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Finnland
Auf dem Weg zum Armenhaus des Nordens?

Zu hohe Arbeitskosten, zu viel Sozialleistungen, zu wenig Export. Der einstige EU-Musterschüler Finnland hat immer mehr Probleme zu bewältigen. Ministerpräsident Juha Sipilä wandte sich in einer Fernsehansprache ans Volk. Die Regierung will Reformen – und unter anderem an die großzügigen Zuschläge für Sonntagsarbeit und Überstunden ran.

Von Albrecht Breitschuh | 22.09.2015
    Zehntausende Demonstranten im Bahnhof von Helsini protestieren gegen die Sparpläne der finnischen Regierung.
    Zehntausende Demonstranten im Bahnhof von Helsini protestieren gegen die Sparpläne der finnischen Regierung. (picture alliance / dpa / LEHTIKUVA / Heikki Saukkomaa)
    Es regnete aus allen Kübeln, als sich am vergangenen Freitag gut 30.000 Menschen vor dem Hauptbahnhof in Helsinki versammelt hatten, um gegen die von der Regierung angekündigte Sparpolitik zu demonstrieren: "Stubbs, Soini, Sipilä", riefen sie den Vorsitzenden der drei regierenden Parteien zu: "Wo ist euer Verstand?".
    Ministerpräsident Juha Sipilä hatte sich ein paar Tage zuvor in einer Fernsehansprache an das finnische Volk gewandt. Ungewöhnlich genug, denn Anfang der 90er-Jahre griff ein finnischer Regierungschef das letzte Mal zu einer solchen Maßnahme. Was Sipilä seinen Landsleuten zu sagen hatte, klang aber auch beunruhigend:
    "Finnlands Wirtschaftswachstum ist das niedrigste in Europa und die Wirtschaft schrumpft schon seit Langem. In keinem anderen Land Europas wächst die Arbeitslosigkeit so schnell wie bei uns. Unsere Arbeit ist zu teuer. Unsere Schulden wachsen im Schnitt schneller als in anderen EU-Ländern. Wäre unsere Arbeitslosigkeit so hoch wie die in Schweden, würde es unserer Wirtschaft gut gehen."
    Von Nokia redet keiner mehr
    Es geht ihr aber schlecht. Von Nokia redet sowieso keiner mehr, aber auch in einst so starken Branchen wie der Holz- und Papierindustrie oder im Maschinenbau werden Arbeitsplätze abgebaut. Bis 2017 sehen Ökonomen die Arbeitslosigkeit bei über zehn Prozent. Nun soll also gespart werden und zwar in allen Branchen. Vor allem an die großzügigen Zuschläge für Sonntagsarbeit oder Überstunden will die Regierung ran, und trifft damit die Menschen der Berufe, in denen der Lohn zu großen Teilen darauf basiert. Leute wie Maarit Ryhänen, die in der lappländischen Stadt Tornio in einem Supermarkt arbeitet:
    "Bei uns haben die Läden fast rund um die Uhr geöffnet, an 364 Tagen im Jahr. Wenn die Kürzungen umgesetzt werden, würde ich einen großen Teil meines Gehalts verlieren. Wovon soll ich dann leben?"
    Ministerpräsident fordert Mentalitätswandel
    Ministerpräsident Sipilä möchte mit seinen Sparvorschlägen vor allem einen Mentalitätswandel herbeiführen, den Leuten klarmachen, dass ohne Reformen Finnland weiter abgehängt würde: zu hohe Arbeitskosten, zu großzügige Sozialleistungen, seit Jahren schwächelt der Export, dazu eine ungünstige demographische Entwicklung – solche Probleme hat der immer noch mit einem dreifachen "A" gewertete einstige EU-Musterschüler zu bewältigen. Sparpläne der Regierung, sagt Jyri Häkämies, Chef des Industrieverbandes, könnten bei der Lösung helfen:
    "Wirtschaft besteht nicht nur aus Fakten, sondern auch aus Gefühlen. Wir haben viele Jahre der Talfahrt hinter uns, und das hat eine pessimistische Atmosphäre geschaffen. Das Klima muss sich verändern. Die Kostensenkung wäre eine klare Botschaft an die Unternehmen, dass es sich wieder lohnt, in Finnland zu investieren."
    Die Gewerkschaften halten dem entgegen, es sei nicht Aufgabe der Regierung, finnische Arbeit mit einem Preisschild zu versehen. Über die Senkung der Lohnkosten würden immer noch Arbeitgeber und Gewerkschaften verhandeln. Bis zum Ende der Woche, sagte Ministerpräsident Sipilä, erwarte er von den Tarifpartnern Vorschläge, doch die winkten bereits ab. So schnell werde man sich nicht einig.