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Flüchtlinge
"Ich habe großen Respekt empfunden"

Nicolas Stemann stellt mit seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" Europas Umgang mit Flüchtlingen in Frage. Dabei lässt er die Betroffenen selbst zu Wort kommen. "Ich wollte, dass diese Produktion ihnen dazu verhilft, weiter sichtbar zu werden und auch selbst ihre Belange zu formulieren", sagt Nicolas Stemann.

Nicolas Stemann im Gespräch mit Natascha Freundel | 16.08.2015
    Regisseur Nicolas Stemann im Gespräch mit Susanne Burkhardt und Frank Meyer beim Theatertreffen 2015.
    Regisseur Nicolas Stemann im Gespräch mit Susanne Burkhardt und Frank Meyer beim Theatertreffen 2015. (Deutschlandradio / Jule Hoffmann)
    Natascha Freundel: Herr Stemann, dass Menschen zu Tausenden daran scheitern, in der Europäischen Union einen sicheren Hafen zu finden, dass sie die Flucht aus ihren Heimatländern zum Teil mit dem Leben bezahlen oder aber sehr oft innerhalb der EU perspektivlos bleiben, also im andauernden Wartezustand, das ist keine Neuigkeit. Flüchtlinge als Thema im Theater, das ist allerdings relativ neu - Ihre Inszenierung "Die Schutzbefohlenen" ist da ein prominentes Beispiel. Was war für Sie der ausschlaggebende Punkt, überhaupt das Thema Flüchtlinge auf die Bühne zu bringen?
    Nicolas Stemann: Ich persönlich beschäftige und interessiere mich für dieses Thema und mit diesem Thema schon relativ lange. Was so interessant oder fast zwingend an diesem Thema ist, ist, dass es keine einfachen Antworten gibt auf die Fragen, die sich da stellen, und dass alle Beschäftigungen damit irgendwann mit der Basis, auf der wir uns bewegen, auf der wir leben, zu tun bekommen und sich irgendwann die Frage stellt, was steht eigentlich im Zentrum von den Werten, nach denen wir uns orientieren. Man kommt sehr schnell darauf, dass es eine Verantwortung gibt für diese Menschen, und zwar auf vielerlei Ebenen. Es gibt eine historische Verantwortung, es gibt eine menschliche Verantwortung, es gibt eine politische Verantwortung. Die kommen ja aus Gründen, die oft auch mit uns zu tun haben, die mit einer Politik zu tun haben, die hier gemacht wird oder bei Partnern von uns gemacht wird. Das hat mit dem Wirtschaftssystem zu tun, in dem wir leben. Und die Frage stellt sich, wollen wir und sind wir bereit, die Konsequenzen davon zu tragen und uns dieser Verantwortung zu stellen. Konkret der Anlass war jetzt das Stück von Elfriede Jelinek, und das wiederum war ja ein Stück, was ich bei ihr in Auftrag gegeben habe. Ich habe sie gefragt ... Das war noch ein Jahr davor, "Kommune der Wahrheit" hieß das, ein Projekt, das ich bei den Wiener Festwochen gemacht habe und dann aber auch im Thalia in Hamburg, was mit Nachrichten zu tun hatte, wo es darum ging, wie verarbeiten wir die Informationen, die uns umgeben. Dann habe ich Jelinek gebeten, ob sie nicht ein paar Seiten dazu schreiben möchte, und nun kann Elfriede Jelinek wirklich sehr, sehr viel, aber nicht ein paar Seiten mal eben so schreiben. Und tatsächlich hat sie in sehr, sehr kurzer Zeit, das waren ein oder zwei Wochen, dieses große Stück geschrieben. Das handelte ja konkret von diesen Flüchtlingsprotesten um die Votivkirche in Wien, die waren gerade geräumt worden aus dieser Kirche, und es war sehr unklar, was mit diesen Menschen passiert. Später sind die meisten davon dann abgeschoben worden in eine sehr, sehr ungewisse Situation. Das war alles Anlass für Jelinek, dieses Stück zu schreiben, und mir war dann klar, dass das den Rahmen dieses Projekts "Kommune der Wahrheit" sprengt und dass ich damit mehr machen muss, dass das wirklich eine eigene Produktion ist und dass das aber auch eine Produktion ist, die ins tagespolitische Geschehen eingreift und sich damit auch konfrontieren muss. Von daher war mir klar, wenn man es macht, braucht man auch eine spezielle Form dafür.
    Nicolas Stemann, Theaterregisseur, geboren 1968 in Hamburg, studierte Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und am Institut für Theater, Musiktheater und Film in Hamburg bei Christof Nel und Jürgen Flimm. 2015 eröffnete er das Berliner Theatertreffen 2015 mit seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" (Thalia Theater) und stellt Europas Umgang mit Flüchtlingen in Frage.
