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Flüchtlinge
SPD begrüßt Koordination der Flüchtlingskrise im Kanzleramt

Aus Sicht der sozialdemokratischen Minister sei es "ein Schritt nach vorne", dass die Flüchtlingskrise zur Chefsache werde, sagte der SPD-Vizefraktionsvorsitzende Axel Schäfer im DLF. Deutschland und das Innenministerium seien nicht ausreichend auf den Anstieg der Asylbewerber vorbereitet gewesen.

Axel Schäfer im Gespräch mit Mario Dobovisek | 07.10.2015
    Axel Schäfer (SPD) spricht am 26.03.2015 während einer Bundestagssitzung im Reichstag in Berlin
    Der SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer: "Man darf einzelne Krisen nicht mit der gesamten EU gleichsetzen." (dpa / picture alliance / Lukas Schulze)
    "Wir benötigen jetzt ein paar zusätzliche Anstrengungen, über die wir vielleicht vor einem halben oder vor einem Jahr noch nicht nachgedacht haben", sagte Schäfer. Dieses Manko müsse jetzt behoben werden.
    Der SPD-Fraktionsvize betonte, dass niemand in Deutschland wisse, wie viele Flüchtlinge tatsächlich aufgenommen werden könnten. "Wir müssen ausloten, was möglich ist." Die Organisation müsse verbessert werden. Schäfer fügte hinzu, es sei falsch, das individuelle Asylrecht infrage zu stellen.
    Mit Blick auf Flüchtlingspolitik in der EU sagte Schäfer, dass die Länder schlecht vorbereitet gewesen seien und die Augen vor dem Problem verschlossen hätten. Länder wie Griechenland und Italien seien zu lange vertröstet worden. Die Krise sei aber lösbar: "Wir schaffen das, wenn wir den gemeinsamen Willen haben."

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Die Grenzen werden geschlossen, Zäune gebaut und auf der politischen Bühne die Ellenbogen ausgefahren. Großbritannien will die EU vielleicht sogar verlassen, andere wollen von einer gelebten europäischen Solidarität nichts wissen. Und im Mittelpunkt die Vielzahl an Flüchtlingen, die aus dem Nahen Osten, aus Afghanistan, aus Afrika zu uns kommen, um Schutz zu suchen. So zeichnete EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits vor einem Monat ein düsteres Bild von der Gemeinschaft.
    O-Ton Jean-Claude Juncker: "Die Europäische Union ist nicht in einem guten Zustand. Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union."
    Dobovisek: Über den Zustand der Europäischen Union wollen heute auch zwei andere große Europäer reden: Bundeskanzlerin Angela Merkel nämlich und Frankreichs Präsident Francois Hollande vor dem EU-Parlament in Straßburg.
    Am Telefon begrüße ich Axel Schäfer, Fraktionsvize der SPD im Bundestag und dort zuständig für die Europapolitik. Guten Morgen, Herr Schäfer!
    Axel Schäfer: Einen schönen guten Morgen, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Lauter Krisen, die unser Korrespondent Jörg Münchenberg da aufzählt: Egoismen, nationale Interessen, ein Mangel an Solidarität, abwehrende Aufnahmelager außerhalb der EU-Grenzen. Ist das noch Ihre Europäische Union, Herr Schäfer?
    Schäfer: Ja natürlich ist das noch meine Europäische Union, weil hier 28 Länder mit über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag zusammenarbeiten, und deshalb darf man einzelne Krisen, auch wenn sie groß sind, und die Kritik auch am Verhalten in der Politik einzelner Staaten nicht mit der gesamten EU gleichsetzen.
    Dobovisek: Kein guter Zustand, sagt Jean-Claude Juncker. Stimmen Sie ihm zu?
    Schäfer: Ja, das ist wahr, weil auf der einen Seite wir große Herausforderungen haben, Frieden, Sicherheit, die Frage von Flüchtlingen, aber auch wirtschaftliche Entwicklung, und auf der anderen Seite wir große Gefährdungen haben, was den Zusammenhalt anbelangt, wenn Sie nur an viele nationalistische Bewegungen in einzelnen Mitgliedsstaaten denken, oder auch den Versuch, Länder zu spalten oder vielleicht sogar aus der EU auszutreten.
    Dobovisek: Welchen Kernsatz erwarten Sie da heute Nachmittag von der Kanzlerin und von dem Präsidenten?
    Schäfer: Das wichtigste nationale Interesse aller europäischen Staaten bleibt die Einigung des Kontinents.
