Freitag, 29. März 2024

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Flüchtlinge
Tarifexperte gegen Aufhebung des Mindestlohns

Forderungen, den Mindestlohn für Flüchtlinge aufzuheben, seien falsch, sagte der Tarifexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln, Hagen Lesch, im DLF. Denn unter den Zuwanderern seien viele junge Menschen, die man zu Fachkräften ausbilden sollte, statt sie im Niedriglohnsektor arbeiten zu lassen.

Hagen Lesch im Gespräch mit Thielko Grieß | 29.12.2015
    Gebäudereiniger laufen mit ihren Arbeitsmaterialien am Gürtel in ein Gebäude.
    Lesch: "Das ist katastrophal was da bisher im Bildungssystem geleistet wurde, gerade in Syrien." (picture alliance / dpa-ZB / Ralf Hirschberger)
    Lesch betonte: "Die Flüchtlinge bringen zum überwiegenden Teile eine außerordentlich geringe Qualifikation mit oder gar keine." Da die meisten jung seien, stelle sich die Frage, ob man sie nicht ausbilden könne. "Das Ziel muss sein, Flüchtlinge nicht in den Niedriglohnsektor reinzupressen, sondern sie zu Fachkräften weiterzuentwickeln." Dafür könne ein Mindestlohn hilfreich sein. Ob das funktioniere, sei derzeit aber noch völlig unklar, weil die Neuankömmlinge erst mit einer zeitlichen Verzögerung in den Arbeitsmarkt gelangten. "Wir wissen im Moment quantitativ nicht, was auf uns zukommt."
    Der Tarifexperte sprach sich dafür aus, Anreize zu setzen, damit möglichst viele Flüchtlinge eine Lehre machten. Dazu zählten eine Bleibeperspektive oder eine Ausbildungsprämie. Sollte man feststellen, dass es nicht funktioniere, könne man immer noch über Ausnahmen vom Mindestlohn nachdenken. Lesch wies aber darauf hin, dass in vielen Branchen sowieso Tarifverträge gelten, die über dem Mindestlohn liegen.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Thielko Grieß: "Der Arbeitsmarkt ist quicklebendig" und "Nie haben so viele Menschen regelmäßig gearbeitet in Deutschland wie zurzeit" – das sind Schlagzeilen der vergangenen Monate, die ja auch stimmen mit Blick auf manche Zahlen. Aber natürlich gibt es auch andere Zahlen, die ganz andere Geschichten erzählen, davon nämlich, dass mehr Kinder als früher von Armut bedroht sind oder in Armut leben, weil ihre Eltern schlecht verdienen, dass es viel rascher geschieht, von der Sonnenseite in Armut zu fallen. Immerhin seit fast genau einem Jahr wird in fast allen Berufen Mindestlohn gezahlt – 8,50 Euro die Stunde, jedenfalls dann, wenn die Kontrollen ausreichen und niemand trickst. Aber zugleich gibt es in Deutschland mehr als 2,5 Millionen Menschen ohne Arbeitsstelle und nun kommen auch noch viele Flüchtlinge dazu, von denen viele demnächst um gering bezahlte Jobs konkurrieren werden.
    - Vor dieser Sendung habe ich mit Hagen Lesch gesprochen, Tarifexperte ist er beim Institut der Deutschen Wirtschaft, ein eher wirtschaftsnahes Institut in Köln. Meine erste Frage: Ist es zweckmäßig, jetzt den Mindestlohn für Flüchtlinge aufzuheben?
    Hagen Lesch: Zum jetzigen Zeitpunkt ein klares Nein. Wir müssen zum einen sehen, dass die Flüchtlinge ja zum überwiegenden Teil eine außerordentlich geringe Qualifikation oder gar keine mit sich bringen, ungeachtet von sprach- und kulturellen Integrationsproblemen, die sich da stellen. Und deswegen stellt sich die Frage auch, weil viele Flüchtlinge ja doch jüngeren Alters sind, ob hier nicht ein Potenzial besteht, aus dem man Fachkräfte machen kann. Deswegen muss das Ziel sein, Flüchtlinge nicht in den Niedriglohnsektor reinzupressen durch Lohnabsenkung dann möglicherweise, sondern zu Fachkräften weiterzuentwickeln. Und hier kann ein Mindestlohn sogar hilfreich sein, weil es ist natürlich den meisten Leuten klar, dass für 8,50 ein Flüchtling mit bestimmten Qualifikations- und Sprachdefiziten gar keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben wird. Und eben zu verhindern, dass sich solche Leute für fünf oder sechs Euro für einfachste Arbeiten anbieten und auf Ausbildung verzichten, halte ich es für sinnvoll, dass man bei diesen 8,50 bleibt, weil dann die Jobperspektiven gewissermaßen so schlecht sind, dass man auf der anderen Seite dann einen höheren Anreiz hat, in die Ausbildung zu gehen.