    Natascha Freundel: Und Sie haben tatsächlich, Nicolas Stemann, eine spezielle Form gefunden. Wenn wir erst einmal über diesen Text von Elfriede Jelinek, der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin, sprechen, dann fällt ja auf, dass der antikes Pathos verbindet mit einer Dekonstruktion unserer Alltagssprache oder auch unserer politischen Sprache. Sie verwendet Motive aus Aischylos "Die Schutzflehenden" und einer Broschüre, eine offizielle österreichische Broschüre, über das Zusammenleben in Österreich und vermengt das zu einer großen Klagerede, in der sie ein kollektives Wir sprechen lässt - und das darf die Kunst und soll die Kunst machen, meiner Meinung nach, denen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden. Was Sie aber in Ihrer Inszenierung daraus machen, ist, dass Sie von diesem Wir zum Ich kommen, indem Sie nämlich reale Flüchtlinge, die sogenannten Lampedusa Flüchtlinge, in Hamburg auf die Bühne bringen. Warum haben Sie sich dafür entschieden, warum wollten Sie unbedingt die Betroffenen auch zeigen?
    "Das zentrale Anliegen war: Erst einmal sichtbar werden"
    Flüchtlinge als Laienschauspieler in "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek, inszeniert von Nicolas Stemann, acht schwarze Männer stehen auf einer Bühne und halten ihre jeweils rechte Faust in die Luft.
    Flüchtlinge als Laienschauspieler in "Die Schutzbefohlenen" von Elfriede Jelinek, inszeniert von Nicolas Stemann (dpa/picture alliance/Stephanie Pilick)
    Nicolas Stemann: Was zentral ist bei diesen neueren Flüchtlingsprotesten ist, sichtbar zu werden. Das gibt es ja tatsächlich erst seit ein paar Jahren, dass die Betroffenen selber aufstehen und ihre Rechte einfordern, dass sie aus der Unsichtbarkeit der Flüchtlingsheime in die Stadtzentren gehen, und das war das zentrale Anliegen: Erst einmal sichtbar werden und zu sagen, wir haben ein Problem, wir sind nicht in erster Linie ein Problem. Es wird ja immer so geredet über Flüchtlinge, als wären sie ein Problem, in erster Linie haben sie ein Problem, und dieses Problem ist politisch gemacht. Und jetzt war mir relativ schnell diese Paradoxie bewusst, dass natürlich Elfriede Jelinek in jeder Hinsicht legitimiert ist, diesen Flüchtlingen ihre Stimme zu leihen, aber mir war diese Paradoxie klar, dass wenn ich das jetzt ausschließlich mit Schauspielern inszeniere, ich die Betroffenen natürlich wieder ausblende und sie letztendlich wieder in die Unsichtbarkeit schiebe, also damit wirklich gegen die Intentionen dieser Proteste verstoße in gewisser Weise. Also wollte ich die Betroffenen einblenden. Ich wollte, dass diese Produktion ihnen dazu verhilft, weiter sichtbar zu werden und auch selbst ihre Belange zu formulieren und das auch durchaus mit ihren eigenen Worten machen zu können. Jetzt war praktisch dieses Problem, auf der einen Seite große, hohe Literatur, für die man Experten braucht, also Experten des Theaters, um die überhaupt herstellen zu können, und auf der anderen Seite will ich die Betroffenen sichtbar machen, die natürlich jetzt in erster Linie nicht dieses Stück herstellen können und das auch gar nicht deren Anspruch ist. Dieses Problem fand ich total interessant, weil es viel Stoff bietet, um darüber zu erzählen, was ist eigentlich unser Verhältnis zu Flüchtlingen, was ist unser Verhältnis zu Fremden, wie viel Abwehr gibt es da und letztendlich, wie viel Bereicherung auch, wenn man diese ganzen Bedenken mal beiseitelässt.
    Natascha Freundel: Das ist auch das, was mir so besonders gefallen hat an der Inszenierung, dass man nicht mit in erster Linie der Opfergeschichte konfrontiert wird, sondern dass sehr stark die Auseinandersetzung des Theaters mit diesem sehr politischen Thema sichtbar wird und die ganze Problematik dieser Auseinandersetzung. Also wenn zum Beispiel drei deutsche, weiße Schauspieler diesen Jelinek-Text sprechen, gewissermaßen proben, einstudieren, und dann taucht ein schwarzer Mensch auf der Bühne auf, und die stürzen sich auf ihn und sprechen plötzlich Englisch mit ihm und sagen, hey, we are looking for the real refugee with the real refugee story, und der neue Protagonist auf der Bühne sagt, Leute, wartet mal, ich bin Schauspieler, komme aus Hamburg. Das hat mir sehr gut gefallen, die verschiedenen Brüche, die aber sehr klar eingesetzt sind, sodass man, wenn dann die realen Flüchtlinge in den Vordergrund rücken, sehr auch emotional gepackt ist.
