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Finnisch-russische Abenteuer

Im größten Waldgebiet Europas, an der Grenze zwischen Finnland und der Russischen Föderation, liegt die Region Karelien. Die dort lebenden Volksgruppen haben sich bis heute eine eigene Sprache und eine eigene Kultur bewahrt. Klaus Bednarz hat Land und Leute besucht. Über seine Reise sprach Henning von Löwis mit ihm.

07.01.2008
    Henning von Löwis: 1991 wurde die Republik Karelien aus der Taufe gehoben. 1992 fand dann der erste nationale Kongress der Finnen, Karelier und der Wepsen statt. Welche Rolle spielen heute die finnisch-ugrischen Völker in der Gesellschaft? Spielen sie überhaupt eine Rolle? Sind sie an der Macht beteiligt oder nicht?

    Klaus Bednarz: Sie sind de facto nicht an der Macht beteiligt. Sie kämpfen um gewisse Unterstützung, wenn es darum geht, ihre Kultur zu pflegen, auch wieder ihre Sprache zu pflegen. Wir haben am Ufer des Onegasees ein Dorf besucht, das als das Zentrum der wepsischen Kultur gilt.

    Dort werden die Kinder schon im Kindergarten ab dem dritten Lebensjahr mit der wepsischen Sprache vertraut gemacht; übrigens alle Kinder im Dorf, egal ob nun Wepsen, Russen oder Ukrainer. Aber ansonsten spielen sie politisch keine Rolle. Sie kämpfen um ihre Minderheitsrechte, aber das ist ein Kampf, wie in so vielen anderen russischen Regionen, der nur sehr begrenzt von Erfolg gekrönt ist. Und auf der finnischen Seite ist es so, dass dort aus dem Gebiet Finnisch-Karelien - es ist ein Landwirtschaftsgebiet primär - die jungen Menschen wegziehen in die Städte. Es will dort keiner mehr in der Landwirtschaft arbeiten und insofern ist dieses Finnisch-Karelien - gemessen am übrigen Finnland - auch ein Land, das eine schwierigere soziale Situation hat, als der Rest Finnlands.

    Löwis: Ihr Karelien-Buch, da sind nicht zuletzt sehr eindrucksvolle Fotos, aber auch deprimierende Fotos zu sehen: An der Wand eines Dorfladens in kyrillischen Buchstaben die Frage: "Gde Zizn?" - "Wo ist das Leben?". Ist Karelien ein sterbendes Land?

    Bednarz: Karelien ist ein Land, das sowohl auf der russischen als auch auf der finnischen Seite mit der Auszehrung der Bevölkerung zu kämpfen hat. Die jungen Leute versuchen wegzuziehen in die großen Städte - auf russischer Seite nach Sankt Petersburg und Moskau, auf finnischer Seite nach Tampere, nach Helsinki. Und wenn man auf die russischen Dörfer geht oder in die karelischen Dörfer auf der russischen Seite, dann ist da schon zum Teil auch heute noch eine bittere Armut: Rentner, die 60 Euro Rente im Monat bekommen.

    Die Infrastruktur ist weitgehend zusammen gebrochen. Viele Dörfer, die sonst zu Sowjetzeiten zweimal oder dreimal am Tag von einem Autobus angefahren wurden, werden heute vielleicht noch einmal am Tag vom Autobus angefahren, wenn er denn überhaupt kommt, was auch nicht sicher ist.

    Wir sind bei unseren Dreharbeiten an einem Abend um Acht oder um Zehn in ein Dorf in Russisch-Karelien gekommen und haben gefragt: "Gibt es hier noch einen Dorfladen, wo man etwas kaufen kann?" Normalerweise sind heute in Russland die Läden fast um die Uhr geöffnet. Da sagte uns Jemand: "Ja, was wollt ihr denn?", und wir sagten: "Wir wollen ein bisschen Brot und Milch", und dann sagten uns die Leute auf der Straße: "Es gibt heute kein Brot, der Brotwagen ist nicht gekommen." Das ist Karelien 2007.

    Löwis: Aber Karelien ist ja eigentlich kein armes Land! Wenn ich an das Holz denke, an die großen Wälder, an die Bodenschätze.

    Bednarz: Das ist die Tragödie dieses Landes! Das Land ist reich! Die karelischen Wälder sind das größte zusammenhängende Waldgebiet in Europa, der größte Sauerstoffproduzent Europas, und Holzwirtschaft ist bis heute immer noch der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Aber das Problem ist, dass ein Großteil dieses Holzes illegal geschlagen oder illegal verkauft wird. Die Holzmafia in Karelien gilt als eine der aktivsten im ganzen russischen Riesenreich und da ist es nicht sehr viel, was tatsächlich bei der Bevölkerung ankommt.

    Löwis: Karelien, das ist auch das Land der Kreuze. "Das Kreuz des Nordens" ist ja auch der Titel Ihres Buches. Wie geht man heute um mit dem Erbe des Gulag in diesem Land?

    Bednarz: Sehr, sehr viele Menschen sind davon betroffen. Man muss sich vor Augen halten, dass in Karelien nach der Oktoberrevolution das erste Gulag überhaupt installiert wurde in einem uralten Kloster, das zu Zarenzeiten schon politisches Gefängnis war; und fast jede karelische Familie hat in der Stalinzeit Menschen verloren, Opfer zu beklagen. Hinzu kommen die blutigen Kriege mit den Finnen im vergangenen Jahrhundert und auch mit der deutschen Wehrmacht, so dass dieses Land auf der einen Seite wunderschön und friedlich aussieht: Wälder, Seen ohne Ende und dann eben doch eine sehr, sehr blutige, tragische Vergangenheit. Wenn Sie dann auf russischer Seite an einem See stehen oder auf finnischer Seite an einem See stehen, dann sagen Ihnen die Menschen dort: "Dieser See ist so wunderschön, aber an seinem Grund liegen noch ganz viele Panzer und anderes Kriegsgerät aus dem vergangenen Jahrhundert."