    Grieß: Jetzt haben Sie Ihre Antwort mit den Wörtern begonnen, zum jetzigen Zeitpunkt nicht, nicht senken – zu welchem Zeitpunkt denn sonst?
    Lesch Wir müssen natürlich auch irgendwann mal zu einer Bestandsaufnahme kommen. Wir stehen jetzt erst mal am Beginn des Problems: Wir haben sehr viel Zuwanderung im Moment zu uns. Und diese Menschen, die strömen erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung überhaupt erst in den Arbeitsmarkt hinein, die müssen überhaupt erst mal wissen, ob sie eine Perspektive haben.
    Grieß: Wenn sie dann anerkannt sind und dann arbeiten dürfen.
    Lesch Ganz genau. Das heißt also, wir wissen im Moment quantitativ noch gar nicht so richtig, was kommt denn auf uns zu. Und im Zuge der Erfahrungen, die wir sammeln, erstens mal, wie viel Menschen müssen wir in den Arbeitsmarkt integrieren, welche Qualifikation haben sie tatsächlich, in welchen Zeiträumen kann ich Flüchtlinge qualifizieren. Das müssen wir alles erst mal prüfen und abwarten. Und wenn wir dann zu dem Schluss kommen, da sind sehr, sehr viele bei, die bekommen wir tatsächlich nicht in den Arbeitsmarkt integriert. Und wir haben wirklich einen massiven Schub von Menschen, die keine Arbeit bekommen, für die wir einfachste Arbeitsplätze brauchen, dann kann man natürlich auch überlegen, ob man nach unten den Mindestlohn öffnet. Da muss man allerdings auch dazu sagen, es reicht nicht, aus meiner Sicht, aus, dann den gesetzlichen Mindestlohn zu öffnen, dadurch entstehen keine Arbeitsplätze, weil wir haben natürlich eine ganze Reihe von Branchen, die potenziell interessant wären für Menschen mit geringer Qualifikation. Ob das jetzt einfachste Wachaufgaben, ob es in der Gebäudereinigung ist oder in vergleichbaren Berufen, dort haben wir tarifliche Mindestlöhne, die oberhalb des Mindestlohns zum großen Teil liegen.
    Grieß: Eben. Das macht es nicht leichter.
    Lesch Ganz genau. Das ist wie eine Sperrklinke, das heißt, wenn wir den Mindestlohn senken, darf ich da trotzdem keinen Arbeitsplatz für sechs Euro anbieten. Das heißt, man müsste dann tatsächlich einfach eine größere Diskussion darüber führen, was machen wir mit diesen Menschen.
    Grieß: Aber ist nicht auch jetzt schon absehbar, Herr Lesch, dass ein Teil derjenigen, die kommen als Flüchtlinge, so nicht einfach qualifiziert werden können, aber auch nicht mit großen Mühen so qualifiziert werden können, dass sie einen höherwertigen Job annehmen können, der dann auch höher bezahlt ist?
    Lesch Das ist ganz schwer zu sagen. Ich stimme Ihnen zu, wenn man sich die ersten Bestandsaufnahmen anschaut, bis zu drei Vierteln ohne einen vergleichbaren Berufsabschluss, vielfach auch die Schulkenntnisse – wurde ja auch gesagt –, achte Klasse, das ist katastrophal, was dort auch im Bildungssystem geleistet wurde bisher, gerade in Syrien, Bildungsdefizite, die sind natürlich ganz klar da. Auf der anderen Seite sind es Menschen, die noch in einem Alter sind, gerade auch in den frühen 20ern, bei denen ich schon noch die Hoffnung habe, dass die Lernfähigkeit hoch ist. Wir wissen es einfach heute noch nicht, aber Sie haben völlig recht, es kann durchaus sein, dass wir einen deutlichen Anstieg an der Nachfrage nach einfachsten Arbeitsplätzen bekommen. Und dann wird man sich zusammensetzen, dann muss die Gesellschaft diskutieren, will ich diese Menschen dauerhaft vom Arbeitsmarkt aussperren und sozusagen in Hartz IV stecken oder öffne ich tatsächlich die Löhne nach unten noch mal, mit all den Problemen, die natürlich dann auftauchen, weil ich dann natürlich wieder Menschen habe, die dann auch wieder auf ergänzende Staatsleistung natürlich angewiesen sind.
