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Flüchtlinge in Griechenland
Samos: Hilferuf aus einem offenen Gefängnis

Immer mehr Menschen fliehen über die Türkei nach Griechenland. Deutlich wird das auf der Insel Samos: Hier leben knapp 5.000 Flüchtlinge in einem Camp, das für 700 Menschen geplant war. Ihre Versorgungslage ist dramatisch. Die Bewohner der Insel fühlen sich von Regierung und EU im Stich gelassen.

Von Michael Lehmann | 21.09.2019
Wildes Flüchtlingscamp auf Samos
Wildes Flüchtlingscamp auf Samos: Die Versorgungslage der Flüchtlinge hier spitzt sich zu (Michael Lehmann / Deutschlandradio)
Sie bauen sich ihre eigene Hütten: Iraker, Palästinenser und viele Afrikaner tragen Holzstämme, Plastikplanen und andere Baumaterialien hoch aus Vathi, dem Hauptort der Insel Samos, ins wilde Camp am Registrierungszentrum. In und um den Ort, an dem laut offizieller Planung knapp 700 Menschen Platz finden sollten, leben inzwischen gut 5.000. Familien, alleinreisende junge Männer, Schwangere. Sie wohnen in Notzelten, in kaum isolierten Hütten, zwischen Ratten, Essensresten, prallen schwarzen Mülltüten und auch Fäkalien:
"Ein Meter Plastikplane hat fünf Euro gekostet. Meine Freunde dort im Nachbarzelt haben mir dann geholfen. Ich bin mit meinen Kindern und meiner Frau hierher auf die Insel geflohen. Zuletzt haben wir in einem engen Hotelzimmer bei Izmir gewohnt für 50 Euro die Nacht … und die türkische Polizei hat uns geschnappt und Geld verlangt".
Neu angekommene Flüchtlinge bauen sich Ihre Bleibe im wilden Camp von Samos-Stadt.
Neu angekommene Flüchtlinge müssen sich Ihre Bleibe im wilden Camp von Samos-Stadt selbst bauen (Michael Lehmann / Deutschlandradio)
Zur Körperpflege ein Waschbecken mit kaltem Wasser
Der 40jährige Iraker, dessen Namen wir nicht veröffentlichen, um sein Asylverfahren nicht zu gefährden, ist mit einem großen Teil seiner Familie aus dem Irak geflohen. Vor zehn Tagen ist er wie viele andere auch im August und September mit dem Schlauchboot aus der Türkei nach Samos gekommen. Kritik an den Zuständen im Camp kann die eigene Lage unsicherer machen. 1.000 Euro pro Familienmitglied haben die irakischen Migranten an ihre Schleuser in der Nähe von Izmir bezahlt – dazu nochmal 100 Euro Versicherung, wie das die türkischen "Agenten" nannten – so erzählt es der irakische Familienvater. Vor ein paar Tagen gab es ein Unwetter mit heftigem Regen auf Samos und plötzlich war es kalt im Camp zwischen Felsen und Olivenbäumen. Die neu angekommenen Flüchtlinge haben nur wenig Sommerkleidung zum Wechseln.
"Mäuse gibt es hier überall, so groß wie kleine Katzen", sagt der Iraker, und er meint die Ratten. Zur Körperpflege steht ein Waschbecken mit kaltem Wasser zwischen den Zelten. Daneben eine mit einer alten WC-Schüssel selbstgebaute Toilette. Die Abwasserleitung führt in einen Busch.
"Wir haben im Irak Kämpfe, in Syrien ist Krieg. Die Menschen müssen hierher flüchten", sagt der Familienvater ernst.
"Migranten müssen runter von der Insel"
Wenige Wochen erst im Amt ist der neugewählte Bürgermeister von Samos, Georgios Stantzos. Er spricht mit freundlichem, aber entschlossenem Gesicht von unerträglichen Zuständen für die Flüchtlinge, sieht aber auch, was die eigene Bevölkerung speziell in Samos-Stadt seit 2015 mitmacht und inzwischen kaum noch ertragen kann:
"Wir müssen uns von Tag zu Tag durchkämpfen mit dieser Lage. Sicherheitsleute und Bevölkerung bewahren halbwegs Ruhe, ja. Aber ich kann es nicht verheimlichen. Wir müssen das Schlimmste befürchten, dass alles doch noch aus dem Ruder läuft. Wir hoffen, dass das Glück weiter auf unserer Seite bleibt. Wir sind gastfreundlich, aber: seit 2015 diese große Zahl von Migranten auf unserer Insel – unsere Grenzen sind seit langem überschritten. Die Migranten müssen deshalb runter von der Insel."
Nur gelegentlich kann ein Arzt im Flüchtlings-Camp von Samos nach dringenden Notfällen schauen. Medikamente gibt es so gut wie keine. Das kleine Krankenhaus der Insel ist zunehmend überlastet. Selbst ein Syrer, der mit Bombensplittern in der Lunge dringend operiert werden müsste, wartet seit vielen Tagen auf einen Arzt. Bogdan Andrei von der Nichtregierungsorganisation "Samos Volounteers" sagt:
"Im letzten Monat hatten wir 1.200 Menschen, die neu nach Samos geflüchtet sind. Da können Sie sich vorstellen, wie viel Arbeit es macht, die auch nur mit dem Nötigsten auf so einer relativ kleinen Insel zu versorgen".

