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Filmkritiker: Niemand wird Venedig den Rang streitig machen

Das Internationale Filmfestival in Venedig hat sich extrem verschlankt, sagt Filmkritiker Josef Schnelle. Angesichts knapper Kassen habe man sich auf das "kleine, feine, intellektuelle" Festival zurückbesonnen, was man am Lido früher hatte.

Burkhard Müller-Ullrich mit Fragen an Josef Schnelle | 29.08.2012
    Burkhard Müller-Ullrich: Ebenfalls in Venedig und ebenfalls heute eröffnet wird um 19 Uhr das Internationale Filmfestival, und das hat ja auch Ritualcharakter. Alle sind wieder da am Lido, zunächst mal unser Kritiker Josef Schnelle. Hallo, Herr Schnelle!

    Josef Schnelle: Hallo.

    Müller-Ullrich: Und auch wieder da ist der Direktor, den kennen wir auch schon.

    Schnelle: Ja, der war schon mal hier. Der war einige Jahre Direktor bis 2001, dann wurde er unter merkwürdigen Umständen – man kann das nicht anders nennen – abserviert. Während ich noch in der Pressekonferenz saß, wo er sich etwas merkwürdig ausdrückte, vermeldeten die Agenturen schon, dass er gechasst worden war von der Biennale-Leitung. Da brachen hier die Berlusconi-Zeiten an mit Marco Müller.

    Müller-Ullrich: Vor elf Jahren war das?

    Schnelle: Vor elf Jahren. – Jetzt ist er wieder da, also der Vorgänger ist der Nachfolger, und er macht das auch sehr deutlich. Der Eröffnungsfilm ist ein Film seiner damaligen Preisträgerin Mira Nair. Die hat 2001 gewonnen mit "Monsoon Wedding" und jetzt macht sie hier den Laden auf mit "Der widerspenstige Fundamentalist". Also da wird richtig laut gerufen, ich bin wieder da!

    Müller-Ullrich: Das ist so ein bisschen wie Johannes Calvin: Der hat in Genf gepredigt im 16. Jahrhundert, wurde dann der Stadt verwiesen, und als er nach Jahrzehnten wieder zurückgeholt wurde, hat er an der Stelle weitergepredigt, wo er die Bibel das letzte Mal zugeschlagen hatte.

    Schnelle: Ja, das kann man ein bisschen so sagen. Ich finde, das Plakat ist auch sehr schön. Das ist so ein Verweis auf die Ursprünge vom Venedig Filmfestival, ein Nashorn in einem Boot, ein kleiner Junge sitzt vorne und angelt, das ist ein direktes Zitat von "E la nave va" von Federico Fellini, also hier wird an die Tradition angeknüpft. Der Wettbewerb ist extrem verschlankt auf 18 Filme, da hat die Jury nicht viel zu tun und kann noch in andere Sektionen reinschnuppern und noch ein bisschen mehr repräsentieren, und auch das restliche Programm ist verschlankt. Man kann sagen, das sind irgendwie Sparmaßnahmen, auch hier ist das Geld knapper, insbesondere in Italien. Aber auf der anderen Seite: Es ist dann so ein bisschen jetzt zurückgerudert auf das kleine, feine, intellektuelle Filmkunstfestival, das es einmal war, und ist nicht mehr so laut marktschreierisch wie in den Marco-Müller-Zeiten.

    Müller-Ullrich: Jetzt kommen ja verschiedene Aspekte hinein: Das eine ist zum Beispiel die moderne Technik, Stichwort marktschreierisch. Film wird ja über viele Kanäle mittlerweile vertrieben, auch digital, und da tut sich was in Venedig.

    Schnelle: Ja. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das bewerten soll. Es kann ja sein, dass Filmfestivals demnächst überflüssig werden. Jedenfalls zeigt das Festival eine Handvoll Filme aus der Reihe Orizzonti - das ist die wichtigste Nebenreihe, da gibt es auch einen Preis – im Livestream. Sie können also zuhause auf die Website des Festivals gehen, dann müssen Sie ein paar Euro zahlen und dann können Sie Festivalfilme sehen. Ich weiß nicht, ob das Festival sich damit einen Gefallen tut.