    Grieß: Die bisherigen Erfahrungen zeigen, Sie haben es angesprochen, es gibt die Langzeitarbeitslosen, den Sockel an Arbeitslosigkeit, den es nach wie vor gibt, der in Ostdeutschland nach wie vor deutlich höher ist im Schnitt als im Westen – ein ungelöstes Problem in den vergangenen Jahren. Da wird Konkurrenz entstehen, da wird Missgunst entstehen, das ist politisch, was auch immer Sie vorschlagen, dann sehr schwierig durchsetzbar.
    Lesch: Wir fordern keine Ausnahmeregelung speziell für Flüchtlinge
    Lesch Das ist genau das Problem, deswegen sind ja auch Arbeitgeber und Gewerkschaften sehr skeptisch, was Ausnahmeregelungen für Flüchtlinge oder Mindestlohnabsenkung, weil man dann eben genau diese Gruppe dafür verantwortlich macht, dass dann für andere auch Standards abgesenkt werden, deswegen muss man auch ganz behutsam vorgehen. Wir fordern auch keine Ausnahmeregelung speziell für Flüchtlinge oder Ähnliches, man muss stufenweise, glaube ich, vorgehen. Wir müssen möglichst viele Anreize setzen, um in die Ausbildung hineinzugehen, dazu gehört natürlich die Bleibeperspektive, das ist ganz klar. Man kann auch vielleicht mal darüber nachdenken, ob man irgendwelche sonstigen Anreizsysteme, Ausbildungsprämien, Erfolgsprämien oder was auch immer zahlt, also hier müssen einfach neue Wege gegangen werden, das muss man diskutieren in Ruhe. Man muss auf der anderen Seite aber auch andere Formen nutzen, beispielsweise Betriebspraktika. Da muss man auch schauen, was bietet das Mindestlohngesetz hier für Ausnahmen. Wir wissen, dass zum Beispiel bei den Einstiegsqualifizierungen, die sind mindestlohnbefreit, man kann kurze Praktika mindestlohnbefreien, hier muss man aber erst mal auch einen Erfahrungswert haben. Wenn man dann sieht, okay, Praktika sind ein wichtiges Instrument, um auch hier Integration herzustellen, einfach Wissen zu schaffen, was kann er, was brauchen die Unternehmen, was können die Flüchtlinge anbieten, da kann man dann im Einzelfall justieren. Das sind alles Themen, die natürlich im Mai, Juni, wenn die Mindestlohnkommission über eine Anpassung des Mindestlohns befinden muss, auch diskutiert werden müssen. Ich glaube, dann wissen wir auch im Juni oder Ende Mai mehr, dann wissen wir auch einfach von der empirischen Datenlage mehr, was auf uns zukommt, und dann muss man aber auch wirklich diskutieren und handeln.
    Grieß: Das wird ein interessanter Termin Mitte des Jahres, wenn die Kommission darüber berät und zu befinden hat, in welche Richtung sich der Mindestlohn entwickelt. Denkbar ist im Prinzip eigentlich nur eine mögliche Erhöhung. Wäre das aus Ihrer Sicht denkbar, wenn Sie sich den robusten Arbeitsmarkt deutschlandweit anschauen und die, sagen wir mal, Sondereffekte Flüchtlinge ein bisschen rausrechnen?
    Lesch Das Mindestlohngesetz sieht ja nicht unbedingt eine Erhöhung, sondern im Gesetz steht Anpassung vor, also rein theoretisch wäre auch eine Korrektur ...
    Grieß: Versuchen Sie ihn mal, zu senken.
    Lesch Ja, wäre eine Korrektur nach unten. Das muss man auch mal dazu sagen: Es ist in dem Gesetz kein Automatismus angelegt. Es stimmt natürlich, dass im Gesetz drin steht, dass man sich an den Tarifentwicklungen des Vorjahres halten soll. Natürlich sind die Tariflöhne ein bisschen wiederum auch durch den Mindestlohn selbst getrieben, weil man hat Tarifstandards, teilweise Tariflöhne anheben müssen. Man wird sicherlich diese Tariflohnentwicklung sich anschauen. Und das ist der Orientierungsrahmen, aber man muss natürlich nicht mechanisch jetzt eins zu eins irgendwie das umsetzen, sondern muss wirklich dann eine Bestandsaufnahme machen. Ich gehe davon aus, dass der Arbeitsmarkt auch im Frühjahr noch robust sein wird. Wir wissen dann aber auch, was für Integrationsströme auf uns zukommen. Wir wissen aber zu dem Zeitpunkt nicht, wie viele in Ausbildung gehen von den Flüchtlingen und wie viele tatsächlich in den Arbeitsmarkt strömen. Insofern wird das eine sehr schwierige Entscheidung sein, aber dass man eine gewisse Zurückhaltung übt, auch gerade, weil wir noch nicht wissen, ob der Mindestlohn auch mittelfristig keine Probleme auf dem Arbeitsmarkt schafft, da ist einfach Vorsicht geboten, deswegen sollte man auch Zurückhaltung üben, aus meiner Sicht.