    Nicolas Stemann: Das war auch ein Anspruch natürlich. Wobei es bei dem Ganzen ja jetzt nicht so sehr darum ging, Probleme des Theaters abzubilden. Teilweise bei der Rezeption bleibt es dabei, dass man irgendwie denkt, ja, die reden über theaterintrinsische Probleme, das steht ja gar nicht so sehr im Zentrum. Also für mich ist das ja eine Metapher für die gesamte Gesellschaft. Man ist ja immer schnell dabei mit einer grundsätzlichen Betroffenheit und einer Gratishaltung von Solidarität, die dann eigentlich nichts heißt und die auch nicht wirklich Konsequenzen haben muss. Und den Weg in solche einfachen Haltungen wollte ich verbauen mit dieser Inszenierung, und das ist, glaube ich, auch gelungen. Ich glaube, die bleibt unbequem, die soll natürlich emotional packend sein, aber ich glaube, nur bei dem reinen Fühlen kann man es nach dieser Inszenierung als Zuschauer auch nicht wirklich belassen. Man ist da schon aufgefordert, auf eine andere Art Farbe zu bekennen und vielleicht auch ins Handeln zu kommen.
    Natascha Freundel: Dennoch ist ein prägender Satz, der stark in Erinnerung bleibt, am Schluss der Satz: Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch ja spielen. Man hat eben vor sich Sebastian Rudolph, den Schauspieler, der Jelinek vorträgt, und einen schwarzafrikanischen Asylbewerber, der um ein Bett für die Nacht bittet. Und diese Konfrontation, diese Kollision zwischen Realität und Theater konnten Sie nur so zeigen durch die Präsenz dieses Asylbewerbers auf der Bühne.
    "Das war eine ganz, ganz tolle Erfahrung"
    Nicolas Stemann: Genau, ja. Das ist natürlich auch eine Situation, die es so nie gegeben hat, das sind ja letztendlich alles Angstvorstellungen. Als wir überlegt haben oder uns entschieden haben, wir brauchen die echten Flüchtlinge, wir wollen wirklich Leute, die übrigens dann auch keine Papiere haben und keine Arbeitsgenehmigung und so weiter, da kriegten ganz viele, also gerade auch in der Institution, sofort große Sorgen - wo hört denn das dann auf. Wir lassen die jetzt hier spielen, wie geht denn das dann weiter, müssten wir die nicht sofort bei uns wohnen lassen, wollen die das nicht sofort, fressen die uns nicht sofort die Haare vom Kopf mit anderen Worten. Zu so einer Situation ist es nie gekommen. Es ist tatsächlich erst mal ein großes Angstgespinst, was man sich da macht, und solche Ängste führen dann ja oft dazu, dass man gar nichts macht. Wenn man von vornherein sich immer diese ganz, ganz, ganz großen Fragen stellt, dann lässt man es. Und so macht man mal Schritt für Schritt Schritte aufeinander zu und kriegt mit, dass das im Einzelnen alles überhaupt nicht kompliziert ist. Das war eine ganz, ganz tolle Erfahrung. Klar, dieser Satz, wir können euch nicht helfen, wir müssen euch ja spielen, stellt die Frage, ist das denn genug, was wir machen, und stellt die aber auch stellvertretend für die Zuschauer - also wir können euch nicht helfen, wir müssen ja dieses Stück gucken über euch, ist ja das, was der Zuschauer in dem Moment erlebt. Und dadurch, dass wir uns selber dem so aussetzen und dieser Frage so aussetzen und sagen, im Grunde ist es schön und gut, dass wir dieses Stück machen, ist toll, dass Jelinek das geschrieben hat, ist toll, dass wir damit irgendwie das Thema ins Gespräch bringen, aber reicht denn das.
    Natascha Freundel: Thomas Assheuer hat vor etwa einem Jahr in der "Zeit" geschrieben: Solange die Gesellschaft versagt, muss die Kunst politisch sein. Würden Sie dem zustimmen, Nicolas Stemann?
