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Flüchtlinge auf der Flucht

Hilfsorganisationen bemängeln die katastrophale Situation für Flüchtlinge in Italien, trotzdem möchten Behörden dorthin abschieben. Gerichte entscheiden in immer mehr Eilverfahren, dass dies nicht erlaubt ist.

Von Ina Krauß | 25.02.2012
    Unter dem knarzenden Metallbett in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Mainburg liegt eine kleine Sporttasche. Darin zwei Jeans, drei Shirts und eine Jacke – die ganze Habe von Osman Nuuh Abdi: Der Somalier ist seit 2007 auf der Flucht. Seit drei Jahren irrt er nun schon durch Europa. Zuerst Italien, dann Schweden, jetzt wohnt er im oberbayerischen Mainburg. Am 25. Mai 2011 erreichte ihn eine kurze Nachricht vom Bundesamt für Migration. Der Brief enthält nur einen Satz: Sein Asylantrag werde nunmehr im Dublin-Referat 431 bearbeitet, schreibt mit freundlichen Grüßen Herr S.

    Osman Nuuh: "Hier lesen Sie es, ich kann kein Deutsch, ich kann nur sehen, dass hier Dublin Referat 431 steht. Ich bin ein Dublin-Fall. Das ist wirklich sehr gefährlich für mich. Ich weiß nicht…"

    Fünf Minuten lang bringt Osman Nuuh kein Wort mehr heraus. Der Brief bedeutet, dass der Somalier in Kürze nach Italien abgeschoben werden wird. Dort wurden nach seiner Ankunft auf der Insel Lampedusa die Fingerabdrücke gespeichert, darum ist nach der europäischen Dublin II-Verordnung Italien für seinen Asylantrag zuständig. Dahin aber will er auf keinen Fall zurück.


    "Es war sehr, sehr schlimm. Sie können es sich nicht vorstellen. Kein Wasser, kein Strom, keine Toilette. In einem einzigen Zimmer schliefen hundert Personen. Überall Krankheit, Infektionen, Tuberkulose, Malaria, Ekzeme. Den Leuten geht es sehr schlecht."

    Der 31-jährige Englischlehrer aus Mogadishu suchte sich einen Anwalt in Regensburg und zog vor das dortige Verwaltungsgericht. Das Gericht setzte die Abschiebung vorerst aus. Osman Nuuh sei wegen seiner schwerwiegenden Erkrankung besonders schutzbedürftig. Es ist eine von nunmehr rund 60 Eilentscheidungen gegen die Abschiebung von Flüchtlingen nach Italien. Ist das Land kein sicherer Drittstaat mehr?

    In der Frankfurter Kanzlei von Rechtsanwalt Dominik Bender sitzen drei junge Männer aus Somalia. Von Flüchtlingen wie diesen hat Bender erschütternde Berichte über das italienische Asylsystem gehört. Kurz entschlossen fuhr er zusammen mit der Flüchtlingsberaterin Maria Bethke aus Gießen nach Italien, um sich die Lage vor Ort anzuschauen. Aus der Reise entstand ein viel beachteter Bericht zur Situation von Flüchtlingen in Italien. Viele Gerichtsentscheidungen zitieren den Bericht Bender/Bethke, herausgegeben von Pro Asyl. Dominik Benders Fazit:

    "Mich hat erschrocken, dass die Idee von Flüchtlingsschutz in Italien eigentlich ad absurdum geführt wird und damit auch die Idee des europäischen Flüchtlingsschutzes insgesamt. Man gibt ihnen Aufenthaltsdokumente und erlaubt ihnen das Arbeiten, mehr nicht. Und ich denke, jedem ist klar, dass man nicht aus dem Nichts heraus ein Leben starten kann oder aufbauen kann in einem Land, das man nicht kennt und dessen Sprache man nicht spricht."

    Dadkhuda Ahmadi ist einer derjenigen, die von Bayern aus nach Italien "überstellt" wurden, wie es im Jargon des Bundesamtes für Migration heißt. Wir treffen uns an der Metrostation Circus Massimo in Rom und führen das Interview auf den Kieswegen des antiken Wettkampfplatzes. Denn der 26-jährige Asylbewerber aus Afghanistan hat seit zehn Monaten kein festes Zuhause. Drei Monate war er obdachlos, dann fand er einen Platz in einer Notunterkunft am Rande der italienischen Hauptstadt. Am frühen Morgen muss er die Schlafstätte verlassen und die Zeit bis zum Abend überbrücken. Zwei Stunden fährt er dann in die Innenstadt und geht von Suppenküche zu Suppenküche:

    "Als ich in Rom ankam, fiel mir sofort auf, wie schlecht es den Flüchtlingen hier geht. Ich hätte Asyl beantragt, aber hier traf ich Leute, die zwar eine Aufenthaltserlaubnis drei oder fünf Jahre haben, die aber am Bahnhof schlafen müssen. Hier wollte ich nicht bleiben, ich wollte weiter nach Nordeuropa, nach Deutschland, Holland, Schweden oder Norwegen."

