt in der Gegenwart spielen, gab es im Wettbewerb wenig. Am ehesten noch im Erwachsenenmärchen "La Region Salvaje" des Mexikaners Amat Escalante.
    Und im Film der in den USA lebenden Iranerin Ana Lily Amirpour, die eine dystopische Kannibalenliebesgeschichte erzählt, auf die sich zu wenige der professionellen Festivalbesucher einlassen wollten. Der Jurypreis hierfür ist eine gleichwohl sehr verdiente Auszeichnung. Diese Filme versöhnen nicht, sondern spalten das Publikum.
    "Big Big World" von Reha Erdem
    Das weniger staatstragend-bedeutungsschwere, zugleich riskanter politische Kino zeigten wie gewohnt die Nebenreihen: Dort lief "Big Big World" des Türken Reha Erdem, wo ein Geschwisterpaar vor der Welt in einem Wald Zuflucht sucht. Lakonisch und sehr effektiv erzählt, dabei berückend und poetisch geht es um die Freiheit und ihre Grenzen. Der Film gewann zwei Preise in der renommierten Nebenreihe "Orizzonti".
    Und sonst trafen dort die Preise genau die Richtigen: das großartige belgische Generationsdrama "Home". Und den italienischen Dokumentarfilm "Libera nos" der unglaubliche, ungesehene Bilder von Katholischen Exorzismen aus dem Sizilien der Gegenwart zeigt.