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Flucht vor dem Erinnerungsverlust

Der Bündner Johann Josty wandert nach Berlin aus und wird rennomierter Zuckerbäcker. Ein plötzlicher Lottogewinn weckt in ihm Erinnerungen und den Wunsch, seine Heimat noch einmal aufzusuchen - Eine eindringliche und anrührende Emigrantengeschichte.

Von Lerke von Saalfeld | 23.04.2010
    "Ich habe in Sils Maria Johann Josty entdeckt und hatte von einem Gerücht gehört, dass vor 200 Jahren dort ein Zwölfjähriger abgehauen ist; der hatte bis dahin auf Ziegen aufgepasst und soll aus Versehen eine Ziege erschlagen haben, und aus Angst vor Repressalien sei er abgehauen. Der sei irgendwann später in Berlin ein sehr erfolgreicher Zuckerbäcker geworden. Ich dachte *huch', wie kommt es, dass jemand vom Oberengadin, wenn er abhaut, Richtung Norden geht. Das war vollkommen unlogisch, weil die Straße geht direkt runter, da eröffnet sich ganz Italien. Warum geht man über die Alpen , durch diese so rauhe harte Landschaft. Ich dachte, seltsam."

    Isabelle Azoulay machte sich auf Spurensuche und fand heraus, dass im 18.Jahrhundert viele Bündner ihre Heimat aus Armut verlassen mussten und nach Venedig gingen, um sich dort als Zuckerbäcker zu verdingen. Auch der Vater von Johann Josty gehörte zu den Flüchtlingen und machte sich zusammen mit seiner Frau gen Süden auf. Auf dieser Reise wurde Johann Josty geboren. Die Bündner hatten kein Glück, weil Venedig die Gesetze verschärfte und alle ausländischen Zuckerbäcker vor die Tore der Stadt wies - und so kam es, dass gelernte Zuckerbäcker aus Sils und anderen Bündner Dörfern sich über die ganze Welt verstreuten, von Bilbao bis Odessa.

    Johann Josty wanderte nach Berlin, kam dort 1785 an und eröffnete 1796 seinen ersten Konditorladen im Herzen der Stadt. Der Laden war so erfolgreich, dass selbst die Hofgesellschaft bei ihm einkaufte, und als Napoleon 1806 die Stadt besetzte, kostete auch der siegreiche Feldherr die delikaten Zuckerbäckereien des Johann Josty. Sie schmeckten nach französischer Lebensart, wie auch im Roman die Autorin sprachlich delikat mit französischen Einsprengseln spielt. Dennoch hat die gebürtige Französin Isabelle Azoulay, die 1961 in Paris auf die Welt kam, zweisprachig aufwuchs und auf Deutsch schreibt, keinen historischen Roman geschrieben, in ihrem Debütroman interessierte sie etwas anderes:

    "Irgendwann wurde diese Figur Johann Josty so interessant; das Bisschen, das ich historisch finden konnte, reizte meine Einbildungskraft für die Lücken, und ich habe mir einen Ausschnitt aus seinem Leben ausgesucht. Das beginnt, als er schon sehr wohlhabend in Berlin ist, und es passiert etwas, er gewinnt im Lotto, was es schon damals gab. Er ist schon wohlhabend, er ist sehr fleißig, wie die Calvinisten sehr verantwortungsbewusst. Er weiß, daß man im Leben nichts geschenkt bekommt und nur durch Fleiß was erreicht. Dieser damals größtmögliche Lottogewinn, das freut ihn nur ganz kurz. Es beunruhigt ihn auch. Und das setzt etwas in Gang, was mit seinem Gedächtnis zu tun hat.

    Dieser seltsame Wink des Glücks öffnet ein Riesenfenster der Erinnerung, was er in einer Kammer seines Gedächtnisses hat verborgen gelassen die ganze Zeit. Mich interessiert, wie das Gedächtnis funktioniert; ...Man haftet an der Vergangenheit, dann verselbstständigt sich etwas und irgend wann kommt ein Punkt, wo die Zeit verrinnt und wo man eine Riesenungeduld empfindet und etwas zurückholen möchte, als würde man gleich etwas verpassen. Es schlägt wie ein Blitz ein, dass das Leben doch verdammt sehr sehr kurz sein wird. Und in seinem Fall kommt wie ein Geröll ihm entgegen das schlechte Gewissen über seine Flucht als Zwölfjähriger. Er hat alle im Stich gelassen, er hat sich nicht verabschiedet. Das habe ich inszenieren wollen, wie stellt er sich dem Früher und geht zurück in die Alpen zum ersten Mal. Es eine fast unheimliche Reise."

    Isabelle Azoulay hat sich nicht vom historischen Material überwältigen lassen, sie hat vor historischer Kulisse eine eigene, sehr eindringliche und freie Geschichte entworfen, die den Leser in die Gefilde einer anrührenden Emigrantenexistenz führt. Mit diskretem Charme und voller historischer Neugier geht die Autorin fremden Spuren nach, um auf etwas Grundsätzliches zu stoßen, das auch im Heute sich ereignen könnte. In Berlin hat Josty alles, was ihn zufrieden machen könnte; er hat seine Frau Lina gefunden, eine Jüdin, die er nicht heiraten kann, weil sie nicht zum Christentum konvertieren will, aber sie haben zusammen eine Tochter gezeugt und sind eine glückliche, wohl behütete Familie.