    Nicolas Stemann: Gerade dieses Refugee-Thema zeigt das schon sehr, also dass es da ein Vakuum gibt, was Lösungen angeht, der Politik, weil es kein Interesse gibt da dran. Jetzt gerade kriegt man ja mit, jetzt wird irgendwie angeblich doch über ein Einwanderungsgesetz diskutiert, selbst in Regierungskreisen, aber mit wie viel Jahren Verspätung überhaupt und in welche Richtung wird das gehen, also da bin ich noch sehr, sehr skeptisch, das orientiert sich wahrscheinlich ausschließlich an den Interessen der Wirtschaft und wird man Menschen dann irgendwie nach ihrem Wert kategorisieren. Aber viel von dem, was wahrscheinlich dann in Zukunft auch die Politik machen wird, wird im Moment von Gruppen geleistet, die nicht in der parlamentarischen Politik tätig sind, was Unterstützung von Flüchtlingen angeht, was das angeht, dass man dafür sorgt, dass es Netzwerke gibt, wo die schlafen können, wo sie essen können und so weiter. Da machen jetzt seit einiger Zeit auch die Theater mit, entdecken das Thema auch für sich, auch übrigens mit ein paar Jahren Verspätung, muss man sagen, aber immerhin. Da gibt es, glaube ich, andere Bereiche - weiß nicht, Film oder Fernsehen oder so was macht da noch gar nichts Vergleichbares, bildende Kunst, gut, da gibt's einiges. Für mein Theater, glaube ich, schon, dass es eine politische Wirkung gibt, aber das ist vermittelt. Also ich glaube, man kann auf verschiedenen Ebenen wirksam sein. In erster Linie geht es mir darum, Räume zu öffnen im Denken und im Fühlen, die was Utopisches überhaupt erst möglich machen. Das wäre schon eine ganze Menge. Und das läuft gar nicht immer unbedingt darüber, dass man jetzt politische Themen, so tagespolitische Themen verhandelt oder mit ganz klaren Messages und Botschaften rüberkommt oder Parolen. Ich glaube, dass man Erlebnisse schaffen kann, und dass diese Erlebnisse den Menschen ermöglichen, tatsächlich darüber nachzudenken, ist die Welt, in der wir leben, eigentlich die einzig denkbare und die einzig mögliche, ist sie überhaupt richtig, oder müssten wir nicht tatsächlich daran arbeiten, dass sie eine andere wird. Und das ist im Grunde ganz klassisch der Brecht'sche Ansatz des epischen Theaters, und ich glaube, dass ich mich schon in der Tradition sehe davon.
    Natascha Freundel: Und was halten Sie von anderen, eher so brachialästhetischen Aktionen wie die des Zentrums für politische Schönheit, die dann aus diesen klassischen Kunsträumen rausgehen in die Öffentlichkeit und zum Beispiel Mauerkreuze, also Kreuze, die an die Mauertoten erinnern, an die EU-Außengrenzen bringen oder die Leichen ertrunkener Flüchtlinge aus Südeuropa nach Berlin bringen und die dann in der Nähe des Kanzleramtes feierlich beerdigen?
    Imam Abdallah Hajjir (r) betet am 16.06.2015 auf dem muslimischen Teil des Friedhofs Berlin-Gatow am Grab einer im Mittelmeer ertrunkenen Syrerin. Die Beerdigung ist eine Aktion des "Zentrum für Politische Schönheit" die damit gegen die EU-Flüchtlingspolitik protestiert.
    Rund 200 Personen nahmen an der muslimischen Bestattung teil. (picture alliance / dpa / Gregor Fischer)
    Nicolas Stemann: Ich finde die sehr gut, diese Aktionen. Erst mal haben sie eine große, breite Wirkung und schaffen tatsächlich Bilder, die sehr frappierend sind, was das Thema angeht. Es gibt da so einen Aspekt, wo ich mir nicht ganz sicher bin, weil ich glaube, dass so etwas wie eine Selbstreflexion beim Zentrum für politische Schönheit überhaupt nicht stattfindet und auch nicht vorgesehen ist. Es geht schon um sehr plakative Bilder und es geht letztendlich natürlich um Aktionismus. Deswegen finde ich es auch immer nicht ganz zulässig, das jetzt zum Beispiel mit einer Theaterform, für die ich stehe oder so, zu vergleichen oder es auch gegeneinander auszuspielen - das eine macht, glaube ich, das andere nicht überflüssig. Was wir da am Schluss machen bei Schutzbefohlenen, dass es wirklich zu einer Selbstbefragung wird und damit die Leute auch in eine Selbstbefragung zwingt, findet beim Zentrum für politische Schönheit nicht statt, könnte aber genauso stattfinden. Die könnten genauso sagen, wir können euch nicht helfen, wir müssen ja Mauerkreuze abschrauben beziehungsweise die nächste Aktion organisieren. Das ist, glaube ich, eine Schwachstelle, aber wahrscheinlich eine Voraussetzung dafür, dass diese Aktionen so groß und so stark und so wirksam letztendlich sein können.
    Natascha Freundel: Also gerade Stichwort Selbstkritik: Da gibt es wiederum gegenüber diesem sogenannten Artivismus, also dieser Wortschöpfung aus Art und Aktivismus, auch sehr starke kritische Stimmen, im deutschen Feuilleton beispielsweise, in derselben "Zeit" schrieb kürzlich Hanno Rauterberg, dass es eben diesem Aktivismus an Selbstkritik mangele, beziehungsweise er schreibt: "Der Künstler überzeugt mit seiner Kunst nur die ohnehin Überzeugten." Und ich habe mich in Ihrer Inszenierung im Thalia-Theater, Nicolas Stemann, auch gefragt, wer sitzt denn hier mit mir, das sind ja sicher nicht die, die in Hamburg-Pöseldorf erfolgreich gegen die Einrichtung eines Asylbewerberheims geklagt haben.