    In Mailand greift ihn die Polizei auf, nimmt seine Fingerabdrücke und fordert ihn auf, binnen weniger Tage das Land zu verlassen. Die Gelegenheit, einen Asylantrag zu stellen, erhält er nicht. Er flieht mit anderen nach Deutschland, aber hier fragt ihn niemand, ob er überhaupt Gelegenheit hatte, in Italien Asyl zu beantragen.


    "Wir waren am Ende. Wir waren total ausgehungert, wir hatten zwei Tage nichts gegessen. Die Polizei nahm mich fest und ich war drei Tage im Gefängnis. Dann brachten sie mich in das Erstaufnahmelager in der Baierbrunner Straße in München. Hier habe ich Asyl beantragt und wurde in der Gemeinschaftsunterkunft in Neuburg an der Donau untergebracht. Nach fünf Monaten erhielt ich einen kurzen Brief. Ich solle beim Bundesamt für Migration vorsprechen. Ich dachte, es ginge um meinen Asylantrag, aber dort wartete die Polizei auf mich und ohne mich anzuhören landete ich in Abschiebehaft. Ich musste ein paar Papiere unterschreiben und wurde nach zwei Tagen nach Italien abgeschoben."

    Wieder bekommt Dadkhuda Ahmadi nicht einmal die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Er soll wieder das Land so schnell wie möglich verlassen, sagt die Polizei. Er geht nach Schweden, wird wieder abgeschoben und lebt die ersten drei Monate in Rom auf der Straße.

    Dadkhuda Ahmadi zeigt mir, wo er in diesen drei Monaten draußen geschlafen hat. Wir fahren mit der Metro zur Station Pyramide. Dort, hinter dem Bahnhof Ostiense nahe der U-Bahn-Station Pyramide campieren auf kleinstem Raum bis zu 150 afghanische Flüchtlinge in heruntergekommenen Zelten.

    Jeden Mittwoch um 3 Uhr nachmittags hält die mobile Klinik von MEDU, der Organisation "Ärzte für Menschenrechte", vor dem Camp. Nach und nach versammeln sich immer mehr junge Männer auf dem Platz. Sie krabbeln aus den Zelten, kommen vom Bahnhof, kehren von Beratungsstellen zurück oder von ihrer täglichen Suche nach Essen oder Arbeit. Die meisten haben es schon in anderen europäischen Ländern versucht und wurden wegen der Fingerabdrücke wieder hierher zurückgeschoben. Aus Belgien, Schweden, Norwegen und aus Deutschland. Ein schmächtiger junger Mann schildert seine Notlage in radebrechendem Englisch. Er ist erst 16 Jahre.

    "Hier gibt es kein Leben für mich. Ich habe zuhause schon als Schneider gearbeitet, aber hier gibt es keine Arbeit für mich. Ich habe keinen Cent, ich denke jeden Tag über mein Leben hier nach, da ging es mir sogar in Afghanistan noch besser."

    Je länger das Ärzteteam von MEDU vor dem illegalen Camp verweilt, desto mehr drängen die Männer um das Wohnmobil. Oft kann die ehrenamtliche Helferin Mariarita Peca nur ihr offenes Ohr bieten, die Flüchtlinge aufmuntern, indem sie sich bei ihnen unterhakt und ihnen das Gefühl vermittelt, dass da jemand ist, der sich um sie kümmert. Im Grunde aber stehen sie und die Ärzte von MEDU mit leeren Händen einer Situation gegenüber, die es so in Europa eigentlich nicht geben dürfte:

    "In den letzten acht Monaten waren etwa 40 Prozent der Leute, die wir hier angetroffen haben, minderjährig. Und das heißt, sie sind 16, manchmal auch elf oder zwölf Jahre alt. Sie sind sehr jung. Und trotzdem bekommen sie in Italien keinen Schutz und nicht einmal ihre grundlegenden Rechte garantiert."

    Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge genießen in Europa eigentlich besonderen Schutz. Sie müssen in Obhut genommen werden und einen Vormund zur Seite gestellt bekommen, der sie während ihres Asylverfahrens begleitet. Aber viele von ihnen lässt man im Stich, bestätigt Jürgen Humburg, der die Lage der Flüchtlinge in Italien für den UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen beobachtet:

    "Unserer Kenntnis nach kann es passieren, dass ein relativ langer Zeitraum vergeht bis ein Vormund bestimmt wird, die materielle Situation - im Prinzip müssten Minderjährige untergebracht werden in adäquaten Strukturen-, auch da würde ich mal in diplomatischen Begriffen so formulieren, es gibt sicher Raum zur Verbesserung."

