Freitag, 19. April 2024

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Haseloff (CDU) zur neuen Regierung
"Jeder Minister ist zum Erfolg verdammt"

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sieht in Angela Merkels Regierungserklärung eine "demütige Zurkenntnisnahme" von Wahlergebnis und Nöten der Regierungsbildung. Die Regierung müsse nun das Migrationsthema angehen, ohne über jedes Stöckchen der AfD zu springen, sagte er im Dlf.

Reiner Haseloff im Gespräch mit Birgit Wentzien | 25.03.2018
    14.03.2018, Berlin: Die Mitglieder des neuen Bundeskabinetts haben auf der Regierungsbank Platz genommen. Vorne l-r, Ursula von der Leyen (CDU), Verteidigungsministerin, Katarina Barley (SPD), Bundesjustizministerin, Peter Altmaier (CDU), Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Heiko Maas (SPD), Außenminister, Horst Seehofer (CSU), Bundesminister für Inneres, Heimat und Bau, Olaf Scholz (SPD), Bundesfinanzminister und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU); 2. Reihe, l-r, Anja Karliczek (CDU), Bundesministerin für Bildung und Forschung, Svenja Schulze (SPD), Bundesumweltministerin, Andreas Scheuer (CSU), Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister, Franziska Giffey (SPD), Bundesfamilienministerin, Julia Klöckner (CDU), Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales und Kanzleramtsminister Helge Braun sowie Gerd Müller (CSU), Entwicklungsminister in der 3. Reihe.
    Es seien "Defizite unserer bisherigen Regierungsarbeit", die als Einstiegstor für Provokationen der AfD dienten, sagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) im Dlf (dpa / Gregor Fischer)
    Wentzien: Willkommen Ministerpräsident Haseloff, am Ende der ersten richtigen Regierungswoche in Berlin. Um diesen Aufgalopp des bundespolitischen Lebens soll es gehen und um den Koalitionsvertrag, den Plan dazu. Und das eine passt ja nicht immer so zum anderen. Was sagen Sie? Passt das noch zusammen, das richtige bundespolitische Leben in dieser Woche und der Plan?
    Interview der Woche: Birgit Wentzien (re.), Chefredakteurin vom Deutschlandfunk interviewt den Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff (CDU)
    Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, im Gespräch mit Dlf-Chefredakteurin Birgit Wentzien (re.), für das "Interview der Woche" des Deutschlandfunks (Deutschlandradio / Anja Schäfer)
    Haseloff: Na, wir haben im Bundesrat gemerkt, dass die eigentlichen Gesetze jetzt noch fehlen. Das ist klar. Wir haben noch keinen Haushalt. Die neue Bundesregierung muss erst anfangen zu arbeiten, sodass wir auch mit vielen Selbstbefassungsanträgen zu tun hatten. Aber es ist zumindest intensiver schon wieder geworden. Die Ratlosigkeit ist weg. Klappt es mit der Regierungsbildung oder nicht? Sodass wir zumindest jetzt gemeinsam uns unterwegs wissen – Bundesregierung, Bundesrat und auch Bundestag.
    Wentzien: Auf den Bundesrat kommen wir noch. Das ist ja eine sehr bunte Kammer geworden inzwischen. Lassen Sie uns beim Koalitionsvertrag bleiben und beim Parlament und dem Aufgalopp, den wir da beobachtet haben. Im Koalitionsvertrag heißt es: "Wir streben einen politischen Stil an, der die öffentliche Debatte belebt." Das ist im Aufgalopp – würde ich sagen – vor allem zwei Ministern gelungen, die kräftig stilistisch belebten. Das ist Jens Spahn und das ist Horst Seehofer. Und der Eindruck ist in diesen ersten Tagen, die SPD als Anteilseigner dieser kleinen Großen Koalition muss sich gar nicht so großartig anstrengen, denn für Dissens sorgen die Unionisten untereinander schon selbst. Haben die beiden, Herr Haseloff, aus Ihrer Sicht, inzwischen begriffen, dass sie Minister sind? Wissen sie um ihre Aufgabe? Und haben sie möglicherweise das Wort von der Belebung der öffentlichen Debatte noch nicht so richtig verstanden? Was sagen Sie?