    Müller-Ullrich: Also nicht nur im Intranet irgendwie in Venedig, sondern ...

    Schnelle: Nein, nein! Das wird gleichzeitig hier gezeigt, aber man kann es eben auch über die Website anschauen. Das sind nur sechs Filme und die werden auch nur dann live gestreamt, wenn sie hier auch gezeigt werden. So hält man sich da so ein bisschen zurück. Aber man stößt die Tür auf zu so einer Zeit, wo die Festivals vielleicht alle nur noch virtuell stattfinden im Internet.

    Müller-Ullrich: Seit Cannes gibt es zu dem Thema auch immer die Frage, wie ist das mit den Frauen, wie viele Regisseurinnen, was ist mit dem Frauenfilm? Ist das auch ein Thema in Venedig?

    Schnelle: Na ja, Alberto Barbera hat süffisant gelächelt, als er gesagt hat, dass 20 Filme hier aus dem gesamten Programm von Regisseurinnen beigetragen werden.

    Müller-Ullrich: Also viele?

    Schnelle: Sehr viel! In Cannes war kein Einziger und Thierry Fremont, der Direktor von Cannes, hat gesagt, es wären eben keine zu finden gewesen. Da ist das nun hier, glaube ich, der Gegenbeweis, auch viele in den Hauptsektionen, der Eröffnungsfilm ist auch von einer Frau. Ich glaube, dass da die Franzosen doch ein bisschen machomäßig aufgetreten sind, und interessanterweise: Das Land der Machos rudert da ein bisschen zurück in den Urfeminismus. Mal sehen, ob das wirklich was am Ende bringt.

    Müller-Ullrich: Wie ist es mit der deutschen Präsenz?

    Schnelle: Ja, die ist immer mal wieder ein trauriges Kapitel. Es gibt einen deutschen Film, der läuft in einer Nachtschiene, da laufen immer so die versponnenen Genre, Horrorfilme, "Du hast es versprochen" von Alex Schmidt – auch eine Frau. Das ist auch eine Auszeichnung, aber in den Wettbewerb hat es kein deutscher Film geschafft. Dafür viele deutsche Schauspielerinnen, das ist sehr interessant, in den Filmen anderer Länder: heute Abend Franziska Petri im russischen Wettbewerbsbeitrag, dann kommt Karoline Herfurth und dann Katharina Thalbach. Also die deutschen Schauspielerinnen sind auf dem Vormarsch und vielleicht erobern sie ja den Lido. Das wäre dann immerhin doch auch eine andere Form von deutscher Beteiligung.

    Müller-Ullrich: Der Lido - schönes Wetter, nehme ich an. Sie lassen immer viele Neider hier zurück, Josef Schnelle. Wenn das klappt mit diesem digitalen Zeugs, dann gibt es keinen Grund mehr zum Reisen?

    Schnelle: Ja, das wäre furchtbar. Also ich glaube nicht. Ich hoffe, dass sich das nicht durchsetzt, weil das ganze Flair, die Starauftritte, das Licht von Venedig und auch die Konkurrenz der klassischen Kunst drüben in Venedig, gegen die sich jeder Film hier beweisen muss – das muss er in Cannes nicht und in Berlin auch nicht -, das ist schon die besondere Atmosphäre, ganz abgesehen davon, dass das ja das älteste Filmfestival der Welt ist und dass hier überhaupt diese Idee, so eine Kunstausstellung für den Film zu machen, überhaupt geboren ist. Ich glaube, den Rang wird Venedig niemand jemals streitig machen können.

    Müller-Ullrich: Danke, Josef Schnelle. - Zur Eröffnung des Filmfestivals war das jetzt ein Vorbericht und wir werden noch weiteres aus Venedig hören zu dem Thema.