    Es gebe einfach zu wenige Plätze in den staatlichen Asylunterkünften, sagt Christopher Hein vom italienischen Flüchtlingsrat. Für 30.000 Asylbewerber gab es im Jahr 2011 nur 9000 Plätze in staatlichen Unterkünften. Seitdem immer mehr Dublin-Fälle aus Italien vor deutschen Verwaltungsgerichten landen, wird der Deutsche Christopher Hein mit Anfragen aus ganz Europa bombardiert. Anwälte und Richter wollen wissen, wie schlecht die Situation in Italien wirklich ist. Darauf gibt er keine eindeutige Antwort:

    "Aus Italien werden keine Afghanen zurück nach Afghanistan geschickt, keine Somalier nach Somalia, keine Irakis nach Irak, das ist nicht vorgekommen, das kommt aber vor in Schweden, Deutschland und Großbritannien, das ist die eine Seite. Die andere Seite ist sicherlich die der Aufnahme, der Unterbringung und der Integrationsmöglichkeiten für anerkannte Flüchtlinge. Und da in der Tat haben wir große Bedenken in Italien."

    Das Bundesamt für Migration in Deutschland spricht dennoch von Mindeststandards, die eingehalten würden. Wie kann das sein?

    Zitat: "Das BAMF stützt sich bei dieser Bewertung der Lage in Italien vor allem auf Auskünfte der deutschen Liaisonbeamtin vor Ort, die überwiegende aktuelle Rechtsprechung, Informationen des UNHCR, den Bericht der schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH und der norwegischen Nichtregierungsorganisation Juss-Buss aus Mai 2011. Nach diesen Erkenntnissen liegen für das Bundesamt keine Anhaltspunkte dafür vor, Änderungen an der aktuellen Überstellungspraxis vorzunehmen."

    Der Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe, den das Bundesamt zitiert, kommt allerdings zu einem ganz anderen Schluss.

    Zitat: "Wenn Staaten weiterhin Asylsuchende und Flüchtlinge nach Italien zurückschicken, besteht die Gefahr der Verletzung fundamentaler Menschenrechte, wie sie in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention statuiert sind."

    Artikel 3 besagt, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt werden darf. Wie kann sich also das Bundesamt für Migration auf diesen Bericht berufen? Die zuständige Verbindungsbeamtin in Rom würde darauf achten, dass die Abgeschobenen nach ihrer Ankunft in Italien von der Polizei eine Unterkunft zugewiesen bekommen, genau wie in dem Bericht angeregt, so ein Sprecher der Nürnberger Behörde.

    Dadkhuda Ahmadi hat weder nach seiner Abschiebung aus Deutschland die deutsche Verbindungsbeamtin getroffen, noch fand er nach seiner Abschiebung aus Schweden eine Unterkunft in Rom. Erst nach drei Monaten, einem körperlichen Zusammenbruch und der Diagnose einer behandlungsbedürftigen Depression erhielt er den Schlafplatz in der Unterkunft, in der er gerade wohnt. Seinen Asylantrag konnte er immer noch nicht stellen. Seit zehn Monaten wartet er auf seine Anhörung. Noch vier Monate, dann wird auch Dadkhuda Ahmadi wieder auf der Straße landen – es sei denn, er besetzt ein Haus.

    Im Stadtteil Romanina haben afrikanische Flüchtlinge zur Selbsthilfe gegriffen. Yakub Abdel Nabi ist ein selbstbewusster junger Mann, der sich in einem dicken Parka mit Kapuze gegen die Kälte schützt. Er floh einst vor dem Krieg in Darfur im Sudan. Seinen Frieden hat er aber nicht gefunden:

    "Ich bin Italien dankbar, dass ich aufgenommen worden bin und man mir Asyl gewährt hat, aber dann haben sie nur gesagt: Geh! Und das war´s. Kein Haus, keine Arbeit, kein Leben, nichts. Ich habe drei Monate am Bahnhof Termini geschlafen, wir waren 300, 400 Leute. Dann haben wir mithilfe einer Organisation mit dem Namen "Action" beschlossen, dieses Haus zu besetzen, um hier schlafen zu können."