    Haseloff: Ich würde erst mal nicht von Dissens sprechen, sondern von politischer Meinungsbildung und auch Artikulation. Auf der anderen Seite muss man ja auch sagen, wenn Journalisten auf neue Regierungsmitglieder zugehen, dann stellen sie Fragen. Und man versucht diese natürlich zu beantworten, sodass also die Themensetzung weniger durch die Politiker selbst erfolgte, sondern durch die bewusst gesetzten Nachfragen, wo man sicherlich auch davon ausgehen kann, dass man damit auch in gewisser Weise provokativ unterwegs ist.
    "Wir sollten jetzt in Ruhe das Amtsgeschäft beginnen lassen"
    Wentzien: Aber antworten müssen die Minister ja schon selbst.
    Haseloff: Das ist richtig. Aber zu sagen "dazu sage ich nichts", das ist wahrscheinlich auch am Anfang einer Amtsübernahme und einer Legislaturperiode auch ein bisschen wenig. Und dass derjenige sowieso dann das sagt, was er immer gesagt hat, das ist eigentlich erwartbar. Ich glaube nicht, dass Horst Seehofer oder Jens Spahn jetzt sofort mit der Amtsübernahme einen Rollenwechsel vorgenommen haben.
    Wentzien: Wenn Sie jetzt auf die Kanzlerin schauen, auf die Regierungschefin im Ring, was sagen Sie ihr? Sie kennen sie gut. Wie soll sie mit diesem Maß an Renitenz umgehen? Was würden Sie ihr raten?
    Haseloff: Ja, ein gerüttelt Maß Gelassenheit, weil natürlich die Vielfältigkeit, in gewisser Weise auch Heterogenität auch dieser Koalition, von Anfang an ja feststand. Wir haben ja auch mit der Regierungsbildung insgesamt ja lange gebraucht und haben auch hart um diese entsprechenden Themen im Koalitionsvertrag gerungen, die jetzt dort stehen. Deswegen sind trotzdem Politiker Persönlichkeiten, die seit vielen Jahren bekannt sind und unterwegs sind mit uns. Und ich denke mal, wir sollten in Ruhe jetzt das Amtsgeschäft des jeweiligen Ministers und der Ministerin beginnen lassen und der Rest wird dann ausmoderiert. Das wird sie schon gut hinkriegen.
    Wentzien: Auf Jens Spahn ist Merkel mit keinem Wort in ihrer Regierungserklärung eingegangen. Das ist ja auch eine Art und Weise damit umzugehen – sehr gelassen sozusagen. Auf Horst Seehofer ist sie eingegangen und sie hat am Podium im Parlament ihm quasi per Regierungserklärung einen Arbeitsauftrag erteilt. Wird das den einen und den anderen überzeugen und wird es die beiden Minister einhegen im Kabinett?
    Haseloff: Der Koalitionsvertrag steht und die Projekte, die vereinbart sind, werden umgesetzt. Jeder Fachminister ist auch zum Erfolg verdammt – so möchte ich es mal bezeichnen. Und der Ehrgeiz auch dieser gerade genannten beiden Personen ist so stark ausgeprägt, dass sie versuchen, einen guten Job zu machen. Und ich glaube, die Flankierung auch durch Bundestagsausschüsse und auch Bundesratsmitglieder wird so kooperativ erfolgen wie bisher. Horst Seehofer zum Beispiel war fast zehn Jahre lang Kollege und Mitglied des Bundesrates, Ministerpräsident. Und damit ist er sowieso aufgrund seiner bundespolitischen Vergangenheit in den 90ern, Anfang-2000er-Jahren Profi.