    "Inszenierung lässt die Leute nicht so leicht raus"
    Nicolas Stemann: Na ja, es ist schon, das Thalia-Publikum ist schon ein sehr bürgerliches immer noch, und es sind sicher die liberaleren Seiten dieses Bürgertums. Ich glaube schon, dass man mit dieser Inszenierung an diesem Ort Leute erreicht, die sich normalerweise nicht mit diesem Thema beschäftigt hätten. Uns fällt das ja immer auf bei den Tischgesprächen. Es finden nach jeder Vorstellung dieser Inszenierung Tischgespräche statt - mit verschiedenen Experten, aber auch mit Flüchtlingen, die in der Inszenierung mitgemacht haben, mit Leuten von uns, teilweise bin ich dabei -, und da merkt man einen unglaublich großen Redebedarf der Zuschauer, einen großen Informationsbedarf, aber auch einen großen Bedarf danach, dass man ihnen sagt, ja, was können wir denn jetzt tun. Ich glaube, das ist ein Verdienst dieser Inszenierung, die lässt die Leute nicht so leicht raus. Man kann da nicht so leicht nach Hause gehen und sagen, wir haben einen schönen Kunstabend erlebt oder einen netten Theaterabend oder einen schönen Text von einer Nobelpreisträgerin, sondern das fordert schon, dass man sich auf irgendeine Art verhält. Und diese Tischgespräche sind auch nicht wirklich immer unkontrovers, da sitzen dann teilweise schon Leute, die mit eher, weiß nicht, rechtspopulistischen Argumenten kommen. Das sind oft zum Beispiel die Ehemänner der Frauen, die vielleicht geneigter sind, sich mit dem Thema oder mit so einer Form von Theater auseinanderzusetzen, ihre Männer dann mitschleifen, und das sind aber, weiß ich nicht, Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten und die dann teilweise sehr ignorant argumentieren, und das sind dadurch ganz fruchtbare Gespräche. Also ich hab nicht den Eindruck, dass wir damit Eulen nach Athen tragen.
    Natascha Freundel: Allerdings muss ich sagen zu diesen Tischgesprächen, ich bin dann auch in den zweiten Stock gegangen, um mir das anzusehen, was erwartet mich dort überhaupt, dachte, das ist vielleicht auch so eine größere Gesprächsrunde, in der man auch erst mal zuhören kann. Aber sich mit an den Tisch zu setzen und direkt das Gespräch zu suchen - ich hatte da Hemmungen.
    Nicolas Stemann: Aber es gibt natürlich auch die Möglichkeit, sich an einen Tisch zu setzen und erst mal auch nur zuzuhören. Es sind ja wirklich Experten, die da reden und die da von ihren Erfahrungen berichten, und die Ausgangssituation davon ist nicht, jetzt sagen Sie doch mal, wie es Ihnen so ergangen ... , sondern da ist schon, man kann bestimmte Referate hören, die Leute, die da an den Tischen sitzen, haben ja was zu erzählen. Und dann wird das irgendwann geöffnet, dann kann man Fragen stellen, und in dieses Gespräch kommt man sehr viel schneller, habe ich den Eindruck, wenn man mit zehn Leuten an einem Tisch sitzt, als wenn man mit 150 in so einer großen Plenumsrunde bei einem normalen Zuschauergespräch sitzt.
    Natascha Freundel: Nicolas Stemann, es gab ja bei der Inszenierung und bei den einzelnen Vorführungen von "Die Schutzbefohlenen" nicht nur ästhetische Probleme, sondern auch ganz handfeste, praktische Probleme: Die Asylbewerber dürfen nicht reisen und sie dürfen nicht arbeiten - wie haben Sie diese Probleme gelöst?
    "Die dürfen mittlerweile in Ausnahmefällen arbeiten"
    Nicolas Stemann: Na ja, ich hab das Stück im Grunde dreimal neu inszeniert. Die Premiere war in Mannheim beim Theater-der-Welt-Festival. Die Flüchtlinge, die wir da hatten, waren aus umliegenden Flüchtlingsheimen mit sehr, sehr schwebenden Verfahren, und einige Wochen später hatten wir in Amsterdam auf dem Holland-Festival das nächste Gastspiel - es war klar, dass wir die nicht mitnehmen konnten. Von daher musste ich in Amsterdam mit einer neuen Gruppe arbeiten, es waren Flüchtlinge von der Gruppe "We are here" – "Wij zijn hier" heißt das auf Holländisch. Die sind wirklich in einer sehr prekären Situation, die absurd ist, weil die meisten von denen kommen aus Ländern wie zum Beispiel Eritrea, bestimmte Gebiete von Somalia, die Herkunft aus diesen Ländern ist eigentlich ein Grund dafür, Bleiberecht zu kriegen. Die können das aber nicht nachweisen, weil sie keine Papiere haben. Weil wenn man aus diesen Gegenden kommt und es geschafft hat, da rauszukommen, hat man diese Papiere nicht und findet auch zu Hause keine Menschen, die das bezeugen, dass man da rausgekommen ist, weil diese Menschen halt viel zu viele