Schnelle Besserung der Zustände hatte im Wahlkampf dieses Sommers die inzwischen zur Regierungspartei gewählte "Nea Demokratia" versprochen. Manos Stefanakis, Herausgeber der Zeitung "Samiakon Vima" (einzige Zeitung auf Samos), kritisiert heftig, dass von den Versprechen bisher kein einziges umgesetzt sei:
"Die Mitglieder der neuen Regierung, die jetzt Minister sind, hatten uns vor der Wahl hier auf Samos besucht. Sie haben Lösungen, ganz neue Konzepte für die Flüchtlingsunterbringung versprochen. Gar nichts ist passiert. Herr Koumoutsakos, der stellvertretende Innenminister – hauptverantwortlich jetzt in Migrationsfragen – er war wenige Tage vor der Wahl im Juli hier auf Samos und hat gesagt, man könne dafür sorgen, dass Boote sehr früh in der Türkei abgefangen werden. Ist noch kein einziges Mal passiert."
Waschplatz im Wilden Camp Samos
Waschplatz im Wilden Camp von Samos (Michael Lehmann / Deutschlandradio)
"Das alles ist kaum zu stemmen"
Mit einem Zeppelin lies die konservative Partei die Insel Samos aus der Luft erkunden, um ein klareres Bild vom Flüchtlingslager zu bekommen. Statt der daraufhin versprochenen Linderung der Probleme sind aber nur die Ankunftszahlen stark gestiegen. Einige hundert kommen jetzt jede Woche. Viel zu viele Menschen für eine kleine Insel, sagt Manos Stefanakis:
"Für 5.000 Leute zusätzlich auf unserer Insel jeden Tag frisches Wasser bereitzustellen ist ein Problem. Im Gegensatz zu den Kykladen haben wir auf Samos zwar Quellen – aber für 5.000 Leute wird es echt eng. Dazu der Abfall, den so viele Menschen zusätzlich machen, viele, viele Tonnen jeden Monat. Das alles ist kaum zu stemmen."
Die Kritik der Bewohner von Samos richtet sich nicht nur gegen die neue konservative Regierung – auch von europäischen Institutionen fühlen sich die Menschen der dicht vor der Türkei liegenden griechischen Insel zunehmend alleine gelassen. Bürgermeister Stantzos fordert eine effektivere Überwachung der Grenze. Die sei extrem wichtig nach der jüngsten Drohung des türkischen Präsidenten. Erdogan kündigte an, bald noch deutlich mehr syrische Flüchtlinge nach Griechenland zu schicken, wenn die Türkei nicht mehr finanzielle Unterstützung bekommt.
"Es könnte bald eine Tragödie geben"
Unterdessen spitzt sich die Versorgungslage für die Flüchtlinge auf Samos weiter zu. Bis zu zwei Stunden lang müssen Migranten für ein Frühstück im Camp anstehen, selbst Wasserflaschen sind immer wieder Mangelware. Noch ist die Lage halbwegs ausgependelt, sagt Bürgermeister Stantzos. Die Menschen versuchten sich untereinander zu helfen, aber viele Einheimische ziehen sich in ihre eigenen vier Wände zurück, weil Spielplätze und Straßen des Hauptortes vor allem von Migranten besucht werden.
"Es könnte durch einen dummen Zufall bald eine Tragödie geben. Der Druck in der Bevölkerung ist einfach auch gestiegen. Diese Tragödie könnte ein Unfall sein, oder wenn im Camp Feuer ausbricht. Oder es könnte einen Aufstand geben bei dem – Gott bewahre uns davor – alles dem Erdboden gleichgemacht würde".
Eine Warnung, die der neu gewählte Bürgermeister von Samos-Stadt erst am Ende seines Interviews mit dem ARD-Hörfunk vorsichtig ausspricht. Wie er hoffen viele Bewohner der Insel, dass dieses Mal doch einige Politiker und EU-Verantwortlichen Ernst machen mit ihrem Versprechen: Griechenland besser zu unterstützen bei der Versorgung von immer mehr Menschen, die aus der Türkei nach Griechenland flüchten.