    "Ein Horst Seehofer muss keinen Machtkampf mehr führen"
    Wentzien: Sie kennen ihn über viele Jahre. Er selber sagt übrigens jetzt von sich – er gibt viele Interviews und er sagt von sich, Alter mache frei. Von daher, wenn wir dieses Kapitel mit der Betrachtung dieser beiden Minister abschließen, werden wir jetzt Augen- und Ohrenzeuge über viele Zeit hinweg eines Machtkampfes, der dann zu betrachten sein wird? Wird Merkel immer wieder gelassen, wie Sie sagen und von Ihnen empfohlen, aber auf ihn auch eingehen müssen, ihn quasi einhegen müssen?
    Haseloff: Ein Horst Seehofer muss keinen Machtkampf mehr führen. Er ist Vorsitzender der CSU auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite ist seine politische Karriere mit der Amtsübernahme jetzt als Minister sozusagen auf einem letzten Höhepunkt angelangt. Das weiß er auch. Und er möchte da noch Gutes realisieren und hat sich sicherlich auch vieles vorgenommen, gerade in dem Bereich, wo er ja mit den bayrischen Erfahrungen für Deutschland durchaus etwas Gutes beitragen kann, nämlich auch die Klammer zwischen Tradition, Heimat und Innovation. Es ist das erfolgreichste Bundesland, das wir haben. Und das durchaus gerade im Zusammenhang mit den genannten Dingen, die er jetzt in Teilen in seinem Ressort hat, wie zum Beispiel das Heimatmuseu-, Heimat-… jetzt geht mir es genauso.
    Wentzien: Das war auch sein Versprecher, ja.
    Haseloff: Das Heimatministerium. Aber dazu gehören eben auch Heimatmuseen. Das heißt Kultur im ländlichen Raum, die Menschen dort mitzunehmen und dafür zu sorgen, dass eben auch die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen den einzelnen Regionen funktioniert. Und das ist, denke ich mal, auch Aufgabe dieses neuen Innenministers.
    Wentzien: Also so gut, wie Sie ihn kennen, macht Ihnen sein Spruch "Alter macht frei" keine Angst?
    Haseloff: Ganz im Gegenteil. Er wird nicht getrieben von Dingen, die ein 30-, 40-, 50-Jähriger noch vor sich hat, der auch wieder nominiert werden muss, der gewählt werden muss, sondern er kann sich den fachlichen Dingen widmen mit der Erfahrung, die er einzubringen hat und auch dem guten Miteinander – das muss man ja auch mal herausstellen – dem guten Miteinander mit den anderen Kolleginnen und Kollegen, aber vor allen Dingen auch mit der Kanzlerin. Dass wir jetzt eine Bundesregierung haben, ist im Wesentlichen auch dem guten Zusammenspiel geschuldet zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer.
    Wentzien: Das hat man nach außen nicht immer so wahrnehmen können.
    Haseloff: Ja, und das ist eben schade, dass man so oberflächlich da drüber gegangen ist. Wenn diese beiden Personen nicht gewesen wären in den letzten Monaten, auch schon bei der Jamaika-Sondierung, dann wäre möglicherweise eine Neuwahl nicht zu vermeiden gewesen in Deutschland.
    Regierungserklärung: "demütige Zurkenntnisnahme"
    Wentzien: Mein Eindruck ist, nach der Regierungserklärung der Kanzlerin, Herr Haseloff, Angela Merkel hält dagegen. Sie ist offensiv und zugleich selbstkritisch, und zwar in einem Maß, wie man es ja bisher, meine ich, von ihr noch nicht gehört hat. Sie hat von Fehlern gesprochen, auch von eigenen Fehlern, die sie gemacht habe, und zwar vor dem Flüchtlingsjahr 2015. Auch sie habe zu lange gehofft, die in Syrien entstehenden Probleme würden Deutschland und Europa so nicht unmittelbar betreffen. Das sei naiv und das sei falsch gewesen. Und sie hat zugleich von einem weltoffenen Deutschland gesprochen in ihrer Regierungserklärung und darauf gesetzt, dass die Spaltung im Land, die es gibt, auch das war in der Deutlichkeit noch nicht zu hören, dass diese Spaltung überwunden wird und ein größerer Zusammenhalt geschaffen werden kann. Sie haben gerade erwähnt, Sie haben alle Verhandlungen, alle Sondierungen in allen Kombinationen und Konstellationen begleitet, Sie kennen Angela Merkel über viele, viele Jahre hinweg. Hat sie auch für Sie den richtigen Ton in dieser Woche getroffen?
