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Flucht aus Bulgarien

18 Jahre nach dem Ende der SED-Diktatur droht die Wirklichkeit des zweiten deutschen Nachkriegsstaates in Vergessenheit zu geraten. Einen fast verdrängten Aspekt dieser Vergangenheit versucht der Politikwissenschaftler Stefan Appelius aufzuarbeiten. Abseits der großen Institute und Projekte beschäftigt er sich mit der Flucht von DDR-Bürgern aus dem Ferienland Bulgarien. Was die Betroffenen nicht wussten: auch hier galt der Schießbefehl.

Von Brigitte Baetz | 02.10.2008
    Es sind die 60er Jahre, der Goldene Strand Bulgariens ist einer der wenigen exotischeren Urlaubsorte, der DDR-Bürgern offen steht. Hier kann man, zumindest was das Klima und das warme Meer betrifft, den Träumen nach einem anderen, aufregenderen Leben nachhängen. Gleichzeitig ist das Land bettelarm, viel ärmer als die DDR.

    "Für den Weg, über Bulgarien in den Westen zu gelangen, sprach einfach die Tatsache, dass dieses Land vergleichsweise das rückständigste Bruderland gewesen ist. Da erwartete man einfach keine modernen Grenzen, da ging man davon aus, dass der Grenzer auf einem Esel sitzt, Rakia trinkt und, ich sag mal, fünf gerade sein lässt, wenn man sich der Grenze näherte und das ist natürlich ein trügerischer Irrglaube gewesen."

    Mindestens 4500 Fluchtversuche hat es gegeben an der so genannten "verlängerten Mauer", so schätzt Stefan Appelius, Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg. Die meisten scheiterten, mehrere Dutzend davon endeten sogar tödlich. Appelius hat sich vorgenommen, diesen Opfern, aber auch denen, die überlebt haben, aber verhaftet wurden, ein Gesicht zu geben. Hunderte von Akten aus deutschen Behörden hat er zusammengetragen, private Fotos, Postkarten aus den diversen Ferienurlauben. Er hat mit Überlebenden gesprochen, hält Kontakt zu den Angehörigen der Toten. Auch in Bulgarien recherchiert er - gegen teils erhebliche Widerstände.

    "Es ist so, dass die alten Seilschaften in Bulgarien, alte Staatssicherheitskreise, alte Kreise aus der bisherigen Staatspartei bis zum heutigen Tag über ganz erheblichen Einfluss verfügen. Anfangs hat man das also fast unmöglich gemacht, etwas zu finden. Ich musste wirklich detektivische Kleinarbeit leisten, hab angefangen auf Friedhöfen zu forschen und das, wo offizielle bulgarische Stellen eben nicht kooperieren, wo man im bulgarischen Innenministerium grundsätzlich an eine Mauer des Schweigens gelaufen ist, das konnte ich dann bei den kleinen Leuten in der kleinen Bürokratie in Bulgarien im Gegenteil umkehren. Da hab ich sehr viele verständnisvolle Menschen getroffen, die gesagt haben: schon allein im Interesse der Empfindungen der Opferangehörigen in Deutschland wollen sie alles tun, um das zu unterstützen."

    Aus Einzelschicksalen Zeitgeschichte zu rekonstruieren, ist aufwändig. Stefan Appelius finanziert seine Recherchen, die nunmehr über drei Jahre dauern, fast ausschließlich aus eigener Tasche. Auch die über Vera Sandner und Rolf Kühnle. Sie, eine lebenslustige 26-Jährige aus Klingenthal, die sogar Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi war, er, ein Optiker aus Nürnberg. Das Liebespaar wurde 1972 beim Fluchtversuch erschossen. Ihre Familie durfte die tote Vera Sandner nicht wieder zurückholen. Auch ein gemeinsames Grab mit ihrem Verlobten im Westen verhinderten die DDR-Behörden. Immerhin wurde sie nicht, wie die meisten vor ihr, einfach im bulgarischen Grenzstreifen verscharrt.