    In dem ehemaligen Verwaltungsgebäude leben vor allem Afrikaner aus den Ländern der Subsahara: Sudan, Eritrea, Äthiopien und Somalia. Die Flüchtlinge nennen das heruntergekommene Gebäude ihren "Palazzo", den sie um nichts in der Welt hergeben würden. Hier finden sie in ehemaligen Großraumbüros wenigstens einen Pappkarton und eine Decke zum Schlafen, wenn sie Glück haben eine Matratze oder die Luxusvariante: ein von der Caritas gestiftetes Metallbett. Intimsphäre gibt es keine. Manche Bewohner versuchen mit Hilfe von Tüchern, einzelne Bereiche abzutrennen. Die Kochgelegenheiten sind improvisiert. Die Toiletten haben keine Tür, keine Klobrille und befinden sich in einem erbärmlichen Zustand. Für ein Stockwerk mit vielleicht 100 Bewohnern gibt es nur zwei Toiletten. Der Sozialarbeiter Angelo Patriarca kommt öfters hierher, um den Flüchtlingen zu helfen. Heute hat er warme Kleidung dabei, Daunenanoraks aus der Altkleidersammlung. Wie findet er die Umstände in diesem Gebäude, frage ich Angelo Patriarca.

    "Skandalös, unmenschlich," sagt der Sozialarbeiter, der für die Organisation Cittadini del Mondo arbeitet, die sich für die Rechte von Migranten einsetzt. Skandalös deshalb, weil hier auch Kinder geboren werden und aufwachsen:

    "Hier leben ungefähr 30 Kinder, zum Glück sind es nicht mehr. Es gibt einige Familien und auch einige alleinerziehende Frauen. Der zehnte Bezirk gibt keine Sozialhilfe, weil sie nicht hier gemeldet sind. Die Frauen sind praktisch Gespenster für die Behörden. Sie leben hier, aber sie existieren nicht."

    Eine Wohnung können sich die Flüchtlinge nicht leisten, weil sie auch nach vielen Jahren in Italien keine Arbeit finden. Christopher Hein vom Italienischen Flüchtlingsrat sagt, andere europäische Länder sollten vorsichtig sein damit, minderjährige oder traumatisierte Flüchtlinge nach Italien zurückzuschicken. Langfristig kämpft er für eine grundlegende Reform des in seinen Augen unmenschlichen Dublin-Systems. Flüchtlingen sollte man die Freiheit geben, in das europäische Land zu gehen, in das sie ursprünglich wollten. Oft haben sie dort Familienangehörige, die ihnen bei der Integration helfen könnten. Der Frankfurter Rechtsanwalt Dominik Bender plädiert dafür, niemanden nach Italien abzuschieben, solange Italien derart überfordert mit der Situation ist:

    "Wir haben im Dublin-System strukturell bereits seit Jahren und wahrscheinlich noch lange für die Zukunft verankert, dass die Staaten an EU-Außengrenzen hauptsächlich die Verantwortung für Asylverfahren tragen. Und diese Staaten sind, das sieht man mehr und mehr, damit überfordert. Und es sind ja fast immer auch Staaten, die nicht nur mit Asylverfahren und Flüchtlingsrecht überfordert sind, sondern auch wirtschaftlich im Moment überfordert sind oder sich in einer Finanzkrise befinden. Und was mich dann befremdet und als Europäer auch irgendwie traurig macht, ist, dass man im wirtschaftlichen Bereich die Solidarität gerade auf ganz tolle Weise übt und im Bereich des Flüchtlingsrechts, wo es um existenzielle Bedürftigkeiten von schutzsuchenden Menschen geht, da übt man diese Solidarität nicht."

    Der 31-jährige Somalier Osman Nuuh Abdi, hat es vorerst geschafft. Wir sitzen in dicken Jacken an seinem Lieblingsplatz in Mainburg auf einer kleinen Bank. Wir beobachten, wie die Enten auch bei klirrender Kälte in einem kleinen Fluss schwimmen. Für ihn sind sie das Sinnbild eines Lebens weit weg von Krieg und Hunger in seinem Heimatland Somalia. Jetzt, sieben Monate nachdem das Verwaltungsgericht in Regensburg seine Abschiebung ausgesetzt hat, hofft er, dass er in Deutschland als Flüchtling anerkannt wird. Den Tag, als er von seinem Anwalt erfuhr, dass er vorerst nicht nach Italien zurück muss, wird er nicht so schnell vergessen:

    "Das war ein großer Tag für mich. Ich werde ihn mein Leben lang nicht vergessen, denn ich dachte nicht, dass es gut für mich ausgeht. Ich bin sehr dankbar, dass die deutsche Regierung mir geholfen hat. Ich bin sehr froh darüber, ich weiß aber auch, dass andere immer noch dasselbe Problem haben wie ich und von einem Land in das nächste fliehen und nie ankommen werden."