    Haseloff: Ich glaube, dass zumindest schon ein etwas anderer Ton gefunden wurde als zum Beispiel in den Vorstellungsrunden vor der Wahl. Und die Selbstkritik bezog sich ja auch letztendlich darauf, dass wir ja in den Umfragen vor der Bundestagswahl bei über 40 Prozent lagen und nachher fast 10 Prozent weniger eingefahren haben. Und da muss man schon überlegen: Wo ist da – sagen wir mal – für ein Viertel der potenziellen Wähler das Vertrauen verlorengegangen? Und da gab es Implausibilitäten, auch in der Formulierung. "Das war alles richtig und es ist kein Korrekturbedarf." Ich überspitze jetzt ein bisschen. So hat sie es ja auch nicht gesagt, aber es kam so an. Dass wir sogar in den Parteigliederungen auch harte Diskussionen da geführt haben. Und wir haben es ja am Wahlergebnis gesehen. Und die demütige Zurkenntnisnahme dieses Wahlergebnisses und die Mühseligkeiten, die mit der Regierungsbildung dann verbunden waren, haben zu dieser Regierungserklärung geführt. Und ich glaube, dass sie damit auch einen guten Start gemacht hat. Unabhängig davon, dass wir gemeinsam überlegen müssen, wie wir gerade die Polarisierung in der Gesellschaft abbauen, ohne eben die entsprechenden Weltoffenheitskriterien infrage zu stellen. Und dazu muss beitragen ein ganz pragmatischer, auch ergebnisorientierter Politikansatz, der anders auch mit Migration, mit Steuerung, auch mit Integrationsbegrenzung, die im kommunalen und Länderbereich vorhanden ist, umgeht als bisher. Wir können da nichts schönreden. Das kostet viel Geld, viel Kraft. Und wir sind noch längst nicht über alle Probleme hinweg.
    Wentzien: Also, Sie teilen sowohl die Fehler, die die Regierungschefin ausgerückt hat, als auch deren Perspektiven?
    Haseloff: Ich glaube, dass sie realistisch eingeschätzt hat, was ihr eigener Part in diesem Zusammenhang gewesen ist. Wobei ich da auch jetzt nicht den Stab brechen möchte. Wer hat schon im Jahre 2013/2014, ich war ja damals auch schon Ministerpräsident, all das so kommen sehen? Man kann sich allerdings über das Reaktionsschema dann ab 2015 unterhalten. Und da gab es schon Dissense auch zwischen Ländervertretern und der Bundesregierung und ihr. Und dass wir jetzt einen Kompromiss gefunden haben und dieser sogar im Koalitionsvertrag steht und der auch klar von den begrenzten Möglichkeiten auch einer Bundesrepublik ausgeht, das ist, denke ich mal, jetzt im Sinne auch der Ausfaltung weiterer politischer Projekte – ja – notwendig zum Erfolg zu bringen, damit diejenigen, die wir auch als Wählerinnen und Wähler verloren haben, zurückkehren.
    "Die Menschen wollen wissen, wie es weitergeht"
    Wentzien: Sie hätte also, wenn ich Sie jetzt sehr diplomatisch richtig verstehe, noch über weitere Fehler nach 2015 reden müssen?