    Dobovisek: Aus der Flüchtlingskrise ist ja längst, wenn wir uns das mal so zusammenfassen können, eine europäische Krise geworden. Sind die Flüchtlinge die Ursache des schlechten Zustands, den wir gerade gemeinsam der Gemeinschaft bescheinigen, oder bloß der Katalysator?
    Schäfer: Sie sind nicht die Ursache, sie sind aber von der Herausforderung her sicherlich die größten Anstrengungen, die uns abverlangt werden seit 1989. Vielleicht sind es sogar die größten Anstrengungen, die wir brauchen, seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber es hat sich an der Krise aktuell gezeigt, bei der großen Zahl von Flüchtlingen, die nach Europa kommen, dass wir auf der einen Seite schlecht vorbereitet waren und auf der anderen Seite bei einigen Problemen einfach die Augen zugemacht haben und natürlich einzelne Länder, die seit Jahren uns darum bitten, doch mehr gemeinsam zu tun, wie Griechenland und Italien, die haben wir zu sehr vertröstet.
    "Wir schaffen das, wenn wir den gemeinsamen Willen haben"
    Dobovisek: Wir schaffen das, sagt die Kanzlerin und meint damit Deutschland und die Aufnahme der Flüchtlinge hier. Schaffen wir das auch als europäische Gemeinschaft, als Europäische Union?
    Schäfer: Ja! Wir schaffen das, wenn wir den gemeinsamen Willen haben. Bisher war es in den letzten 65 Jahren so, dass die Pessimisten, die das Ende der europäischen Gemeinschaft an die Wand gemalt haben, dass die immer Unrecht behalten haben. Das sollte uns stark machen. Und dass jeden Tag in Europa Politikerinnen und Politiker, Beamte, Funktionsträger, Wirtschaftsrepräsentanten, aber auch Journalisten zusammenarbeiten, schafft jeden Tag aufs Neue auch Zusammenhalt, und das ist, glaube ich, eine ganz, ganz wichtige Voraussetzung, dass wir jetzt an die Lösung dieser großen Probleme gehen.
    Dobovisek: Der zuständige Minister hier in Deutschland, Bundesinnenminister Thomas de Maizière, wurde in der Flüchtlingskrise heftig kritisiert. Jetzt will Angela Merkel die Gesamtkoordination im Kanzleramt bündeln. Ist das eine Entmachtung oder eine Entlastung von de Maizière?
    Schäfer: Da gibt es ja heute unterschiedliche Interpretationen in den Medien.
    Dobovisek: Deshalb interessieren wir uns für Ihre.
    Schäfer: Genau! Aber Sie werden verstehen: Ich werde den Koalitionspartner nicht öffentlich in solchen Fragen kritisieren. Ich habe das an anderer Stelle zum Thema Grexit getan. Das möchte ich bitte heute Morgen nicht machen.
    Dobovisek: Aber ich möchte schon gerne Ihre Meinung dazu hören, ob das in der Flüchtlingskrise ein Schritt nach vorne ist.
    Schäfer: Sonst würde man das heute nicht im Kabinett beschließen, wenn auch die sozialdemokratischen Ministerinnen und Minister nicht der Meinung wären, das sei ein Schritt nach vorne.
    Dobovisek: Bedeutet das, dass de Maizière bisher eher rückwärtsgewandt war?
    Schäfer: Es hat sich gezeigt, dass wir insgesamt in Deutschland, aber auch das Innenministerium nicht genügend vorbereitet war und dass wir jetzt ein paar zusätzliche Anstrengungen benötigen, über die wir vielleicht vor einem halben Jahr oder vor einem Jahr noch nicht nachgedacht haben. Das ist sicherlich ein Manko und das müssen wir jetzt beheben.
    Dobovisek: Und wer muss da die größte Rolle spielen?
    Schäfer: Natürlich muss die Regierung insgesamt gemeinsam handeln und es muss natürlich auch alles, was wichtige Beschlüsse anbelangt, die über die Organisationen wie in dem Fall der Bundesregierung hinausgehen, die müssen vom Parlament getragen werden, und ich gehe davon aus, dass die Große Koalition dazu auch willens und in der Lage ist.
    "Wollen mit der Türkei vereinbaren, dass dort Flüchtlinge Aufnahme finden"
    Dobovisek: De Maizière hat auch laut über Transitzonen nachgedacht und über Aufnahmegrenzen. Teile der SPD springen ihm bei. Man müsse auch an den Zusammenhalt in der deutschen Gesellschaft denken, mahnt zum Beispiel SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ihr Fraktionschef, Thomas Oppermann, spricht von einer Grenze der Aufnahmekapazität. Muss das Recht auf Asyl lernen, begrenzt zu sein?
