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Flucht und Migration
Die internationale Flüchtlingspolitik - ein Desaster

Eine schonungslose Analyse des Scheiterns und Vorschläge für eine Reform des UN-Flüchtlingshilfswerkes - legen Alexander Betts und Paul Collier in "Gestrandet" vor. Die aktuelle, auch die deutsche Flüchtlingspolitik, so die Oxforder Wissenschaftler, gefährde die Fähigkeit der Staatengemeinschaft, Menschen in Not Schutz zu bieten.

Von Marie Wildermann | 18.09.2017
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    Alexander Betts und Paul Collier "Gestrandet.", Siedler Verlag (imago/Image Broker/Egmont Strigl / Siedler Verlag)
    Das Buch ist eine fundamentale Kritik an der bisherigen Flüchtlingspolitik, an der internationalen, aber auch an der europäischen und insbesondere an der deutschen.
    Die Kernbotschaft: Es ergibt keinen Sinn, Flüchtlinge viele Tausende Kilometer entfernt von ihrer ursprünglichen Heimat neu anzusiedeln; diese radikale Entwurzelung ist weder soziologisch noch ökonomisch sinnvoll. Und: Flüchtlinge sollten arbeiten dürfen, am besten in Sonderwirtschaftszonen in der Nähe ihrer Heimat. Doch dafür müsste sich das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen grundlegend verändern und sich von einer rein humanitären in eine entwicklungspolitische Organisation umgestalten.
    Fluchtursache Chaos
    Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Zahl fragiler Staaten dramatisch zugenommen, schreiben die beiden Autoren Betts und Collier. Und damit haben sich auch Flucht und Fluchtursachen radikal verändert:
    "Manche Flüchtlinge fliehen auch heute noch, weil sie von ihrem Staat verfolgt werden. Die überwältigende Mehrheit jedoch flieht heute vor dem Chaos, das durch den Zusammenbruch ihres Staates verursacht wird."
    Wer ist asylberechtigter Flüchtling, wer Migrant - das lässt sich kaum noch klar unterscheiden, so die beiden Wissenschaftler der Oxford Universität. Weltweit sind 65 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie. Aufgrund des Klimawandels dürfte ihre Zahl weiter steigen. Doch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, kurz UNHCR, habe für Massenflucht und Vertreibung bislang keine Lösung, beklagen Betts und Collier.
    In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründet, sei diese UN-Organisation inzwischen völlig ungeeignet, auf Massenflucht und Vertreibung angemessen zu reagieren. Die Flüchtlinge werden in Flüchtlingslagern mit Nahrung und Kleidung versorgt, dürfen aber nicht arbeiten. Beispiel Dadaab in Kenia. Das Lager entstand wegen des Bürgerkriegs in Somalia Anfang der neunziger Jahre. Heute, 25 Jahre später, leben hier noch immer 300.000 Menschen. Ohne Arbeit, ohne Perspektive - nicht nur in menschlicher Hinsicht eine Katastrophe.
    Flüchtlinge benötigen mehr als Nahrung
    "Sie sind die ideale Klientel für die Radikalisierung und Rekrutierung durch aufständische Gruppen, Milizen und terroristische Organisationen, die von der Existenz einer entfremdeten, arbeitslosen und gelangweilten Jugend profitieren."
    Seit Ausbruch des Syrienkriegs leben in den Flüchtlingslagern rund um Syrien mehrere Millionen Vertriebene - im Libanon, in Jordanien, in der Türkei. Auch sie ohne Arbeit, ohne Beschäftigung. Viele Flüchtlinge haben die Lager verlassen, halten sich in den Städten illegal mit Billiglohnjobs über Wasser. Unterstützung durch das UNHCR gibt es nur in den Flüchtlingslagern, aber auch nur gerade so viel, dass die Menschen nicht verhungern.
    "Vielmehr muss es darum gehen, die Selbstständigkeit der Flüchtlinge durch Arbeitsplätze und Bildung wiederherzustellen. Und das insbesondere in den Entwicklungsländern, die in aller Regel die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge beherbergen."
    Sonderwirtschaftszonen gefordert
    Betts und Collier schlagen vor, in der Nähe von Konfliktländern, in Grenzregionen, Sonderwirtschaftszonen einzurichten, in denen Flüchtlinge ganz legal arbeiten können, um sich und die Familien zu ernähren. Auch Unternehmen aus den Kriegsgebieten könnten sich dort vorübergehend ansiedeln und so ihre Betriebe weiterführen, unterstützt von Investitionskrediten der Weltbank und ausgestattet mit einem Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Damit eine Sonderwirtschaftszone für das Gastland attraktiv wird, muss es auch selbst davon profitieren. In Jordanien gibt es seit einem Jahr ein solches Experiment. Unterstützt von der EU wurden in Jordanien mehrere Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, in denen syrische Flüchtlinge arbeiten. 200.000 Arbeitsplätze, so der Plan, sollen dort entstehen.
    "Unterschiedliche Rahmenbedingungen werden verschiedene Ansätze benötigen. Das Wesentliche ist, dass wir von einem rein humanitären Ansatz zu einem entwicklungsorientierten Ansatz übergehen, in dessen Zentrum Arbeitsplätze und Bildung stehen."
    Hätte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen sich schon vor Jahren entwicklungspolitisch positioniert, hätte es die Massenflucht der Syrer nach Europa nicht geben müssen, meinen die Autoren. Denn Flüchtlinge bleiben in der Regel lieber in Heimatnähe, damit sie schnell zurückkehren können, wenn der Konflikt vorbei ist. Sie dabei zu unterstützen, das wäre aus Sicht der Autoren die Aufgabe der internationalen Flüchtlingspolitik gewesen.
    Kritik an der deutschen Kanzlerin
    Scharf kritisieren Betts und Collier auch die chaotische europäische und deutsche Flüchtlingspolitik. Angela Merkel habe durch ihre Kommunikation Migranten aus aller Welt angelockt und mit ihrem Alleingang die Spaltung Europas forciert und den Brexit befördert. Auch für den späteren Wiederaufbau Syriens sei diese Flüchtlingspolitik verhängnisvoll. Denn genau die Menschen, die nach Europa, nach Deutschland, gekommen seien, würden dem Land zukünftig für den Wiederaufbau fehlen.
    Paul Collier, der Merkels Flüchtlingspolitik für einen schweren Fehler hält, hat die Bundeskanzlerin später zu genau diesen Fragen beraten. Für das Buch haben die beiden Wissenschaftler eine Fülle an Material zusammengetragen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen auf den Prüfstand zu stellen, das war längst überfällig. Und Betts und Collier erklären überzeugend, warum die als großartig etikettierte Flüchtlingshilfe nicht nur armselig, sondern langfristig für alle Beteiligten sogar schädlich ist.
    Vieles von dem, was die beiden Autoren in ihrem Buch vorschlagen, wird sich so leicht nicht umsetzen lassen, aber sie haben eine Diskussion über einen völlig anderen Umgang mit Flucht und Vertreibung angestoßen. Dafür leistet ihr Buch einen hervorragenden Beitrag.
    Alexander Betts und Paul Collier: "Gestrandet. Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet - und was jetzt zu tun ist".
    Siedler Verlag, 333 Seiten 24,99 €