    Haseloff: Ich glaube, dass die Menschen auch gar nicht jetzt eine riesige Fehleranalyse zur Vergangenheit wollen. Die wollen jetzt wissen, wie es weitergeht. Wie gehen wir jetzt mit dem Status quo um? Wie steuern wir weitere Zuwanderung? Wie gehen wir mit der Diskussion um, ob überhaupt Zuwanderung, ich sage mal, belebend für eine Gesellschaft ist, oder ob man eine Homogenität benötigt als Bürgerin und Bürger, in der man sich wohlfühlt? Letztendlich entscheidet ja souverän nämlich der Wähler in der Wahlkabine, wie die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Parteien zur Umsetzung gelangen können, nämlich dann über Mehrheiten, die bildbar sind oder nicht bildbar sind. Und daran müssen wir uns gewöhnen. Wir können uns unser politisches Geschäft und unsere Visionen von der Gesellschaft und der Zukunft malen, wie wir wollen, letztendlich werden wir immer wieder geerdet am Wahltag, wenn die Menschen uns sagen: "Nein, diesen Weg wollen wir nicht mitgehen oder werden wir zumindest anders steuern."
    Wentzien: "Der beste Prophet für die Gegenwart ist die Vergangenheit." Lord Byron ist der Autor dieser Zeile, Herr Ministerpräsident, und sie geht bitte auch an Sie im Interview der Woche des Deutschlandfunk. Was hoffen Sie für die nächste Gegenwart und Zukunft Ihres Landes, für Sachsen-Anhalt, wenn Sie die Vergangenheit betrachten? Lassen Sie uns kurz festhalten: Der gelernte Physiker und gewesene Arbeitsamtsdirektor und Regierungschef ist Chef eines Kabinetts in Magdeburg aus CDU, SPD und Grünen. Das ist die sogenannte Kenia-Koalition. Ist das aus Ihrer Sicht ein Muster mit Wert auch für andere Bundesländer, vielleicht auch für den Bund?
    Haseloff: Ja, wir haben zumindest eine Handvoll Landesregierungen, die mit drei Partnern nur zu bilden gewesen sind. Ja, wir haben Jamaika, wir haben Ampel, wir haben Kenia.
    Wentzien: 13 verschiedene Konstellationen.
    Haseloff: Wie haben rot-rot-grün. Ja, genau, aber eben Dreierkonstellationen eben auch eine Handvoll. Das heißt, fast ein Drittel der Länder wird durch Dreierkonstellationen inzwischen gewählt. Daran merkt man, dass die Kraft und die Größe der bisherigen Volksparteien, die mit einem weiteren kleineren Partner in der Lage waren, eine Regierung zu bilden, abgenommen hat, dass die Heterogenität der Gesellschaft zugenommen hat, und dass wir demzufolge vor komplizierteren Regierungsbildungen auch in Zukunft stehen werden. Es ist aber durchaus möglich, für eine begrenzte Zeit ein stabiles Bündnis hinzubekommen, wenn die Alternativen nicht gegeben sind. Und auf der anderen Seite, wenn man sich auf Projekte verständigt, die den anderen nicht überfordern. Und für fünf Jahre, solange dauert bei uns eine Legislaturperiode, sind solche Projekte durchaus schmiedbar, unabhängig davon, was die Grünen zur Kohle in 20, 30, 40 Jahren sagen oder wir.
    Erfahrung mit AfD im Landtag "sehr gewöhnungsbedürftig"
    Wentzien: Kenia zwischenmenschlich, sagen Sie, Herr Haseloff, funktioniert und Sie sagen auch, dass das ist eine Notkoalition, weil, es ist so, die zweistellige AfD am rechten Rand alle bisher gültigen mathematisch-politischen Koalitionsrechnungen durchkreuzt. Nehmen Sie bitte mal Ihre AfD-Vergangenheitserfahrung und -Gegenwartserfahrung in die Hand und betrachten Sie das, was bei Ihnen im Parlament passiert. Das sind aggressive Töne. Das sind pöbelnde Töne auch. Was empfehlen Sie mit der Erfahrung in den Kleidern dem Bundestag und den Parlamentariern in Berlin im Umgang mit der AfD? Die sind ja noch relativ frisch in dieser Konstellation zugange.
