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Filter fürs Gehirn

Das Bundesgesundheitsministerium schlägt Alarm: in den vergangenen knapp zehn Jahren bekamen verhaltensauffällige Kinder 20mal soviel Ritalin verschrieben wie 1993. Ritalin gilt unterdessen bei vielen Ärzten als besonders erfolgversprechende Therapie: unruhigen, hyperaktiven Kindern und Kindern mit der Diagnose "Hyperkinetisches Syndrom" wird das Medikament gerne verordnet. Verschrieben wird die Psychodroge zu einem großen Teil nicht von Kinderpsychiatern und fachlich qualifizierten Kinderärzten, sondern von Hausärzten, Laborärzten und sogar Zahnärzten. Diese Entwicklung - von Pädagogen seit Jahren heftig kritisiert - hat nun auch das Bundesgesundheitsministerium aufmerksam gemacht. In Abstimmung mit der Bundesärztekammer sollen Leitlinien erarbeitet werden.

Judith Grümmer | 07.05.2002
    Ohne Ritalin ist Luca ein sehr wildes Kind, temperamentvoll, sehr liebevoll, kann sich sehr schlecht koordinieren, kann sehr schlecht planen, macht 1.000 Sachen auf einmal. Mit Ritalin ist er gar nicht mehr Luca, aber gesellschaftsfähiger. Für mich und meinen Mann muss Luca gar kein Ritalin nehmen, wir lieben auch ihn so, wie er ist, aber für Schule und Umfeld und Gesellschaft ist Luca nicht tragbar ohne das Medikament.

    Gerne gibt sie ihm das Medikament nicht, aber ohne Ritalin hätte Luca in der Schule keine Chance - das haben ihr Lehrer und auch die behandelnden Ärzte ganz deutlich zu verstehen gegeben:

    Weil er sich absolut daneben benimmt. Er in keinster Weise still sitzen kann oder das macht, was man von ihm verlangt, Im Unterricht, er bleibt nicht auf seinem Platz, er wartet nicht bis er drangenommen wird, er schreit in den Klassenraum, krabbelt während des Unterrichts unter den Bänken her und ist damit eine Zumutung für die Lehrer und seine Mitschüler.

    Luca war von Anfang an ein sehr anstrengendes Kind. Warum? Auf diese Frage bekam seine Mutter eine medizinische Antworte: "Hyperaktivität" - Behandlung: Ritalin - morgens eine Pille vor der Schule. Ritalin wirkt wie ein Filter, der den jungen Patienten gegen zu viele Reize abschirmen soll.

    Luca war ein sehr trauriges Kind in der Zeit, er hatte also Stimmungsschwankungen, wenn nicht gar Depressionen, er wusste auch nicht, was passiert jetzt mit mir, warum bin ich so anders jetzt, er äußerte das auch, warum bin ich mit Medikament anders als ohne? Und das war schon sehr schlimm, dann kommt hinzu, dass das Kind unter dem Medikament überhaupt keinen Appetit hat, er ist sehr untergewichtig und isst nicht, deswegen möchte ich so schnell als möglich da wieder runter.

    Prof. Gerd Lehmkuhl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Kölner Universität gilt als ein Befürworter des Medikaments Ritalin. In seiner Klinik wurde Luca als hyperaktiv diagnostiziert, hier wird er mit Ritalin behandelt - doch auch der Psychiater warnt:

    Es muss offen gesagt werden, das Ritalin, dass Stimulanzien nur symptomatisch helfen, das heißt, sie helfen nur, solange man sie gibt. Deswegen ist es nicht alleine ausreichend, die Medikation zu verabreichen und wir würden uns auch ein Behandlungsprogramm wünschen , dass verschiedene Elemente in sich vereinigt und dazu gehört auch ein verhaltenstherapeutisches Programm, eine Elternberatung oder eine Einzelberatung des Kindes mit hinzugezogen werden und nicht nur die Medikation allein verabreicht wird.

    Der Kölner Kinderpsychiater sieht Handlungsbedarf - doch in der Praxis gilt auch für seine Patienten: Kinder wie Luca werden oftmals bis zur Pubertät oder bis Beendigung der Schulzeit mit Ritalin sozial an den Schulalltag angepasst werden, denn es fehlen vielerorts die alternatives Therapieprogramme - es fehlen Lehrer, die mit einem solchen Kind wie Luca umgehen können, es fehlen Familienberater, die Lucas Familie hilfreich begleiten - und: viel zu viele Ärzte akzeptieren Ritalin als Langzeitbehandlung.

    Der Pädagoge Prof. Reinhard Voß, Pädagoge an der Universität Koblenz-Landau, warnt schon seit Jahren davor Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern zu medizinisieren.

    Verstärkt reagieren Kinder auf veränderter gesellschaftlicher Lebensbedingungen hyperaktiv. Die Frage ist ja nur, ist das Medikament die einzige Lösung oder kann man auch versuchen die Hyperaktivität als Signal für eine gestörte Lebenssituation zu sehen, um dann halt Eltern, Lehrern bis hin zu Politikern, - ich finde, wir sollten auch immer wieder unterstreichen, dass hier die Politik gefordert ist, wie ist das mit den zu großen Klassen , wie ist das mit Bewegungsflächen in den Städten für Kinder, schauen wir uns die Spielplätze an, wie ist das mit dem Medienkonsum.

    Nun die Warnung vor der Behandlung mit Ritalin auch aus medizinischen Reihen: der Göttinger Neurologe Gerald Hüther befürchtet Langzeitschäden. Niemand wisse um die Langzeitwirkung von Ritalin auf ein noch nicht ausgebildetes Gehirn. Die Behandlung von Kindern mit einem solchen Psychopharmaka sei etwas völlig anderes als die erwachsener Patienten. Ritalin verhindere möglicherweise die optimale Ausbildung bestimmter Hirnregionen und sei viel zu wenig erforscht, um es als Langzeitmedikament einzusetzen - kritisiert der Göttinger Neurologe Gerald Hüther. Doch auch die psychosozialen Nebenwirkungen sind längst noch nicht erforscht - dass schon kleine Kinder lernen, wie mit Hilfe von Medikamenten soziale Probleme gelöst werden können, muss beunruhigen.

    Weitere Informationen:

    Die Position der Drogenbeauftragten der Bundesregierung und des Bundesministeriums für Gesundheit zur Anwendung von Methylphenidat bei der Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) www.bmgesundheit.de/themen/drogen/pm/260402.htm

    Funkstille im Frontalhirn Der Göttinger Neurologe Gerald Hüther über hyperaktive Kinder, die Verknüpfung von Nerven im Babyhirn und mögliche Langzeitschäden durch das Medikament Ritalin www.spiegel.de/spiegel/0,1518,187383,00.html

    Gerald Hüther und Helmut Bonney: "Neues vom Zappelphilipp". Walter Verlag, Düsseldorf

    Reinhard Voss/Roswita Wirt Keine Pillen für den Zappelphilipp Alternativen im Umgang mit unruhigen Kindern Rowohlt Verlag

    Reinhard Voss Verhaltensauffällige Kinder in Schule und Familie Neue Lösungen oder alte Rezepte? Luchterhand Verlag

    Beitrag als Real-Audio

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