    Grieß: Hat der Mindestlohn, zumindest nicht wie befürchtet, hunderttausende Jobs gekostet – das war eine Prophezeiung, die vor einem Jahr geäußert worden ist –, möglicherweise ist die Antwort jetzt darauf, wir müssen noch abwarten, ob das nicht so kommt, aber Frage an Sie, Herr Lesch: Ist es denn schon absehbar, dass der Mindestlohn die strukturschwachen Regionen, die nicht nur, aber doch geballter in Ostdeutschland liegen, getroffen hat und dort Jobs gekostet hat oder zumindest verhindert hat, dass neue entstehen?
    Lesch: Vor- und Nachher-Vergleich schwierig
    Lesch Wir wissen noch nichts. Das Problem ist immer mit dem Vor- und Nachher-Vergleich, wir wissen einfach zu wenig. Wir haben gesehen, dass Branchen wie das Gastgewerbe oder auch Friseuren und Ähnliches, dass in solchen Branchen interessanterweise sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgebaut wurde, im Gegenzug sind Minijobs verloren, per Saldo sieht es nicht so aus, als ob wir einen Verlust gehabt hätten. Das ist sehr erfreulich, aber wir haben natürlich auch eine Sondersituation in diesem Jahr: Die Unternehmen haben beispielsweise im Taxigewerbe 13 Prozent, in Gastronomie, Haushaltshilfen drei bis vier Prozent die Preise angehoben. Wir haben gleichzeitig eine Situation, in denen wir durch den Energiepreisverfall und durch ordentliche Lohnerhöhung einfach real höhere verfügbare Einkommen hatten. Und dieser Einkommenseffekt der Verbraucher hat dazu geführt, dass man im Prinzip nicht auf diese Teuerungen in bestimmten Branchen reagiert hat. Die Verteuerung im Restaurant hat nicht dazu geführt, dass ich weniger ins Restaurant gehe, die Leute hatten einfach Geld und konnten es verkraften. Auf der anderen Seite haben die Unternehmen, gerade die Dienstleister, natürlich auch von sinkenden Energiekosten profitiert. Das sind aber alles Effekte, die irgendwann auslaufen, irgendwann werden auch die Energiepreise steigen, die verfügbaren Einkommen werden weniger zunehmen, und der Preiserhöhungsdruck aufgrund dieser Lohnsteigerung, der wird zunehmen. Erst dann werden wir wirklich wissen, ob die Konsumenten die ganzen Preiserhöhungen schlucken, die sich jetzt andeuten.
    Grieß: Würden Sie einräumen, dass Sie sich verrechnet haben?
    Lesch: Wir haben keine Beschäftigungseffekte gerechnet, ich bin allerdings in der Tat überrascht, dass wir in Ostdeutschland keine negativen Beschäftigungseffekte haben. Wir haben uns immer angeguckt, wie hoch ist denn der Mindestlohn relativ zum Durchschnittslohn, und das war, wenn ich das mit anderen Ländern – Großbritannien beispielsweise – vergleiche, doch schon, gerade im Osten, sehr, sehr hoch. Und wenn man das französische Mindestlohnbeispiel kennt – das geht schon in die Richtung im Osten –, dann weiß man, dass die Franzosen nun tatsächlich Probleme mit dem Mindestlohn haben, sie subventionieren Unternehmen, die Mindestlohn zahlen müssen, damit sie die Leute nicht entlassen. Da hat mich das in der Tat überrascht, aber – noch mal – wir haben die Rechnung natürlich noch nicht komplett auf dem Tisch. Man muss abwarten, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt, wenn die Konjunktur schlecht ist. Im Übrigen ist der Arbeitsmarkt ohnehin in einer Verfassung, die Ihnen kein Ökonom vernünftig erklären kann – wir haben eine Arbeitsmarktstabilität auch trotz expansiver Lohnpolitik in den letzten Jahren, die ist erstaunlich gut. Seit der Krise haben wir einen Arbeitsmarkt, das deutsche Jobwunder ist das einfach. Und davon profitiert natürlich auch die Einführung des Mindestlohns.
    Grieß: Hagen Lesch vom Institut der Deutschen Wirtschaft, er ist dort Tarifexperte bei diesem Institut in Köln. Herr Lesch, danke schön für das Gespräch!
    Lesch: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.