    Das heißt, die Menschen selber haben die Erinnerung noch sehr, sehr lebendig im Kopf, aber offiziell wird kaum etwas gemacht. Die Friedhöfe der Opfer, der Opfer des Stalinterrors, werden in erster Linie gepflegt von der russischen Menschenrechts-Organisation "Memorial", auch von der deutschen "Heinrich-Böll-Stiftung", aber die Archive etwa in Karelien werden für die Forschung zunehmend wieder geschlossen und es sind nur noch einige wenige wirklich ganz, ganz aktive Historiker, die versuchen, diese düstere Vergangenheit Kareliens im vergangenen Jahrhundert aufzuarbeiten.

    Löwis: Der Nationalfeiertag der Republik Karelien ist seit 1999 der 8. Juni. Am 8. Juni 1920 war die sogenannte Karelische Arbeiterkommune gegründet worden. Wie sowjetisch ist dieses Karelien heute? Mir fällt auf, die Straßen von Petrozavodsk: Karl-Marx-Straße, Kirow-Platz, Leninplatz: Die Denkmäler sind natürlich noch da.

    Bednarz: Die Städte Russisch-Kareliens sind eigentlich heute gesichtslos wie Hunderte anderer Städte, die architektonisch in der Sowjetzeit geprägt wurden. Also, nicht nur, dass Lenin überall noch steht, dass die Straßen noch so heißen, sondern das ganze Stadtbild ist im Grunde ein primär sowjetisches Stadtbild, was sehr schade ist, weil es auch in diesen Städten sehr viele historische Bauten gab, von denen aber kaum etwas erhalten ist.

    Man muss schon in die Provinz gehen, in die Dörfer gehen, dass man auch etwas von der alten - Jahrhunderte oder zum Teil Jahrtausende alten - karelischen Kultur mitbekommt. Aber die großen Städte sind eigentlich immer noch ihrem Stadtbild nach heute sowjetische Städte.

    Löwis: Sie haben ja die Politiker völlig links liegen lassen und sind lieber ins Kloster gegangen auf der Insel Valaam. Sind die Mönche in Karelien wichtiger als die Politiker?

    Bednarz: Auf jeden Fall sind die Mönche authentischer als die Politiker. Bei allen meinen großen Reisen, egal ob nach Sibirien oder Feuerland oder Alaska, habe ich in der Regel einen großen Bogen um alle Offiziellen und Großkopfeten gemacht, weil erfahrungsgemäß das, was einem ein Präsident einer Republik oder ein Gouverneur offiziell sagt, sich nur in wenigen Fällen mit der Realität deckt. Insofern haben wir auch in Karelien einen großen Bogen um alle Offiziellen gemacht, sondern haben uns bemüht, mit den sogenannten einfachen Menschen zu sprechen: in den Dörfern, in den Siedlungen, auf den Inseln und natürlich auch mit den Mönchen, denn die Ersten, die im 12. und 13. Jahrhundert nach Karelien kamen, waren russisch-orthodoxe Mönche, und die haben in der jahrhundertealten Geschichte Kareliens eine ganz wichtige Rolle gespielt, nicht die Politiker, die kommen und gehen und die in erster Linie auch heute versuchen, sich aus dem Land heraus zu bereichern.

    Löwis: Klaus Bednarz, 1968 soll Finnlands damaliger Präsident Urho Kekkonen Leonid Breschnew halb Lappland angeboten haben im Austausch gegen die Stadt Wiborg und Teile Kareliens. Ist diese Grenzfrage heute noch ein Thema im finnischen Rest-Karelien?

    Bednarz: Sie ist, Gott sei Dank, kein wirkliches Thema mehr. Es ist die gleiche Situation wie in Deutschland. Bei Kriegsende mussten ja 400.000 finnische Karelier Ostkarelien verlassen, das sowjetisch wurde und nach Finnisch-Karelien auf die andere Seite der Grenze flüchten; und es gibt heute - wie auch in Deutschland über viele Jahrzehnte - einige finnische Vertriebenen-Politiker, die in Sonntagsreden immer wieder auch die Rückgabe des verlorenen östlichen Kareliens fordern.

    Die Menschen, die dort leben, sehen - wie auch die Mehrheit der deutschen Vertriebenen in unserer Geschichte - die Situation viel realistischer. Sie sind - wie auch die Mehrheit der deutschen Vertriebenen - viel, viel verständigungsbereiter, viel, viel offener, als es das Gros der Vertriebenen-Berufsfunktionäre ist. Und das war für uns das Schöne, dass sowohl auf der finnischen Seite als auch auf der russischen Seite ganz, ganz stark das Bemühen zu spüren war, über die Gräben der Vergangenheit, über die tragische Vergangenheit, über die blutige Vergangenheit, vor allem des letzten Jahrhunderts, Brücken zu bauen. Da ist auf beiden Seiten kein Hass mehr, und das war für uns eigentlich das Schönste unserer ganzen Reise durch Karelien sowohl auf der russischen Seite als auch auf der finnischen Seite.


    Klaus Bednarz: Das Kreuz des Nordens. Reise durch Karelien
    Rowohlt Verlag, Berlin 2007, 19,90 Euro