    Haseloff: Das ist richtig. Zumindest müssen wir aber auch zur Kenntnis geben, dass alle Wahlen ab 2015 so liefen, dass die AfD stark, egal, ob im Westen, Osten, Norden oder Süden, reingekommen ist in die Parlamente, auch im Bundestag jetzt ist und damit auch die gesamte Mathematik in der Demokratie durcheinandergebracht hat. Fast alle Regierungsbildungen sind durch die Mathematik der neuen politischen Kraft AfD mitgesteuert worden. Das kann uns als Demokraten nicht – ich sage mal – ruhig sein lassen. Auf der anderen Seite ist es für mich und der Erfahrung in Sachsen-Anhalt heraus keine Partei, die – sagen wir mal – auch als gewachsene Struktur vorhanden ist, obwohl sie durchaus auch in den Regionen inzwischen Verankerungen nachweist. Es ist mehr eine Bewegung, auch intern sehr heterogen, auch von den Menschen, die es dort zusammengebracht hat, sehr, sehr unterschiedlich und nicht gerade, ich sage mal, mit einer gemeinsamen Programmatik unterwegs. Eher mit gemeinsamen Feindbildern und mit gemeinsamen Themen, die man bewusst auch nach vorne bringen möchte. Und da muss ich sagen, waren die letzten zwei Jahre schon gegenüber den früheren Legislaturperioden, die ich erlebt habe, sehr gewöhnungsbedürftig, weil die Rauheit und die auch robuste und teilweise brutale Redeweise schon sehr negativ zu Buche schlägt, bis hin auch zu dem Punkt, dass man immer wieder auch ausgetestet sieht, was man alles für Formulierungen finden kann, um gerade noch rechtlich nicht belangt zu werden, aber wo man, wenn man die Augen zumacht, sich manchmal an die Weimarer Republik erinnert fühlt.
    Wentzien: Die Frage war: Was empfehlen Sie dem Bundestag? Also, gesetzt den Fall, es kommt jetzt Wolfgang Schäuble, Chef im Ring, vorbei und sagt: "Reiner Haseloff, gib mir mal einen Tipp. Müssen wir über alle Stöcke springen? Sollten wir eine Gelassenheit auch im Durchzug von Argumenten an den Tag legen?"
    Haseloff: Also, Herrn Schäuble einen Tipp zu geben, ist sicherlich aufgrund seiner Professionalität nicht notwendig, aber zumindest die Erfahrungen, die ich beibringen könnte, bestehen darin, dass man Erstens sagt: Nicht über jedes Stöckchen springen. Nicht jedes Stichwort muss zu einer Generaldebatte getrieben werden. Und auch, was die Regierungsmitglieder anbelangt, sollte man sich sehr zurückhalten, weil sozusagen das Hervorheben bestimmter Anträge und bestimmter auch Reden, die sie halten, durch einen Gegenpart der Regierung letztendlich zu einer Aufwertung führt, die die ja eigentlich provozieren wollen. Sie sollen ja auch keinen demokratischen Diskurs führen mit einer gemeinsamen Meinungsbildung am Schluss und wollen auch nicht mit den Argumenten, die ausgetauscht sind, anschließend sich möglicherweise auch korrigieren. Sie wollen provozieren, sie wollen den Stachel reinschieben ins Fleisch und auch zum Eitern bringen. Also, das heißt mit negativen Effekten. Man sollte aber auch ernstnehmen, dass sie ja mit der Resonanz, die sie in der Wählerschaft gefunden haben, ja durchaus auf Defizite unserer bisherigen Regierungskonstellation und Regierungsarbeit hinweisen. Das heißt, nur, wo Defizite sind, haben sie ja ein Einstiegstor. Und wir müssen unsere Hausaufgaben machen, damit wir ihnen sozusagen diesen Nektar entziehen, den sie nutzen und politisch instrumentalisieren.
