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Flechten

Viele von uns kennen sie nicht, wissen nicht, wie sie aussehen, denn sie sind klein und unscheinbar: Flechten. In großen Städten und vor allem in industriellen Ballungsgebieten waren sie über Jahrzehnte so gut wie ausgestorben. Doch seit einiger Zeit sind sie zurück –auf der Rinde von Bäumen, auf Mauern und Dachziegeln. Dass sie weitgehend verschwunden waren, liegt an ihrer Empfindlichkeit gegenüber Luftschadstoffen. Eben dieser Umstand macht sie auch für die Wissenschaft besonders interessant - als Bioindikatoren.

Von Andreas Kleinebenne | 04.02.2004
    Eine schmale Pappelallee am Niederrhein. Hier beginnt die Düffel, ein Naturschutzgebiet westlich von Kleve, das sich längs des Rheins bis zur niederländischen Grenze erstreckt– in diesen Monaten Rastgebiet und Winterquartier für Tausende von Wildgänsen. Doch Dietrich Cerff von der Nabu-Naturschutzstation Kranenburg hat an diesem kalten Januarmorgen anderes als Gänse im Sinn:Die schöne Pappelallee, von der Landesgemeinschaft Naturschutz und Umwelt gerade zur Allee des Monats November gewählt, zeigt unübersehbar die Rückkehr der Flechten. Drei bis vier Arten pro Stamm kann Dietrich Cerff hier mittlerweile wieder ausmachen:

    Es gibt Krustenflechten, das sind wirklich Krusten, die ganz flach auf der Baumrind und auf'm Gestein anliegen. Es gibt Blattflechten, die man so mit dem Fingernagel abpulen kann, die so 'n blättrigen Wuchs haben. Und es gibt Strauchflechten, die so büschelförmig wachsen an einer Stelle am Gestein oder am Baum festsitzen, und dann eben wie so 'n kleiner Ministrauch davon hochragen. Und dann gibt es noch die Bartflechten, die wie der Name sagt, die hängen wirklich bartförmig von Zweigen oder vom Stamm herunter. Der Flechtenkörper, der besteht aus einem Geflecht von ganz dünnen Fäden.

    Besonders freut sich Dietrich Cerff über ramalia, eine büschelförmige Strauchflechte, die ziemlich empfindlich auf Schadstoffe reagiert. Empfindlich deshalb, weil Flechten ihre Nahrung ganz anders als Blütenpflanzen aufnehmen:

    Die Flechten,die haben ja keine Wurzeln oder so wie Gras,Kräuter,Bäume,Sträucher,sondern die müssen praktisch von dem leben, was entweder der Untergrund, unmittelbar die Oberfläche des Untergrundes hergibt, oder was die Luft so heranträgt.

    Dass sie nun nicht nur am Niederrhein, sondern allerorten wieder gedeihen, liegt zunächst daran, dass das Schwefeldioxid in der Luft deutlich reduziert werden konnte. Gab es 1954 in Bonn nur noch 10 Flechten- und Moosarten, so sind es heute bereits wieder über 80. Also: Flechte gut, alles gut?
    Professor Jan-Peter Frahm, Botaniker an der Uni Bonn, ist da entschieden anderer Meinung:

    Seitdem der Saure Regen verschwunden ist oder zurückgedrängt worden ist, kommt der Stickstoff zum Tragen. Es ist nicht etwa so, dass wir jetzt als neuen Luftschadstoff den Stickstoff haben, denn die Stickstoffemissionen sind sogar leicht rückläufig, aber die Wirkung des Stickstoffes schlägt jetzt erst durch, weil dieser Stickstoff früher durch Sauren Regen neutralisiert wurde.

    Dass Stickstoff jetzt maßgebend ist, sehen wir daran, dass es spezifische Stickstoffzeiger-Arten sind,die jetzt vermehrt in die Städte vordringen und in der Landschaft wieder auftauchen. Das sind Arten, die sind früher, ursprünglich an Felsen vorgekommen, die von Vögeln als Rastplätze benutzt worden sind, auf Zweigen,auf denen sich Vögel niederließen beispielweise, und die vogelkotgedüngt waren, die später in der Umgebung von Bauernhöfen auftauchten, wo wir Stallviehhaltung haben. Und diese Arten, die spezifisch früher an stickstoffreichen Standorten vorgekommen sind, die sind jetzt überall zu finden.


    Künstliche Düngung durch Nitrate und Phosphate also ist es, die bestimmte Flechten so üppig gedeihen lässt. Überdüngung, die aber auch die selten gewordenen Moore, Heiden Trockenrasen und Orchideen trifft und bedroht. Was dort mehr im Verborgenen geschieht, springt bei einer bestimmten Flechtenart auch dem Laien geradezu ins Auge – als leuchtende Flecken auf zahlreichen Straßenbäumen: eine Stickstoffzeiger-Art, die kürzlich von einer europaweiten Arbeitsgemeinschaft der Flechten- und Moosforscher zur Flechte des Jahres 2004 erklärt wurde:

    Das ist eine Flechte, die den Namen Gelbflechte trägt, weil sie leuchtend gelbe, goldgelbe Flechtenthalli bildet, die an Baumborke wachsen. Und jeder, der sich für die Stickstoffbelastung seiner Umgebung interessiert, kann anhand des Vorkommens oder Fehlens oder anhand der prozentualen Häufigkeit dieser Flechten leicht eine Eigendiagnose geben, wie weit sein Wohnort stiffstoffbelastet ist.

    Ein Blick auf Dachziegel und Straßenbäume genügt: an immer mehr Orten ist die Gelbflechte unübersehbar – als Zeichen für das Schlechte, was sich hinter dem Guten verbirgt: das Schwefelproblem ist weitgehend gelöst, das der belastenden Stickstoffverbindungen jedoch noch lange nicht.