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Flucht in die Unmündigkeit

1979 war das Jahr, als in Teheran amerikanische Geiseln festsaßen und in Deutschland Terrorismushysterie herrschte. Zwar sorgt letztere in der Erzählung "Abweg" von Andreas Höfele für eine entscheidende Wendung, doch mit der weit verbreiteten Heraufbeschwörung der Siebziger als paranoia- und terrorgeprägte Periode hat der Text des 1950 geborenen Andreas Höfele nichts gemein.

Von Florian Felix Weyh | 22.08.2008
    Ein Zettel an der Autowindschutzscheibe mit krakeliger Handschrift: Sie sind mir positiv aufgefallen. Wollen Sie sich verändern? Kein Mensch, der darauf zunächst nicht positiv reagierte. Allerdings, das folgende Wort - Außendienst/Vertrieb - macht die Freude sogleich wieder zunichte: pure Bauernfängerei! Gewöhnlich zerknüllt man eine solche Botschaft und wirft sie achtlos in den Rinnstein. Nicht so der Universitätsassistent Wieland:

    " Er ist sicher verantwortungslos. Also: ohne Verantwortung. Er hat jegliche Verantwortung abgegeben. Und das kann sehr befreiend sein. "

    Befreiung liegt für Wieland in der paradoxen Flucht in die Unmündigkeit. Eines Abends verlässt er sein Institut nicht in Richtung Wohnung, wo Frau und Kinder auf ihn warten, sondern in Richtung eines öden Industriegebiets. Dort schließt er sich einer paramilitärisch organisierten Drückerkolonne an, deren Mitglieder im Firmengebäude nächtigen, einer Mischung aus Obdachlosenasyl und Kaserne. Tristesse pur, doch Wieland genießt die damit verbundene Entleerung seines Kopfes. Man teilt ihn einem erfahrenen Profi namens Schneitzer zu, dann geht die Reise am nächsten Tag über hessische Dörfer, um Hausfrauen überflüssige Zeitschriftenabonnements aufzuschwatzen und nebenbei die eine oder andere Kleinigkeit aus der Wohnung mitgehen zu lassen. Drückerkolonnen? Gibt es so etwas im Internetzeitalter überhaupt noch? Obschon das Buch keine direkte Zeitangabe enthält, merkt man an der eigenen Irritation, dass es in der Vergangenheit spielen muss.

    " Das hat eine ganz - man kann fast sagen: lächerliche und kleinteilige - Begründung, die auf der ersten Seite steht. Denn auf der ersten Seite kommt ein Satz, in dem es heißt, dass Wieland ein Blatt in die Maschine spannt. Und da dieser Satz sozusagen gesetzt war - ich besitze diese erste Seite wörtlich seit 25 Jahren -, und es hat mich dann vor relativ kurzer Zeit gereizt zu versuchen, diese Geschichte zu schreiben, die in der ersten Seite steckt. Und mit diesem Blatt, das in eine Schreibmaschine gespannt wird - kein Mensch schreibt heute mehr mit Schreibmaschinen - lag natürlich absolut fest, wann das spielt. "

    1979, um es präzise zu benennen, dem Jahr, als in Teheran amerikanische Geiseln festsaßen und in Deutschland Terrorismushysterie herrschte. Letzteres sorgt in der dunkel grundierten Erzählung "Abweg" für eine entscheidende Wendung, doch mit der weit verbreiteten Heraufbeschwörung der Siebziger als paranoia- und terrorgeprägte Periode hat der Text des 1950 geborenen Andreas Höfele nichts gemein. Er verfällt weder den Verlockungen des RAF-Zeitkolorits, noch verharrt er in den Ebenen des Kriminalromans, bei dem er Spannungsanleihen nimmt. Wer ein feines literarisches Ohr besitzt, hört in der dichten Parabel über den plötzlichen Identitätsverlust des Assistenten Wieland einen Sound, der mit dem Tod seines ursprünglichen Schöpfers aus der deutschen Literatur entschwunden ist. Höfele schreibt wie W. G. Sebald, und das dürfte kein Zufall sein. Beide kannten sich schon aus beruflichen Gründen, der eine in England lehrender Germanist, der andere in Deutschland lebender Anglist:

