Freitag, 19. April 2024

Archiv

Flüchtlinge in der EU
"Eine Schande und ein Skandal"

Der frühere österreichische Europa-Parlamentarier Hannes Swoboda hat angesichts der hohen Flüchtlingszahlen mehr europäische Solidarität gefordert. Es sei eine Schande und ein Skandal, dass zu wenig gemeinsam gehandelt werde, sagte Swoboda im Deutschlandfunk. Es könne nicht sein, dass viele Länder von der EU profitierten, aber in der Flüchtlingsfrage nicht zur Solidarität bereit seien.

Hannes Swoboda im Gespräch mit Dirk Müller | 19.08.2015
    Der österreichische Politiker Hannes Swoboda
    Der österreichische Politiker Hannes Swoboda war bis 2014 Abgeordneter der SPÖ im Europaparlament. (Imago/ Hendrik Rauch)
    Hier müsse Deutschland mehr unternehmen. Die Bundesregierung müsse nicht nur beim Thema Griechenland, sondern auch in der Flüchtlingsfrage eine Führungsrolle übernehmen.
    Der SPÖ-Politiker schlug einen finanziellen Ausgleich innerhalb der EU vor. Es müsse "eine Umverteilung im europäischen Budget" geben. Die ärmeren Länder in Europa brauchten mehr Unterstützung. Diese Länder müssten dann aber auch bereit sein mitzuhelfen.
    Das vollständige Interview können Sie hier nachlesen.
    Dirk Müller: Von Solidarität keine Spur, von kollegialer Zusammenarbeit keine Spur, vom viel beschworenen europäischen Geist keine Spur. Die Europäische Union und die Flüchtlinge im Sommer 2015 - Hunderttausende suchen Zuflucht, suchen eine bleibe, suchen Menschlichkeit auf dem alten Kontinent. Sie kommen aus Afrika oder auch aus dem Nahen Osten. Es sind mehr Menschen auf der Flucht denn je. Ganz Europa ist betroffen, vom Süden über den Balkan, über Mittel- und Osteuropa bis hin auch in den hohen Norden.
    Doch wenn es darum geht, innerhalb der Europäischen Union die Flüchtlinge gerechter zu verteilen, sehen viele Mitgliedsländer einfach weg, verweigern zu helfen, verweigern aufzunehmen. Der deutsche Innenminister wird heute mit großer Wahrscheinlichkeit bekannt geben, dass noch viel mehr Flüchtlinge und Asylbewerber nach Deutschland kommen, als in diesem Sommer erwartet. Nicht 450.000 werden es sein; Thomas de Maizière geht offenbar von bis zu 750.000, 800.000 Flüchtlingen aus. Die Schweden nehmen auch mehr als 100.000 Flüchtlinge auf. Aber was ist mit all den anderen?
    Die Flüchtlingsdebatte geht also weiter, auf der nationalen wie auf der internationalen Ebene, auf der europäischen Ebene. Das ist das, was uns jetzt besonders interessieren soll. Viele Länder in Europa, wir haben das gehört, schauen weg, weigern sich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl immer mehr Flüchtlinge kommen. Und ein Quotensystem, das was die Europäische Kommission wollte, wird weiterhin abgelehnt.
    Am Telefon ist nun der österreichische Europapolitiker und Sozialdemokrat Hannes Swoboda, viele Jahre als Abgeordneter im Europäischen Parlament an führender Stelle. Guten Morgen!
    Hannes Swoboda: Schönen guten Morgen.
    Müller: Herr Swoboda, kennen Sie die Deppen Europas?
    Swoboda: Ja, natürlich kenne ich das und weiß das, und es ist manches verständlich. Manche Länder waren ja eher die Auswanderung gewohnt und sind jetzt mit Einwanderung oder mit Flüchtlingen konfrontiert. Aber dennoch: Europa muss hier handeln. Es ist eine Schande, es ist ein Skandal, dass hier zu wenig gemeinsam gehandelt wird. Es ist ein Problem, aber es ist ein Problem, das lösbar ist, wenn alle an einem Strang ziehen.
    "Das ist einfach nicht akzeptabel"
    Müller: Ist Europa nur dann ein gutes Europa, wenn Vorteile winken?
    Swoboda: Ja, in vielen Fällen ja. Da haben Sie recht. Man muss natürlich sagen, wir sind der einzige Kontinent, der in diesem Ausmaß von der Flüchtlingswelle oder von den Flüchtlingen betroffen ist. Amerika tut sich hier viel leichter und andere Kontinente. Wir leben in einer Region, wo rundherum Konflikte sind, die zum Teil natürlich auch sowohl von den USA als auch von einigen europäischen Staaten mit verursacht wurden. Aber heute müssen wir die Probleme lösen und wenn man in einem gemeinsamen Boot sitzt, in einer Europäischen Union, dann müssen alle dazu beitragen, und da darf es nicht einige geben, die sagen, wer weiß, wer da kommt, die nehme ich nicht, ich bin nie damit konfrontiert gewesen. Das ist einfach nicht akzeptabel.
