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Flüchtlinge in Frankreich
"Im Kongo waren die Lager besser organisiert"

Seit mehr als 15 Jahren gehören Flüchtlinge zum Stadtbild im französischen Calais. Fast alle wollen von hier aus nach Großbritannien. Sie hausen in improvisierten Lagern, die immer wieder von der Polizei geräumt werden. Mehr als 800 Menschen sind von der aktuellen Räumung betroffen.

Von Bettina Kaps | 02.06.2014
    Afghanische Flüchtlinge am 17. September 2009 in einem improvisierten Lager in der Nähe von Calais in Frankreich.
    Afghanische Flüchtlinge in einem improvisierten Lager in der Nähe von Calais in Frankreich. (picture alliance / dpa / Edoudard Bride)
    Brigitte Lip steht vor einem Kanal im Zentrum von Calais. Die Helferin der örtlichen Caritas zeigt auf das gegenüberliegende Ufer. Der lang gestreckte Platz dort ist leer.
    "Dort war ein Flüchtlingslager, es zog sich bis zu der Brücke hin. Es war ein richtiger Slum voller Elendsbehausungen aus Holzpaletten, Plastiktüten und einfachen Decken, was die Migranten halt so gefunden haben. Das Lager wurde am Mittwoch platt gemacht. Da vorne steht ein Polizeiauto, um zu verhindern, dass die Flüchtlinge zurückkommen."
    Die Polizei hat noch ein zweites Lager geräumt. Über 500 Migranten verloren ihre Behausungen, Menschen, die vor allem aus Afghanistan, Eritrea, Äthiopien und Syrien geflüchtet sind. Der Präfekt begründete die Aktion mit sanitären Problemen: Ein Viertel der Flüchtlinge leide unter Krätze. Aber das könne nicht der wahre Grund sein, sagt Isabelle Bruant, Koordinatorin der Ärtze-Hilfsorganisation Medecins du Monde.
    "Wenn man die Menschen heilen will, darf man sie nicht vertreiben."
    Bruant betont, dass es für die Migranten nur eine Handvoll öffentlicher Duschen gibt, die am Stadtrand aufgestellt und nur zu bestimmten Zeiten geöffnet sind.
    Auch David Laporte, Leiter der örtlichen Hilfsorganisation Solid´R ist empört, dass der Staat den Flüchtlingen keine Lösungen anbietet.
    "Wir erleben hier ein menschliches Drama, das durch mangelnde Organisation und schreckliche Stümperei noch verschlimmert wird. Calais leidet seit 15 Jahren unter Flüchtlingsströmen. Aber niemand packt die Sache an. Ich habe im Kongo gearbeitet, da waren die Flüchtlingslager besser organisiert. Das Problem wird doch nicht dadurch beseitigt, dass man die Lager räumt."
    Die meisten Flüchtlinge in Calais wollen kein Asyl in Frankreich beantragen, sondern träumen von einer besseren Zukunft in Großbritannien. Am Wochenende irrten Viele durch die Stadt, auf der Suche nach neuen Schlafplätzen. Die eigentliche Energie richten sie aber darauf, nach England zu kommen.
    An einer Kreuzung mit einem Stoppschild warten junge Männer im Gebüsch. Ein LKW bremst. Sofort rennen die Flüchtlinge auf die Straße, klettern hinten auf den Sattelzug, öffnen die Tür. Diesmal schaffen es zwei. Sie verschwinden im Laderaum, aber dass sie die Hafenkontrollen überwinden, ist unwahrscheinlich.
    Bilal schaut dem LKW nach. Vergangene Nacht, erzählt er, habe er es tatsächlich über den Ärmelkanal geschafft, aber im Hafen von Dover habe ihn ein Hund aufgespürt. Der schmale junge Mann sieht müde aus. Bilal ist aus Aleppo geflüchtet.
    "Von Syrien aus bin ich zuerst in Deutschland gelandet, im Flüchtlingslager Isernhagen bei Hannover. Dort habe ich ein Jahr und fünf Monate lang gewartet, aber sie haben mir keine Papiere gegeben und sie haben mich nicht zu meiner Freundin gelassen, die in Düsseldorf untergebracht ist. Jetzt bin ich hier in Frankreich, mit gebrochenem Herzen. In Deutschland hat man mir immer gesagt: warte, warte, warte."
    Viele Flüchtlinge, die in Calais stranden, sind schon seit Jahren auf Irrreise durch Europa. Bondu stammt aus Bangladesh, vor sieben Jahren kam er in Griechenland an. Dort wurde er ein Jahr lang grundlos eingesperrt, erzählt er. Dann verschlug es ihn nach Schweden, von dort aus nach Italien, dort wurde er wieder abgeschoben, ging nach Frankreich. Jetzt will er nur noch eines:
    "Mir ist es egal, wo ich bleibe, solange ich nur Asyl bekomme und beherbergt werde. Frankreich, als Teil von Europa, hat die UN-Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Deshalb bin ich hierher gekommen, sonst hätte ich ja auch nach Afrika gehen können."
    Viele Flüchtlinge wollen auch deshalb kein Asyl in Frankreich beantragen, weil die Wartefrist zwei Jahre beträgt. Zumindest im ersten Jahr dürfen sie nicht arbeiten. Auch Bondu will sein Glück nun in Großbritannien versuchen.
    Vor zwei Tagen, sagt er, sei er bei einem Fluchtversuch von französischen Polizisten in ein Wäldchen geschleppt und dort brutal zusammen geschlagen worden.
    "Manchmal fragen wir uns: Sind wir in der Europäischen Union oder im Kongo? Was soll das Gerede von den Menschenrechten? Sind wir Tiere oder Menschen? Ihr Leute, ihr habt das zu entscheiden."
    David Laporte von der Hilfsorganisation Solid´R kümmert sich um 70 Frauen und drei kleine Kinder, die in einem besetzten Haus mit einer einzigen Toilette untergekommen sind. Eins weiß er jetzt schon: Am 30. Juni wird das Haus geräumt. Laporte befürchtet, dass die Flüchtlingszahlen in Calais noch zunehmen werden.
    "Calais ist eine Zweigstelle von Lampedusa. Die Italiener nehmen den Flüchtlingen keine Fingerabdrücke mehr ab. Deshalb können die Migranten jetzt in Scharen über die Grenze kommen. In einem Monat haben wir vielleicht sogar doppelt so viele hier."