Probleme kriegen würden. Das heißt, die können das nicht nachweisen und werden deswegen abgelehnt, dürfen aber in diese Länder nicht zurückgeschickt werden, weil man dahin nicht abschieben darf. Also das heißt, der Grund für ein Bleiberecht ist der Grund dafür, dass ihnen dieses Bleiberecht verwehrt wird, und ist der Grund, warum sie nicht abgeschoben werden dürfen. Die sind dann obdachlos auf den Straßen, haben sich aus dieser Situation heraus organisiert und haben mir sehr imponiert. Ich habe dann mit denen auch noch weitergearbeitet, können wir vielleicht später noch mal was zu erzählen. Das war in Amsterdam, die konnte ich dann wiederum nicht mit nach Hamburg nehmen, und in Hamburg haben wir dann mit den Leuten gearbeitet, mit denen das Projekt im Grunde angefangen hat, die damals in der St.-Pauli-Kirche waren, Menschen von der Gruppe Lampedusa in Hamburg, die auch zum Zeitpunkt der Premiere keine Arbeitsgenehmigung hatten, die aber jetzt mit nach Berlin reisen durften, weil sie mittlerweile im Duldungsverfahren sind und sich da ja ein bisschen was verkürzt hat, was die Zeiten angeht. Die dürfen mittlerweile in Ausnahmefällen arbeiten, das hier ist ein Ausnahmefall - ja, man muss sich da immer irgendwas überlegen, und mittlerweile bin ich Experte dafür, wie man auf einem nicht ganz legalen Wege, der aber nicht automatisch illegal ist, es schaffen kann, Menschen für ihre Arbeit zu entlohnen, die sie ja geleistet haben und die für dieses Projekt so wahnsinnig wichtig war.
    Natascha Freundel: Sie haben es angesprochen, Sie haben in Amsterdam mit einer Gruppe von Asylbewerbern aus Afrika und Asien zusammengearbeitet, die selber aktiv geworden sind, die sich selber zusammengeschlossen haben als Theaterkollektiv, dann ein eigenes Stück geschrieben haben, das "Labyrinth" heißt, und Sie geholt haben als gewissermaßen assistierenden Regisseur.
    Nicolas Stemann: Genau.
    Natascha Freundel: Erzählen Sie uns, was da zu sehen war in diesem "Labyrinth".
    Nicolas Stemann: Ich mag die sehr gerne, die Arbeit, weil das tatsächlich eine Initiative von denen war - ausgelöst ein bisschen durch die Teilnahme an "Schutzbefohlenen", an dieser Vorstellung in Amsterdam. Ich hab danach dann noch einen Workshop gegeben, wo ich auch mit den Flüchtlingen zusammengearbeitet habe, und da kam der Wunsch auf vonseiten der Flüchtlinge, sie würden gerne das Prozedere, das Aufnahmeprozedere re-enacten, also sie würden gerne diese ganzen Interviews, die sie führen müssen - mit Leuten von der Ausländerbehörde, mit Leuten von der Abschiebungsbehörde, mit Anwälten, mit Richtern - in irgendeiner Form auf die Bühne bringen und würden dabei gerne die Seiten tauschen, das heißt, sie würden gerne, dass die Zuschauer in ihrer Situation sind und sie selber in der Situation der Offiziellen, die über diese Anträge entscheiden. Das fand ich eine unglaublich gute Idee. Wir haben das im Rahmen dieses Workshops dann in Form von so einer Improvisation mal ausprobiert, und man war als Zuschauer dann immer in der Situation, dass man mit drei bis vier Afrikanern an einem Tisch saß, die alle weder Englisch noch Holländisch gesprochen haben, oder wenn, dann nur sehr schlecht und in unterschiedlichen afrikanischen Sprachen geredet haben, dann als Erstes erst mal den Pass weggenommen haben oder den Personalausweis und gesagt haben, der ist nicht gültig und man solle doch jetzt bitte beweisen, wo man herkommt. Das war eine gruselige Situation für die Zuschauer, aber natürlich nur halb so gruselig wie das, was die Flüchtlinge die ganze Zeit erleben. Die sind teilweise über Jahre in diesem Prozedere. Dann bin ich nach Hause gefahren, und die haben selber praktisch aus diesen Erfahrungen ein Stück geschrieben, haben einen Text geschrieben, diese Interviews geschrieben - das Ganze trägt den Titel „Labyrinth" und ist das Labyrinth des Behördendschungels, durch das sie die ganze Zeit durchgeschleust werden. Wir haben dann auch so ein Labyrinth aufgebaut aus Tüchern, mit denen wir dann den Theaterraum - das fand im Frascati-Theater statt, ein schönes Theater in der Innenstadt von Amsterdam - den Theaterraum abgeteilt haben und daraus so eine Art Labyrinth, also im Grunde, wie man früher in der Schule Geisterbahn gebaut hat oder so. Man ging so von Station zu Station, und daran haben wir dran gearbeitet und haben, weiß nicht, glaube ich, zehn, zwölf Vorstellungen gespielt, und das war für alle eine