    "Das ist eine einseitige Solidarität"
    Müller: Wir sollten durchaus auch mal über schwarze Schafe reden. Von welchen Regierungen sind Sie besonders enttäuscht?
    Swoboda: Natürlich von einigen osteuropäischen Regierungen, die ganz klar sagen, das ist nicht unsere Angelegenheit, das sind nicht Leute, die wir kennen, wer weiß, was da mitkommt. Da gibt es Aussagen, zum Beispiel auch vom slowakischen Premierminister, aber natürlich auch einiger Leute im Westen. Und wenn ich sehe, wie zum Beispiel auch in Großbritannien reagiert wird, ist das nicht akzeptabel.
    Müller: Aber Warschau gehört definitiv auch dazu?
    Swoboda: Ja auch. Auch die Polen gehören dazu. Es kann ja nicht sein, dass wir diesen Ländern helfen, dass das europäische Budget quasi eine Umverteilung ist von Deutschland, von Österreich, von anderen Nettozahlern an diese Länder, aber diese Länder dann nicht bereit sind, an einer solchen Krisensituation mitzuhelfen. Das ist nicht Solidarität, ist eine sehr einseitige Solidarität:
    Wir wollen unsere finanziellen Beiträge, unser Geld haben, aber wenn wir dazu aufgerufen sind mitzuhelfen, dann sind wir nicht bereit. Sicherlich müsste die Europäische Union natürlich auch finanzielle Mittel denen geben, die auch dazu bereit sind. Man müsste gewissermaßen auch die Hilfe konditionell machen und sagen, wer bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen, bekommt einen gewissen Betrag. Wer nicht bereit ist, bekommt eben diesen Betrag dann nicht, bekommt nicht diese Unterstützung. Dann müsste es eigentlich im europäischen Budget eine gewisse Umverteilung geben in Richtung jener Länder, die bereit sind, für Flüchtlinge auch wirklich zu sorgen.
    Italiens Inseln nehmen überdurchschnittlich auf
    Müller: Es gibt ja im Moment, Herr Swoboda, so eine Art Rangliste in den Medien, wer gut ist, wer schlecht ist, eben mit Blick auf die Aufnahmebereitschaft. Da wird ganz häufig genannt Deutschland und noch ganz oben steht Schweden. Sind das die einzigen Guten, Schweden und Deutschland?
    Swoboda: Sicherlich nicht die Einzigen. Man muss auch dazu sagen, bezogen auf die Bevölkerung ist Österreich auch ganz an der Spitze, sogar vor Deutschland. Aber es gibt natürlich einige Länder, die sehr stark betroffen sind.
    Man muss auch dazu sagen, wenn wir über Griechenland reden oder auch von Italien reden, dass einige Inseln stark betroffen sind. Der Rest von Italien nimmt weniger auf als viele andere Länder. Die Bilder, die wir im Fernsehen sehen, von Kos jetzt oder von Lampedusa, sind nicht symptomatisch für das ganze Land.
    Zusätzlich muss man natürlich sagen, dass ärmere Länder mehr Unterstützung und Hilfe brauchen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Ich würde schon sagen, dass man den ärmeren Ländern auch stärker unter die Arme greifen muss, aber sie müssen auch mithelfen und können nicht einfach nur sagen, wir schieben ab und wir machen die Tore auf, sodass die Leute in Richtung Schengen-Raum gehen. Wir müssen auch den Ländern am Balkan helfen, denn was sich dort abspielt in Mazedonien, in Serbien et cetera, zusätzlich zu den Flüchtlingen, die vielleicht von dort kommen, ist ja auch eine Überforderung dieser Länder. Hier muss es einen quasi Finanzausgleich geben, der die Flüchtlingsfrage hilft, zu lösen.
    Müller: Herr Swoboda, wir haben gestern auch noch mal versucht, die Zahlen zu vergleichen, ein bisschen in die Statistiken zu schauen. Ich fragte Sie ja eben nach Deutschland und Schweden. Es ist ja häufig so, dass gerade die Deutschen sagen, wir sind da ganz besonders toll und offen. Sie nannten dann das Stichwort "im Verhältnis zur Bevölkerung", und da haben wir zumindest herausgefunden, dass Schweden da an erster Stelle steht, dass Österreich auch unter den ersten drei dort platziert ist, Aufnahme von Flüchtlingen pro Bevölkerung, aber auch Ungarn, womit ja kaum jemand rechnet, dass die Ungarn offenbar auch pro Kopf relativ viele aufnehmen.
    Druck in Serbien, Druck in Ungarn, Druck in Griechenland, Sie haben das gesagt: katastrophale Verhältnisse. Kos, Süditalien, Mazedonien, das sind Bilder, die ja auch neu sind, im Armenhaus Mazedonien dieser ganze Druck. Die EU-Kommission hat ja gesagt, wir müssen das versuchen zu regeln. Warum kann diese Kommission sich nicht durchsetzen?
