Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Filmkritiker Michael Althen
Meister der ersten Sätze

"Wer nur vom Kino etwas versteht, der versteht auch davon nichts." Dieser Satz stammt von Michael Althen, einem der großen deutschen Filmkritiker, der nicht nur etwas vom Kino verstand, aber davon besonders viel. Seine besten Kritiken sind nun in einem Buch amüsanten erschienen.

Von Shirin Sojitrawalla | 07.11.2014
    Herausragende Kritiker hinterlassen Sätze für die Ewigkeit. Das gilt natürlich auch für Michael Althen, der zu den großen Filmkritikern und Liebhabern des Kinos gehörte. Über die französische Schauspielerin Catherine Deneuve schrieb er einst:
    "Man darf nicht vergessen, dass sie sich selbst Dorleác nennt und Deneuve nur als Künstlernamen begreift. Diese Trennung ist ihr wichtig. Und vielleicht spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, dass sie nicht von Natur aus Blondine ist. Die Blondheit ist sozusagen eine bewusste künstlerische Entscheidung. Und sie trägt diese Haare wie eine Krone. Aber an der Augenpartie kann man sehen, dass sie dunkler ist, als sie tut."
    Die hübsche Schlussfolgerung ist typisch für den Filmkritiker Michael Althen, der im Mai 2011 mit nur 48 Jahren starb. Claudius Seidl, Freund, Kollege und Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hat seine Filmkritiken neu gesichtet und als Sammelband herausgegeben, zum Glück nicht chronologisch sortiert, sondern intuitiv, mit Sinn und Verstand.
    Der Band, an dem nur sein dämlicher Titel stört, versammelt Artikel über Regisseure, Filme, Schauspieler, Kritiker. Texte aus knapp 30 Jahren, entstanden für die Zeitschrift Tempo, die Süddeutsche Zeitung, die F.A.Z., Die Zeit, den Focus. Artikel, die niemanden kalt lassen, der sich im Kino zu Hause fühlt. Es sind Liebeserklärungen, die selbst in Form von Verrissen noch Verehrung bezeugen. Dabei ist Michael Althen viel zu klug, um das Kino mit dem Leben zu verwechseln und lässt sich doch immer wieder gern von ihm an der Nase herumführen, weil er eben auch um die Traumhaftigkeit der Filmkunst weiß.
    Mit ungeheurer Zärtlichkeit und ungeheurem Wissen schreibt er übers Leinwandgeschehen, erweist sich dabei immer wieder als hellsichtig und kennt sich ebenso aus mit Literaturverfilmungen wie mit Produzentenvorlieben. Zu lernen gibt es jede Menge in diesem Buch, auch weil Althen die Filmkunst nie als Geheimwissenschaft betreibt, sondern seine Texte sich vielmehr als wunderbare Schule des Sehens offenbaren. Das genaue Hinsehen ist sein Rezept, wobei es sich bei ihm mit Stil, Witz, Empathie und neugierig bleibender Allgemeinbildung paart. Darüber hinaus war er einfach ein wahnsinnig begabter Schreiber, der mit umwerfenden ersten Sätzen aufwartet. Kostprobe: "Wer ins Kino geht, um glücklicher herauszukommen, als er hineingegangen ist, wird bei Kubrick nicht froh." Über Audrey Hepburn schrieb er übrigens einst, sie sei die zweite Frau, der man eine unbefleckte Empfängnis abgenommen hätte.
    Althen verfolgte den 11. September 2001 mit den Augen eines Kinobesuchers
    Peter Buchka, sein Lehrer, Vorbild und Vorgänger als Filmkritiker der Süddeutschen Zeitung, gab Jüngeren, wie Althen schreibt, stets eine Weisheit mit auf den Weg: "Wer nur vom Kino etwas versteht, der versteht auch davon nichts."Ein Leitsatz für Michael Althen, der nicht nur ins Kino ging, sondern eben auch Fernsehen schaute, Bücher las, Kunst studierte und ein Familienleben lebte. Das alles kam seinen Texten zugute. Der Regisseur Tom Tykwer diagnostiziert in seinem ehrerbietig schönen Vorwort: "Im Kino fand Althen die erstaunlichsten Antworten auf beinahe alle Fragen unserer Existenz."
    Unvergessen ist auch sein Auftritt als Alleinjuror der Autorentage am Deutschen Theater Berlin im Jahr 2010, vielmehr seine grandiose Eröffnungsrede, in der er dem Theater seine neu entdeckte Liebe erklärte – auf charmante, sympathische, kluge Art und Weise.
    Liebend gern hätte man noch jahrzehntelang Artikel vom ihm studiert, gewusst, was er von diesem Film und wie er es mit jenem Regisseur hält. Wer seine Texte wieder liest, möchte am liebsten sofort ins Kino rennen, um mit eigenen Augen zu überprüfen, wie es um diesen oder jenen Film bestellt ist. Im vorliegenden Band beschäftigt sich Althen auch mit Fernsehserien oder den Anschlägen vom 11. September 2001, die er mit den Augen eines Kinogehers verfolgt. Darüber hinaus muss er auch den einen oder anderen zu jung Gestorbenen würdigen, wie könnte es auch anders sein. Darunter auch der Produzent Bernd Eichinger, der für ihn so unersetzlich war wie er selbst für die Filmkritik.
    Und so wünschen wir ihm von Herzen, dass er im Himmel einen Platz neben dem Schauspieler James Stewart ergattern konnte. Dessen Nachleben malte Michael Althen nämlich einst folgendermaßen aus:
    "Stellen wir uns also eine Veranda vor, wo man unter heißer Sonne im Schatten sitzen kann, eine Veranda wie in John Fords Two Rode Together, wo James Stewart die Füße auf die Brüstung gelegt hat, dem Treiben im Ort zusieht und sein Bier trinkt, das ihm unaufgefordert gebracht wird. Wenn es ein Bild dafür gibt, wie es im Himmel sein müsste, dann dieses. Den Stuhl zurückgekippt, die Beine hochgelegt, den Hut über die Augen gezogen – und ab und zu ein kühles Bier. Auf dieser Veranda über der Welt wird James Stewart nun sitzen, sich ab und zu einen Schluck genehmigen und unserem Treiben zusehen. Das wäre schon ein ziemlicher Trost. Denn einen besseren Engel können wir uns nicht vorstellen."
    Michael Althen: "Liebling, ich bin im Kino! Texte über Filme, Schauspieler und Schauspielerinnen"
    Herausgegeben von Claudius Seidl. Blessing Verlag. 351 Seiten, € 19,99