unglaublich tolle Erfahrung. Ich selber war auch künstlerisch hochzufrieden mit dem Ergebnis und dachte, das kann man durchaus auch mal hier zeigen. Das wurde dann eingeladen zu den Autorentheatertagen ans DT, dann haben wir uns alle sehr gefreut, aber im nächsten Moment wich die Freude dann der Ernüchterung, weil klar war, dass die nicht reisen dürfen. Ich wollte mich damit aber nicht zufriedengeben, weil ich dachte, wir können das doch in dem Zustand zeigen, in dem es das europäische Flüchtlingsrecht es erlaubt, nämlich ohne Darsteller, ohne Schauspieler. Die Form dieser Inszenierung eignete sich auch dafür - es war wie gesagt so ein Stationendrama und in den einzelnen Räumen hat man bestimmte Sachen erlebt. Es gab sehr viel Filmmaterial, das war wirklich sehr gut dokumentiert, was auch mit dieser Gruppe zusammenhängt - wie gesagt, sichtbar werden ist ein wichtiges Ziel, das heißt, alles, was die machen, wird sofort dokumentiert, wird sofort ins Internet gestellt. Dann habe ich vorgeschlagen, lasst uns das doch so zeigen, als Installation, also dass man praktisch das Filmmaterial und Fotomaterial, was wir haben, in diesen einzelnen Räumen zeigt mithilfe von Videoprojektion und die Zuschauer dann so einen Eindruck davon kriegen, wie das war. Dann haben wir noch nachgedreht und daraus eigentlich im Grunde genommen ein ganz neues Projekt gemacht, was damit zu tun hat, mit dieser Abwesenheit. Und dadurch war das auch sehr, sehr stark hier in Berlin.
    Natascha Freundel: Das klingt jetzt alles, was die eigentliche Arbeit mit den Flüchtlingen im Theater betrifft, sehr harmonisch. Gab es nicht auch Momente, wo Sie das Gefühl hatten, jetzt komme ich hier nicht weiter oder es gibt solche starken kulturellen Unterschiede, dass wir uns einfach nicht verständigen können oder dass müssen wir jetzt als Problem stehen lassen?
    Nicolas Stemann: Ehrlich gesagt, nicht, auf jeden Fall nicht aus den Gründen. Es gibt ja immer Punkte, wo man den Eindruck hat, man kommt nicht weiter in der Arbeit. Das habe ich auch, wenn ich mit Schauspielern arbeite, das gehört dazu. Das gab es in Amsterdam natürlich auch, dass man sich gefragt hat, reicht das, was wir hier machen, aber in der Arbeit mit den Flüchtlingen war das durchgehend positiv. Klar, in den ersten Tagen, da muss man sich aber drauf einstellen, das kann man aber auch, weil an den ersten Tagen war ich halt immer drei Stunden zu früh. Da bin ich auf die Probe gekommen zum verabredeten Zeitpunkt, und dann kamen die irgendwann und so, dann konnte man irgendwann nach drei Stunden mal anfangen, und dann mussten die Ersten auch wieder gehen. Aber das hängt auch mit dem Leben von denen zusammen - die haben keinen festen Wohnsitz, die haben ständig irgendwelche Behördentermine, die haben ständig irgendwelche Termine mit Unterstützern oder müssen irgendwo protestieren. Das war auch eine Realität dieser Menschen, mit der ich in der Arbeit ganz gut umgehen konnte.
    Natascha Freundel: Hat Sie diese Zusammenarbeit, hat Sie dieser Kontakt zu den Flüchtlingen eigentlich so beeindruckt, dass es Sie verändert hat, dass Sie was mitnehmen für, ja, für den Rest Ihres Lebens?
    Nicolas Stemann: Ich glaube, auf jeden Fall, ich glaube schon. Während der Probenzeit habe ich schon gemerkt, dass mir natürlich diese einzelnen Schicksale sehr nahegehen. Also das war vielleicht, wenn Sie fragen, wo waren die Probleme, das waren wahrscheinlich die größten Probleme. Ich hab sehr schlecht geschlafen und hab natürlich mitgekriegt, dass unter der Oberfläche dieser großen Offenheit, Freundlichkeit, Kooperativität dieser Menschen natürlich ganz, ganz schreckliche Erfahrungen, Traumata, Schicksale liegen, mit denen man erst nach und nach in Kontakt kommt. Ich bin auch jetzt nicht immer sofort auf die zugegangen und hab gesagt, erzählt mir eure Geschichten, erzählt das Schlimmste, was ihr erlebt habt und so, da war ich sehr vorsichtig, und irgendwann erzählen die dann, und irgendwann kriegt man mit, ach, der kommt daher, der war wahrscheinlich Kindsoldat und so weiter. Und gerade der Kampf, den die kämpfen - und da geht's ja wirklich ums Überleben -, den führen die mit einer solchen Würde, dass ich großen Respekt empfunden habe. Und da fragt man sich natürlich, an welchen Problemen geht man selber eigentlich zugrunde, wie wenig genügt, dass ich selber schlechte Laune kriege oder dass ich selbst irgendwie meinen ganzen Lebensentwurf infrage stelle.