    "Sukzessive politische Mitwirkungsbereitschaft erhöhen"
    Wentzien: Würden Sie sagen, mit dieser Erfahrung – das ist ja auch eine bei Ihnen gewachsene Erfahrung – möglicherweise haben Sie zu Beginn auch anders reagiert und sind mit dieser Formation anders umgegangen als jetzt. Würden Sie sagen, wir haben da noch Nachholbedarf, auch was den Bundestag anbelangt?
    Haseloff: Ja, gut, die ersten Debatten habe ich mir in Teilen auch mal angesehen, aber in Zusammenfassung dann auch zeigen lassen. Es ist erst mal bisher nichts falsch gemacht worden. Man hat rhetorisch sehr gute Leute positioniert. Das ist richtig. Man sollte sich aber auch nicht provozieren lassen und die Emotionen nicht so hochkommen lassen. Dass es natürlich Dinge gibt, die nicht gehen, es gibt No-Go-Areas auch in der politischen Auseinandersetzung, wo wir als Demokraten auch mit der deutschen Geschichte im Rücken schlicht und einfach Kante zeigen müssen. Aber ich muss mich nicht sozusagen so emotionalisieren lassen, dass wir sie wichtiger machen mit ihren Prozenten, die sie haben, also sie sind. Und wir haben eine Chance, durchaus große Wählerschaften wieder zurückzuholen, wenn wir das, was an Enttäuschung da war, warum man uns nicht mehr gewählt hat, obwohl es eine Wählerbindung oftmals über Jahrzehnte gegeben hat, wenn wir das abarbeiten und dazu gehört das Hauptthema Migration, Zuwanderung, Flüchtlinge. Und egal, ob es momentan in einer Schlagzeile oder in den Nachrichten an vorderster Stelle steht oder nicht, wo sie hinkommen, werden sie damit konfrontiert. Nicht mit den derzeit vielleicht akuten Dingen, die sich damit ergeben, sondern die Diskussion muss geführt werden: Welche mittel- und langfristige Perspektive für unsere gesellschaftliche Entwicklung wird durch unser jetziges politisches Handeln präferiert bzw. präjudiziert? Ich meine damit, wer Kinder und Enkelkinder hat – und ich habe Enkelkinder und die werden noch das Ende des Jahrhunderts erleben – Welche Gesellschaft finden sie vor? Und wird nicht das, was wir jetzt machen, wesentlich dazu beitragen, dass die Richtung so herum oder so herum gehen kann? Und die Grundhomogenität und auch die Bedeutung im positiven Sinne eines Nationalstaates darf in einer Europäischen Union trotz aller Globalisierung durchaus wieder mal diskutiert werden und auch infrage gestellt werden, ob wir auf dem richtigen Trip waren.
    Wentzien: Herr Haseloff, lassen Sie uns zum Schluss bitte, auch mit Blick auf Ihre Enkelkinder, die für mich ganz wichtig sind, mit der Abschlussfrage, wenn wir das jetzt im Kontext schaffen, auf den Osten schauen. Und lassen Sie uns darüber reden, dass die Familienministerin von der SPD einen Ostmigrationshintergrund – sagt sie selber – hat, dass im Kabinett aber kein Unionsminister oder Unionsministerin vertreten ist. Warum gelingt allen anderen Landsmannschaften, den Saarländern, den Nordrhein-Westfalen, den Niedersachsen und den weiteren Westdeutschen, was dem Osten nicht gelingt, nämlich so etwas wie eine selbstverständliche Repräsentanz?