    " Ich mag Sebald natürlich sehr, also wirklich sehr, hätte gedacht, dass ich bei anderen Sachen, die ich auch zwischendurch mal so geschrieben habe, dass das vielleicht mehr so in diese Richtung gehen könnte. Bei dem hätte ich es jetzt weniger gedacht. An Sebald hab ich immens bewundert - und fand es auch extrem verwunderlich - wie sehr er das Deutsche beibehalten hat, obwohl er so lange in England war. Ich habe mal zwei Jahre in Schottland gelebt und habe damals auch geschrieben und muss sagen, dass ich in den Dialogen schon bei diesem kurzen Aufenthalt, zwei Jahre nur, schon den Eindruck hatte, dass ich irgendwie die Spontaneität des gesprochenen Deutsch am Verlieren war. Ich bin allerdings sprachlich, also fremdsprachlich, auch ein extremes Chamäleon. Wenn ich so lange in England gelebt hätte, leben würde, dann würde ich glaube ich inzwischen Englisch schreiben. "

    Das tut er zum Glück nicht, sondern erfreut seine Leser mit vorzüglichem Deutsch. Die Sprache ist Fundament und Gerüst einer Geschichte, die von psychologischen Kategorien - Wieland nämlich leidet, wie wir nach und nach erfahren, unter einer Angstneurose - zu existenziellen Erfahrungen aufschließt. Ein organisch unerklärlicher Herzstillstand geht der Flucht in die Drückerwelt voraus, die Furcht vor dem eigenen Abgang bahnt die Heilserwartung des Abwegs, auch wenn Andreas Höfeles Protagonist damit einem Irrtum erliegt; seine Freiheit erweist sich zunehmend als hoffnungslose Getriebenheit. Nicht abwegig, aber auch nicht zwingend, findet der mit allen Wassern der Interpretationskunst gewaschene Anglistikprofessor Höfele den metaphorischen Gleichklang:

    " Also wenn man irgendwie sagt: Eine Zeit des Stillstands und dann dieser Herzstillstand ... da kann ich nur Englisch sagen: Be my guest! "

    Über einen langen Zeitraum hinweg konnte man bei Andreas Höfele allerdings nicht zu Gast sein, jedenfalls kaum als Belletristikleser; der letzte Roman "Der Spitzel" über den Shakespeare-Antipoden Christopher Marlowe liegt zwölf Jahre zurück. Die Zwangspause resultierte nicht nur aus der Doppelbelastung als Institutsleiter und zeitweiliger Dekan an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, sondern auch aus einem Ehrenamt: Andreas Höfele ist Präsident der "Deutschen Shakespeare-Gesellschaft". Dieses Engagement für die älteste literarische Vereinigung des deutschen Sprachraums rückt denn auch die Maßstäbe für sein eigenes Schreiben zurecht:

    " Es gibt so was wie die Rede davon, Shakespeare sei der Goldstandard der Literatur. Ich würde annehmen, wenn die Titanic "Literatur" untergeht, dass das Letzte, was dann noch oben rauskuckt, ohne Zweifel - ohne jeden Zweifel! - nicht Goethe, nicht Dante, sondern Shakespeare sein wird. "

    Aber vielleicht ist die Literatur ja gar nicht dazu verurteilt, den Weg der Titanic nehmen zu müssen. Bleibt man im Bild, bedeutete das: weniger blinder Fortschrittsglaube und mehr Vertrauen in alte Handwerkskunst. Diesbezüglich navigiert die Erzählung "Abweg" von Andreas Höfele in sicherem Gewässer: Sprachlich beherzigt sie die Tugend der Lakonie, vermeidet also jedes die Gefahr des Kenterns heraufbeschwörende Übergewicht, und sie zeigt den Menschen als Passagier des Lebens, nicht als dessen Kapitän. Denn der, das weiß man ja, steuert gern auf Eisberge zu.

    Andreas Höfele: "Abweg"
    weissbooks, 112 Seiten, 16,- Euro