    Natascha Freundel: Politiker des konservativen Lagers hierzulande oder auch in anderen Ländern der Europäischen Union malen ja gern den Teufel an die Wand, wenn es um die Frage geht, dass immer mehr Menschen aus umkämpften Regionen zu uns wollen und hier Schutz suchen. Glauben Sie denn, Nicolas Stemann, dass Deutschland über kurz oder lang ein normales, was immer das heißt, Einwanderungsland werden kann, also ein Land, in dem der sogenannte Migrationshintergrund eine Selbstverständlichkeit ist?
    In der Debatte ist viel "Verkrampfung zu spüren"
    Nicolas Stemann: Das kann man nur hoffen. Im Moment ist natürlich schon ziemlich viel Verkrampfung zu spüren, gerade auch in der Debatte, in der Art, wie die Debatten geführt werden. Diese Ängste werden ja auch geschürt. Und diese Ängste haben natürlich auch einen anderen Hintergrund - dass eine Politik gemacht wird, die den Menschen aus ganz anderen Gründen Angst macht. Die Menschen haben Angst vor Abstieg, die Menschen haben Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, die Menschen haben Angst, ihr Geld zu verlieren, und so weiter. Und das wird dann - kennt man ja auch, wenn man in die Geschichte guckt -, das wird dann auf den nächst schwächeren oder denjenigen, der ganz unten an der Leiter steht, projiziert. Wenn man sich im Moment anguckt, was in Europa passiert, kriegt man mit, dass Europa wirklich sehr, sehr andere Probleme hat als Flüchtlinge beziehungsweise sehr viele Probleme hat, die überhaupt nichts mit Flüchtlingen zu tun haben, die aber dazu führen könnten, dass Europa auseinanderbricht. Das halte ich für viel bedrohlicher. Und wenn man eigentlich sich seiner selbst sicher wäre und wenn man entspannt wäre in der Art, wie man normal lebt, dann würde man doch mit den paar Leuten, die kommen und Hilfe brauchen, auch klarkommen.
    Natascha Freundel: Sie werden ab der kommenden Spielzeit häufiger in München anzutreffen sein, nämlich als Hausregisseur der Münchner Kammerspiele unter dem neuen Intendanten Matthias Lilienthal, eine sehr aufregende Zeit steht vor Ihnen, und Sie eröffnen die Spielzeit am 9. Oktober mit dem "Kaufmann von Venedig" von Shakespeare. Werden Sie dort eigentlich einen "Kaufmann von Venedig" zeigen, der gewissermaßen, auch wenn das vielleicht absurd klingt, aber doch vorstellbar ist, der gewissermaßen eine Fortsetzung ist von "Die Schutzbefohlenen"?
    Nicolas Stemann: Ja, gut, in dem Sinne, glaube ich, wie meine Arbeiten immer auf irgendeine Art zusammenhängen und natürlich die Erfahrung der vorangegangenen Arbeiten reinspielt in die nächste. Ich glaube trotzdem, dass es sehr, sehr anders wird. Es ist ein großer, klassischer Text, ein ganz tolles Stück. Natürlich gibt es thematisch Überschneidungen - es geht einerseits um Geld, um Schulden, und andererseits um Diskriminierung und Ausgrenzung. Diese beiden Themen sind in einem großen Spannungsverhältnis in diesem Stück, weil natürlich derjenige, der, der die Schulden nimmt, der Jude ist, der dann auch ziemlich klischiert erst mal gezeichnet ist. Mit diesen Themen hat es zu tun und es werden auch diese tagespolitischen Fragen da sicher auf irgendeine Art in die Inszenierung reinspielen, aber im Zentrum steht hier die Umsetzung des klassischen Textes. Und von daher ist es, glaube ich, erst mal wieder ein Schritt raus aus der Tagespolitik. Ich finde das aber auch gar nicht nur verkehrt, für mich jetzt, also in dem Sinne ist es, glaube ich, eine Folge von diesen Erfahrungen. Ich denke ja zum Beispiel, dass ich mit den Menschen aus Amsterdam weiterarbeite und dass ich auf so einer Ebene jetzt mit Flüchtlingen, mit Betroffenen sicher weiterarbeiten will, gerade, weil es auch so toll war. Ich sehe aber eine Gefahr dabei, wenn jetzt die Kunst in die Pflicht genommen wird, Aufgaben zu lösen, die die Politik gerade nicht gelöst kriegt. Ich glaube, damit Kunst politisch sein kann und politisch wirksam sein kann, braucht sie auf einer ästhetischen Ebene eine gewisse Autonomie. Ich glaube, was die Sprache angeht, was die Ästhetik angeht, darf man nicht nur sich gemeinmachen mit der aktuellen Tagespolitik, weil man dann eine ganz wichtige Kraft verliert, die Theater und Kunst hat. Und diese Kraft brauchen wir, um dann wieder politisch wirksam werden zu können.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (Teil 4 der Serie hören sie am 23.8.15)