    Haseloff: Wir haben Landesverbände in den neuen Ländern, die sind so groß wie Ortsgruppen in Großstädten des Ruhrgebiets oder anderer Regionen Westdeutschlands. Nach der DDR mit diesem Organisations- und Politiktyp und mit dieser Struktur ist die Bindebereitschaft der Menschen in Parteien oder auch in Gewerkschaften – über Kirchen brauchen wir gar nicht erst zu reden – so was von runtergegangen, auch aus Enttäuschung dessen, dass ein Teil der Biografie bis 1989 – ja, mehr oder weniger – auf dem sogenannten Haufen der Geschichte gelandet ist, für viele zumindest gefühlsmäßig. Ich sage: Ganz im Gegenteil, wir können das in die Wiedervereinigung mit einbringen und sollten viel selbstbewusster auch aus den Erfahrungen der friedlichen Revolution, dass wir uns die Demokratie selber hier geben konnten, zehren, während ja Westdeutschland durch die Alliierten demokratisiert wurde. Aber das ist eine Diskussion, die ist sicherlich mehr theoretisch zu führen, eigentlich nur, um Mut zu machen. Wir müssen sukzessive politische Mitwirkungsbereitschaft erhöhen.
    Lebensverhältnisse angleichen nicht nur nach Ost/West
    Wentzien: Genau. Also, Sie sind schon enttäuscht, dass das nicht geklappt hat?
    Haseloff: Ich bin da enttäuscht, das ist richtig. Auf der anderen Seite muss es auch passen im Sinne dessen, was an fachlichen Voraussetzungen da ist. Wir haben ja sozusagen auch Landesregierungen, die nicht ganz einfache Konstellationen haben und auch schwierige Aufgaben zu erfüllen haben. Nach wie vor ist der Transformationsprozess, der Angleichung der Lebensverhältnisse also, voll im Gange. Wir sind wesentlich stärker immer noch belastet als, sagen wir mal, saturiertere Bundesländer, ohne jetzt das kleinzureden, was auch dort an Problemen da ist. Aber wir haben 56 Prozent der Steuereinnahmen im Durchschnitt im Osten gegenüber dem Westen, 50 Prozent Einnahmen der Kommunen. Wir haben Lohnunterschiede. Wir haben Rentenunterschiede. Wir sind rechtlich ein gespaltenes Land, nach wie vor. Das geltende Recht unterteilt in vielen Fällen immer noch bis ins Tarifrecht hinein zwischen Beitrittsgebiet, also Ost und West. Und solange das da ist, brauchen wir auch noch einen Ostbeauftragten. Den haben wir jetzt. Und mit dem müssen wir gemeinsam auch als Ostministerpräsidentenkonferenz für die Angleichung der Lebensverhältnisse sorgen, wohl wissend, dass es auch um die Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land in der gesamten Bundesrepublik oder zwischen strukturschwachen Gebieten in der Oberpfalz oder bei den überschuldeten Kommunen im Ruhrgebiet geht und demzufolge wir richtigerweise im Koalitionsvertrag dieses gesamte Bündel so zusammengefasst haben, dass es nicht in eine Ost-West-Diskussion mündet, sondern in Handlungsbedarfe und in Projekte, um diese Angleichung hinzubekommen.
    Wentzien: Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, hat fünf Enkelkinder.
    Haseloff: Das ist richtig.
    Wentzien: Werden die eines Tages in einem Deutschland leben, wo die Himmelsrichtung und die Postleitzahl nicht mehr wichtig ist?
    Haseloff: Es wird drei- bis viermal 25 Jahre dauern, also das gesamte 21. Jahrhundert dauern, bis das, was an deutscher und europäischer und Weltgeschichte gelaufen ist und was an deutscher Schuld auch im 20. Jahrhundert auf sich geladen wurde, abgearbeitet ist, hoffentlich in einem europäischen friedlichen Kontext, was wir uns gemeinsam alle wünschen.
    Wentzien: Wir sprechen uns wieder auf der Strecke dort hin. Das ist 2050. Herzlichen Dank für das Gespräch.
    Haseloff: Ich danke auch.