    Swoboda: Nein. Man muss natürlich bei den Zahlen auch berücksichtigen, ob es Leute sind, die kommen und die einfach nur das als Transitland ansehen, wie zum Beispiel in Ungarn, oder ob auch die Regierung etwas tut, damit die Leute bleiben können. Aber unabhängig davon: Die Europäische Kommission kann sich nicht durchsetzen, wenn einige Regierungschefs, starke Regierungschefs - da denke ich natürlich an Deutschland, an Frankreich und andere - sagen, wir müssen das jetzt zum Gesetz machen. Der italienische Premierminister hat sicherlich recht, wenn er sagt, das ist nicht unser Europa oder mein Europa, wenn einige Länder sagen, da tue ich nicht mit, und das muss auch die baltischen Länder zum Beispiel treffen. Die sind genauso entfernt von der Situation in Syrien, Irak und Eritrea wie Schweden, und dennoch: Schweden nimmt viele Leute auf und diese baltischen Länder praktisch keine Leute.
    Deutschland, Schweden, Österreich müssen mehr Druck machen
    Müller: Aber die Franzosen sind ja auch nicht gerade vorbildhaft.
    Swoboda: Die sind auch nicht vorbildhaft. Das ist absolut richtig. Hier muss sich auch Deutschland in dieser Frage mehr auf die Beine stellen. Es geht nicht nur um eine Führungsrolle in der Frage Griechenland, sondern es geht auch um eine Führungsrolle in der Frage der Flüchtlinge, und ich glaube, Länder wie Schweden, Deutschland, Österreich müssen hier ganz klar sagen, das ist nicht unser Europa, wenn auf der einen Seite die Länder Geld einfordern für sich und für die Behebung der wirtschaftlichen Probleme und auf der anderen Seite nicht bereit sind, Solidarität in der Flüchtlingsfrage zu tätigen.
    Müller: Herr Swoboda, ich muss Sie noch als Österreicher fragen. Wir hatten gestern Medienberichte gelesen, Österreich soll Flüchtlinge einfach passieren lassen nach Deutschland. Das ist wohl ein Vorwurf der bayerischen Landesregierung vor allem. Da wurde genannt, 900 pro Tag kommen über die Brenner-Route nach Bayern, 300 über die Balkan-Route. Ist das ein klares Versäumnis der österreichischen Behörden?
    Swoboda: Ich meine schon, dass Österreich mehr tun könnte, um insbesondere auch LKW, die über die Grenze kommen, zu kontrollieren und zu schauen, ob da nicht Flüchtlinge drin sind.
    Müller: Und die Züge auch?
    Swoboda: Und natürlich auch in den Zügen. In den Zügen habe ich persönlich weniger gemerkt. Hier könnte Österreich mehr tun, natürlich mit dem Problem, dass wir schon relativ an der Spitze stehen, und ich kann mir vorstellen, ohne dass ich es jetzt weiß, dass manche Behörden sagen, wir haben schon so viele Probleme, wenn die durchfahren, dann fahren sie durch und dann haben wir weniger Probleme. Aber Österreich müsste mehr tun in dem Zusammenhang, das ist richtig. Aber auf der anderen Seite, glaube ich, wäre es leichter, auch von Österreich diese Dinge einzufordern, wenn es eine gemeinsame europäische Solidarität gäbe.
    Italien ist pro Kopf nicht überfordert
    Müller: Wobei wir noch mal festhalten wollen, ich hatte das ja eben gesagt: Österreich steht immerhin an dritter Stelle, wenn es darum geht, das auf die Pro-Kopf-Aufnahmezahl beziehungsweise auf die Pro-Kopf-Bevölkerung zu übertragen. Aber das ist laut Abkommen - das frage ich Sie jetzt noch einmal - nicht in Ordnung, die Augen im Grunde zuzudrücken und zu sagen, lasst die ganzen Züge mal durchfahren, da können die Deutschen sich drum kümmern?
    Swoboda: Ja, das ist richtig. Da müssten die Grenzbehörden mehr einschreiten. Denn das Schlimmste wäre, wenn es wirklich eine totale Kontrolle gäbe, dass wir wieder an den Grenzen stehen müssen, weil quasi Schengen aufgehoben wird de facto, und da ist mir lieber, dass man zumindest stichprobenweise mehr LKW kontrolliert, Züge kontrolliert, ob hier die Flüchtlinge einfach durchreisen, insbesondere auch in Italien, denn ich habe schon erwähnt: In Italien pro Kopf ist Italien keineswegs überfordert. Daher wäre es wichtig, hier stichprobenweise zumindest Kontrollen anzugehen, um das Problem nicht einfach weiter zu verlagern nach Deutschland. Das verstehe ich, da verstehe ich auch die deutschen Einwände. Aber auf der anderen Seite, glaube ich, müsste Deutschland, Österreich, Schweden gemeinsam in der Europäischen Union mit Nachdruck darauf beharren, dass es zu einer solidarischen gemeinsamen europäischen Politik kommt.
    Müller: Bei uns heute Morgen live im Deutschlandfunk Hannes Swoboda, viele Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament. Vielen Dank für das Gespräch, auf Wiederhören.
    Swoboda: Bitte! Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.