    "Ab Mitte der 70er Jahre gab es ein geheimes Abkommen zwischen der DDR-Botschaft in Sofia und dem Generalstaatsanwalt der Volksrepublik Bulgarien. In diesem Abkommen haben sich beide Seiten aufgrund einiger schlechter Erfahrungen der DDR-Regierung mit empörten Eltern umgebrachter junger Menschen aus der DDR, die teilweise jahrelang heftigen Protest in der DDR artikuliert hatte, hatte man sich verständigt darauf, dass in Zukunft getötete DDR-Bürger mindestens auf einem Friedhof beizusetzen seien."

    Das System der Bespitzelung, das die DDR charakterisierte, existierte im ganzen Ostblock - grenzübergreifend. Anfang der 60er Jahre durften sich DDR-Urlauber nur in Reisegruppen wie eine Hühnerschar mit dem Reiseleiter als Aufpasser in einem ganz bestimmten kleinen Radius, ausgestattet mit ganz wenig Geld bewegen. Allerdings wurde dies auf Dauer ein wenig peinlich, vor allem, nachdem westdeutsche Journalisten darüber berichtet hatten, meint Stefan Appelius. Ein "moderneres" System wurde etabliert mit einem Netz aus bulgarischen Spitzeln und ostdeutschen Saisonarbeitskräften die als informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit vor Ort aktiv waren. Die Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Bruderländern funktionierte reibungslos. Der Schießbefehl an der DDR-Grenze existierte auch an der vermeintlich leichter zu überwindenden bulgarischen Grenze. Diejenigen, die gefasst wurden, wurden zunächst in Sofia unter meist verheerenden hygienischen Verhältnissen eingesperrt, verhört und dann von der Staatssicherheit wieder nach Hause zurück geholt.

    "Man war in Sofia in die Maschine hineingesetzt worden, links und rechts saßen Sicherheitsbeamte, an die man mit Ketten gebunden war und man konnte dann aber, wenn die Maschine auf dem Flughafen in Budapest auf die Rollbahn gucken. Mehrmals ist mir dann erzählt worden, dass man auf der Rollbahn in wirklich greifbarer Nähe eine Lufthansamaschine stehen sah und nichts lieber getan hätte als einfach rüber zu laufen, was natürlich nicht ging. Auf der anderen Seite, wenn man sich vorstellt, die Menschen, die Westdeutschen, die da saßen, nicht die geringste Vorstellung hatten, was da in ihrer allernächsten Nähe geschah. Das ist schon ein beklemmendes Gefühl, was da aufkommt."

    Beklemmend ist für Stefan Appelius auch, dass die auf der Flucht Erschossenen immer noch nicht als Maueropfer gelten, sondern als DDR-Bürger, die im Ausland ums Leben gekommen sind. Diplomatischer Ärger mit dem neuen EU-Partner soll vermieden werden, vermutet der Wissenschaftler.

    "Man lässt die Toten ruhen. Auf der anderen Seite ist das ein Effekt, der für die Angehörigen die Traumatisierung sozusagen noch fortsetzt. Sie sind nicht nur Opfer zweiter Klasse, sie gelten überhaupt nicht als Opfer, sie sind nicht anerkannt, sie werden nicht mal per se vor dem Gesetz wie alle anderen rehabilitiert. Es gibt also eine Regelung in der Bundesrepublik, dass die Maueropfer an der innerdeutschen Grenze rehabilitiert werden können. Sie werden dadurch nicht wieder lebendig, aber sie werden nicht länger als Verbrecher bezeichnet, als die sie in der DDR galten."

    Mit der Erstellung einer Fluchtdatenbank Bulgarien, aus der man genaue Informationen über das Alter der Flüchtlinge, ihre Herkunft und Berufe, ihre Motive und die besonderen Umstände ihrer Fluchtversuche erhalten kann, versucht Stefan Appelius einen Teil des DDR-Alltags zu rekonstruieren, der, wie er meint, in Vergessenheit zu geraten droht. Und er möchte seine Unterlagen so bald wie möglich einem Museum überlassen, der seine Forschung didaktisch aufarbeitet und vor allem jungen Menschen näherbringt.