    Und plötzlich löst der unverhoffte Lottogewinn in seinem Denken eine Lawine von Gedanken und Erinnerungen aus, den Ort seiner Herkunft noch einmal aufzusuchen. Nichts kann ihn davon abhalten. Der sonst so vernünftige Johann Josty muß sich auf den Weg machen und sich seiner Vergangenheit stellen. Der reich gewordene Konditor erreicht sein Dorf Sils Maria, die Ankunft ist der Autorin wichtiger als die Fahrt dahin:

    "Die Leute aus Sils, die werden schier verrückt, als er ankommt. Das ist ein goldenes Kalb, die würden ihn am liebsten an einen Baum fesseln, damit er endlich hierbleibt mit seinem Erfolg. Die suchen die schönste Frau der Gegend für ihn - der muss hierbleiben. Er denkt überhaupt nicht daran. Und dann passiert, dass seine Frau Lina in Berlin hört, dass man ihn dort mit einer Frau von da verheiraten will. Diese Frauenfiguren waren hilfreich, um dieses zapplige ungeduldige Jetzt und dieses Eingeholtsein von früher, das zusammenzubringen."

    Köstlich beschreibt die Autorin, wie der treuherzige Josty in Sils umgarnt wird, denn er verschleudert seinen ganzen Lottogewinn für die Dörfler; aber seine Frau Lina ist so beunruhigt von den Gerüchten über eine Verkuppelung ihres Mannes mit einer Dorfschönheit, dass sie sich entschlossen auf den Weg macht, diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Ihre Kutschfahrt wird hinreißend beschrieben, denn allerhand unheimliche Dinge widerfahren Lina auf dieser Reise

    "Ich hab mir hier in Berlin alte Postkutschenkarten-Wege zeigen lassen. Das sind die Bonbons einer Recherche, wo man mit Handschuhen ganz alte Geographien entdeckt. Man kennt Deutschland, aber die Orte sind ganz andere als die heutigen Autobahnraststätten - und sich das auch in der damaligen Langsamkeit vorzustellen. Also das mit der Kutsche fasziniert mich und ich würd’ am liebsten auch heute noch mit der Kutsche fahren. Die Zeit in der Kutsche, die Anstrengung der Kutschenfahrt, das ist etwas, was mich sehr gereizt hat, die wieder zu transponieren mit einer quirligen und ungeduldigen Lina, die dadrin sitzt, weit fährt und auch ein bisschen Angst hat."

    Lina begegnet in der Kutsche einem Mitreisenden, der sich mehr und mehr für sie zu interessieren beginnt, der Augenarzt Vincent Eyssen. Noch nie hat der Mediziner eine solch selbstbewusste ungewöhnliche Frau erlebt, die alleine reist und genau weiß, was sie will. Er ist ein absonderlicher Mensch, der aus dem Leben gefallen ist, keine Orientierung hat. Auf der vorletzten Postkutschenstation verschwindet er im Nichts. Lina fährt alleine weiter - mit seinem Koffer. In Sils arrangiert sich alles, Josty kehrt mit Lina zurück nach Berlin.

    Beschrieben wird eine ungewöhnliche Liebe in unruhiger Zeit, beschrieben wird aber auch, wie die Verwerfungen eines Lebens Gefährdung und Bedrohung heraufbeschwören. Der historische Stoff verwandelt sich auf wundersame Weise in ein gelebtes Leben. Mit Poesie und Anmut erzählt Isabelle Azoulay diese bizarre Geschichte, die wahr und doch unwahr ist, denn allzu glücklich will die Autorin ihre Protagonisten nicht entkommen lassen. Als das wieder vereinte Paar nach Berlin zurückreist, kommt es zu einem seltsamen Zwischenfall.

    "Lina hört einen Schrei, sie werden überfallen. Es muss für sie fast ein Déjà-vu gewesen sein, denn als sie hinfuhr mit diesem Augenarzt Vincent Eysssen in der Kutsche, da gibt es ja einen Überfall. Und da wird auch geschildert, dass es häufig ist, dass die Kutscher auch damit umgehen können. Aber in dieser Kutsche mit Johann und Lina, die jetzt zurückfahren nach Berlin, ist ein Koffer von Vincent. Vincent ist verschollen gegangen. Man weiß nicht, wer diese Kutsche überfallen hat .Es könnte er sein. Das zehrt bestimmt an Lina, dieses Unheimliche dieser Fahrt, die mit einer ganz großen Unruhe verbunden war. Es konnte nicht alles im Zuckerguss zum Schluss triefen. Vincent geht vor die Hunde, und davon konnte sie nicht ganz befreit werden mit ihrem Glück, was sie dann wieder findet. Das gibt zum Schluss einen Tupfer, der daran erinnert."

    Isabelle Azoulay: "Josty - eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria". Elfenbein Verlag, 150 Seiten, 19 Euro.