    Schäfer: Ich war ja der Erste aus der SPD-Fraktionsspitze, der am Donnerstag gesagt hat, wir kommen an ein Limit, und wir werden jetzt nicht darüber reden, inwieweit das individuelle Asylgrundrecht abgeschafft wird. Wir müssen aber im Laufe der Entwicklung darüber reden, wie viele Menschen in Deutschland so aufgenommen werden können, dass sie hier sicher leben, dass sie gut versorgt werden, dass sie Chancen haben, und wir werden auch Regelungen finden müssen, dass wir eine stärkere Solidarität mit den anderen europäischen Staaten hinbekommen, denn die derzeitige Verteilung von Flüchtlingen ist auf Dauer weder tragbar, noch aktuell akzeptabel.
    Dobovisek: Aber wie wollen Sie, Herr Schäfer, es schaffen, das individuelle Asylrecht nicht anzutasten und trotzdem irgendwann die Reißleine zu ziehen?
    Schäfer: Begriffe wie Reißleine ziehen und so was, damit sollte man schon ein bisschen vorsichtig sein. Wir wollen ja drei Dinge jetzt zugleich machen. Wir wollen international stärker drangehen, Fluchtursachen zu bekämpfen. Das heißt auch, dass wir außenpolitisch uns noch mehr engagieren, Stichwort gemeinsame Lösungen für Syrien zu finden. Wir wollen mit der Türkei, wie das ja gestern geschehen ist, auch Vereinbarungen treffen, dass dort Flüchtlinge Aufnahme finden können. Und wir wollen in Europa zu Lösungen mit den anderen Staaten kommen und auch als drittes natürlich in Deutschland sicherlich im Jahr etwa 500.000 aufnehmen. Wir haben alleine auf der einen Seite 300.000 Geburten im Jahr "zu wenig", wenn man sich unser Bevölkerungsniveau anschaut. Das muss im Einzelnen auch mit Zahlen erörtert werden, aber ich halte es für falsch, dass man jetzt an Grundrechtsregelungen drangeht, oder Asyl abzuschaffen.
    Schäfer: Rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber müssen abgeschoben werden
    Dobovisek: Aber trotzdem müssen wir genau über den Fall reden, wenn 500.000 Flüchtlinge in diesem Jahr schon gekommen sind und der erste danach kommt und viele weitere vor der Tür stehen. Was soll mit denen passieren?
    Schäfer: Das eine ist, wir müssen in unserem Land auch ausloten, was möglich ist. Es gibt niemand, der Ihnen sagen kann, 500.000 ist okay, bei einer Million wird das kritisch, sondern wir müssen die Organisation dazu in unserem Land verbessern. Wir müssen vor allen Dingen deutlich machen, wie sehr wir das ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger schätzen und schützen und würdigen. Und bestimmte Dinge, wo wir Probleme bei der Umsetzung haben, die müssen gelöst werden. Es kann ja nicht sein, dass viele Menschen rechtskräftig einen Bescheid haben, dass sie unser Land verlassen müssen, dass da aber nichts passiert, dass die nicht in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Also es ist eine ganz große Palette und es wird nicht mit einem einzigen Ja/Nein entschieden werden können.
    Dobovisek: Diese - und jetzt zitiere ich mal - CSU-Rhetorik innerhalb der SPD treibt Juso-Chefin Johanna Uekermann nach eigenen Worten bereits auf die Barrikaden und nicht wenige Sozialdemokraten folgen ihr dabei. Die Flüchtlinge als Keil in der SPD, der Union geht es da ja nicht viel besser. Wie wollen Sie diesen Keil wieder herausziehen?
    Schäfer: Nein, das ist keine CSU-Rhetorik und das ist kein Keil, sondern ist einfach die Wiederspiegelung der Wirklichkeit, dass in einer großen Volkspartei es unterschiedliche Meinungen gibt, genau wie wir auch natürlich bei unseren Bürgerinnen und Bürgern eine unterschiedliche Auffassung haben und teilweise auch eine unterschiedliche Wahrnehmung, und das muss in der SPD und von der SPD ernst genommen werden und es darf da keine Diskussionsverbote geben nach dem Motto, wer sagt, dass wir ans Limit kommen, der argumentiert schon in Richtung CSU. Das ist falsch.
    Dobovisek: ... sagt Axel Schäfer, und er ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch.
    Schäfer: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.