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Flucht
Ilija Trojanow über das Ankommen und die unmögliche Heimkehr

Das Fremdsein, die Zumutungen der Ankunft und die Loslösung von Zuschreibungen der Herkunft: Ilija Trojanow verwebt seine eigene Fluchtgeschichte mit der anderer. "Nach der Flucht" erzählt von Verstörungen und Veränderungen, von Möglichkeiten und Abschieden.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 12.06.2017
    Der afghanische Flüchtling Attaullah Baloz sitzt auf dem Boden, hinter ihm ist eine weiße Holztür und eine schwarze Holzwand zu sehen. Er trägt ein türkisfarbenes T-Shirt.
    Der afghanische Flüchtling Attaullah Baloz in Deutschland (Deutschlandradio / Claudia van Laak)
    "Den Flüchtling" gibt es nicht. Ilija Trojanow beschreibt in seinem Buch eine Vielzahl von Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen "nach der Flucht". Im Wesentlichen kreisen diese um das Fremdsein einerseits und das Ankommen andererseits.
    "Der Flüchtling ist meist Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht. Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch."
    Der Autor verwebt philosophische und psychologische Betrachtungen mit Erzählungen und Dialogen zu einer Art Flickenteppich. Dabei verknüpft er, der von sich in der dritten Person spricht, die eigene Erfahrung von der Flucht mit seinen Eltern mit den Migrations- und Fluchtgeschichten, die er im Laufe wechselnder Adressen, unzähliger Reisen und Recherchen gesammelt hat.
    Die Folgen der eigenen Flucht
    Für Trojanow, das verrät die Widmung an seine Eltern, ist das einschneidende Erlebnis, vor der Einschulung aus dem kommunistischen Bulgarien über Jugoslawien und Italien nach Deutschland zu fliehen, heute positiv besetzt. Seine innere Wandlung stellt er nicht als fortlaufende Erzählung dar, sondern in Form kurzer Kapitel und Aphorismen, Gedanken und Lebensweisheiten, die teilweise nur ein, zwei Sätze lang sind. "Nichts an der Flucht ist flüchtig. Sie stülpt sich über das Leben und gibt es nie wieder frei."
    Inspiriert ist der Band durch den Zyklus "The Migration Series". Der Künstler Jacob Lawrence malte 1940/41 dafür 60 Bilder, jedes mit einem Satz untertitelt. Sie zeigen Afro-Amerikaner, die den ländlichen Süden der USA verließen, um im industriellen Norden zu arbeiten.
    Von Verstörungen und Veränderungen
    Der erste Teil von "Nach der Flucht" erzählt in 99 römisch bezifferten Kapiteln "von den Verstörungen", wie Trojanow es nennt, vom Fremdsein in einem anderen Land. "Einschulung. Die Mutter klopft an die Tür. Herein! Ein Raum voller Kinder in seinem Alter. Er beginnt sich zu schämen. Die Rede seiner Mutter ein Radebrech. Er kann es nicht besser. Nein, nein, nein, wehrt die Lehrerin mit beiden Händen ab, ich habe schon vier Türken in meiner Klasse. Und scheucht Mutter und Sohn davon."
    Das Ankommen beschreibt Trojanow als einen Prozess der Häutung. Der Geflüchtete, voller Sehnsucht nach seiner Heimat, bemüht sich, nicht aufzufallen und die alte Sprache abzustreifen. Dies führe jedoch nicht zur ersehnten Unauffälligkeit, stellt der Autor fest. Ankunft bleibe eine Utopie. "'Man hört ja gar nicht, dass Sie nicht von hier sind'. Auch unschuldige Fragen können zersetzen. 'Sie haben ja gar keinen Akzent'. Das klingt wie: 'Sie verheimlichen uns etwas, Sie machen uns etwas vor!'"
    Ernüchterung gewinnt die Oberhand. Eine Rückkehr wird unmöglich. Die kultivierte Nostalgie, die der Autor an sich und anderen beobachtet hat, erfährt beim ersten Heimatbesuch in der erdrückenden Umarmung der Verwandten einen Riss. "Heimat ist das, was in einem nicht sterben kann. Eine Illusion, die auch dann nicht verschwindet, wenn man nicht mehr an sie glaubt."
    Vom Flüchtling zum Weltbürger
    Im zweiten Teil, als dialektische Umkehrung des ersten, erzählt der Band wiederum in 99 Kapiteln "Von den Errettungen". Sie sind in lateinischen Zahlen rückwärts nummeriert, diesmal geht es um die positive Umdeutung von Flucht und Fremdsein. Der Chance eines Neuanfangs nähert sich der Autor zunächst vorsichtig: "Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein."
    Trojanow holt den Flüchtling aus der häufig beschworenen Opferrolle. Flucht könne ein Akt des Widerstands sein, ein Aufbruch ohne die Verpflichtung, irgendwo ankommen zu müssen. Zugleich hat sich die Heimkehr in den "größtmöglichen Kulturschock" verkehrt und sollte, so eines der Wortspiele, in "Fremdkehr" umbenannt werden. Die Eltern werden zu "Helden der Flucht". Mehr noch: Der Autor verschreibt sich dem Prinzip "Auf-Bruch".
    "Deklinierte Verwirrung: Migrant, Immigrant, Emigrant. Wissenschaftlich variiert: multikulturell, interkulturell, transkulturell. Die geläufigen Klassifizierungen können sich seiner nicht bemächtigen. Er verfängt sich nicht in begrifflichen Netzen, die andere auswerfen. Mit jeder weiteren Zuschreibung weicht seine Irritation einem wachsenden Stolz."
    Mancher Geflüchtete leide sein Leben lang unter dem Verlust der Heimat. Nicht so Trojanow. Er entlarvt den Begriff als ideologisch und plädiert in einem politisch getönten Finale dafür, die Grenzen zu überwinden. Denn erstens könne die Menschheit nur kosmopolitisch überleben. Und zweitens gebe es nicht nur eine Heimat, stellt der überzeugte Weltbürger fest, dazu gehörten auch Menschen, die man liebt, Landschaften und Sprachtönungen. Alles andere ist für den Autor fruchtbare Befremdung.
    "Erst wenn er sich von den Zuschreibungen der Herkunft und den Zumutungen der Ankunft losgelöst hat, ist der Geflüchtete wirklich frei."
    Ilija Trojanow: "Nach der Flucht"
    S. Fischer Verlag, 128 Seiten, 15 Euro.